Der 11. Januar ändert alles und die Leipziger Volkszeitung hat einen großen Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Sie erscheint am Nachmittag und kann daher so aktuell wie kein anderes Medium – die erste Radiosendung in Deutschland wird erst am 29. Oktober dieses Jahres ausgestrahlt – berichten. „Die Franzosen haben heute Morgen um 8 Uhr Kettwig besetzt und um 9 Uhr 20 die Besetzung von Oberhausen vollzogen. Augenblicklich beginnt der Vormarsch von Kavallerie mit Maschinengewehren und Tanks auf Essen.“
Die Ruhrbesetzung beginnt also. Die Deutsch-Französische Erbfeindschaft geht in eine nächste Runde. Die Pariser Konferenz zur Lösung der Reparationsfrage war fünf Tage zuvor abgebrochen worden. Die Franzosen und Belgier besetzen nun das Kernstück deutscher Industrie im Westen. Die Empörung darüber wird sich bis zum Jahresende halten – auch weil die Besatzer der negativen Konnotation des Wortes alle Ehren machen.
Gleichzeitig betont die SPD in einer „eigenen Drahtmeldung“ auf der Titelseite des 11. Januar, dass es keine gemeinsamen Demonstrationen mit anderen Parteien geben wird, auch wenn Reichskanzler Dr. Cuno und Reichspräsident Ebert dies in einer ersten Reaktion forderten.
„Der Regierung ist bereits gestern von sozialdemokratischer Seite klargemacht worden, daß solche Kundgebungen angesichts der in gewissen Teilen der Bevölkerung herrschenden Stimmung nicht unbedenklich seien.“ Konkret meinen die SPD die „nationalistischen Parteien“. „Sie sei bei aller Ablehnung des französischen Vorgehens doch des Gegensatzes zu denen bewußt, die aus der gegenwärtigen Situation Nutzen für ihre reaktionäre Politik ziehen möchten.“
Am Tag zuvor hat der Stadtrat Leipzigs mit den Stimmen von Kommunisten und Deutschnationalen die Erhöhung der Straßenbahnpreise von 80 auf 90 Mark abgelehnt. Die LVZ ist keineswegs erfreut, sondern entsetzt. „Die Ablehnung der Fahrpreiserhöhung bedeutet für die Stadt einen täglichen Verlust von anderthalb Millionen Mark, aber das kümmert die Herrschaften nicht. Vielleicht rechnen sie damit, daß auf die diese Weise umso schneller ihr Ziel erreicht und die Straßenbahn wieder dem Privatkapital zur Ausbeutung überlassen wird.“
Besonders scharf geht der Redakteur auch die Kommunisten an. „Seit der Fahrpreis von 10 Mark erhöht wurde, haben die Kommunisten gegen jede Erhöhung der Fahrpreise gestimmt. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, gäbe es heute noch den 10-Mark-Tarif; das würde aber praktisch bedeuten, daß die Straßenbahn längst pleite wär, der Betrieb hätte eingestellt und die Straßenbahner hätten entlassen werden müssen.
Solange die Kommunisten mit ihrer Ablehnung alleinblieben, konnten sie ihre kindliche, auf die Dümmsten berechnete Agitationspolitik treiben.“ Über eine ganze Spalte kritisiert der Redakteur das Verhalten der Kommunisten. Der Riss durch das linke Lager ist in jeder Ausgabe der LVZ lesbar.
Den Riss nimmt man in den bürgerlichen Leipziger Neuesten Nachrichten sicherlich gern zur Kenntnis. Der Fokus der Berichterstattung liegt hier nach der Ruhrgebietsbesetzung auf den Protesten in der Stadt.
„Reger, zahlreicher als sonst an Sonntagen strömen deutsche Männer und deutsche Frauen in die weiten Hallen der Kirchen. Bachs feierliche Weisen erheben die gedrückten Gemüter“, heißt es in einem entsprechenden Artikel vom 13. Januar. Vor den Toren des Zentral-Theaters, wo sich die bürgerlichen Parteien versammeln, müssen Tausende und aber Tausende umkehren, weil der Raum die Mengen nicht zu fassen vermag. An Fahnenmasten hängen die Reichsfarben nur halbhoch.
Von den Ereignissen im Zentraltheater wird folgendes berichtet: „Eine Reihe studentischer Verbindungen war geschlossen aufmarschiert. Schließlich mußte der Saal wegen Ueberfüllung abgesperrt werden und Tausende hatten vergeblich versucht, auch Zutritt zu erlangen. Im Namen der Einberufer, der vier nichtsozialistischen Parteien, des Bürgerbundes, des Deutsches Gewerkschaftsbundes, des Gewerkschaftsringes, der Arbeitsgemeinschaft für das Grenz- und Auslandsdeutschtum, des Leipziger Waffenringes und des Hochschulringes deutscher Art, eröffnete Geh.
Justizrat Dr. Wildhagen die Versammlung recht wirkungsvoll, als er ermahnte, jetzt allen Hader im Inneren beiseite zu lassen und geschlossen hinter der Reichsregierung zu stehen (lebhafter Beifall). Den Ausdruck der tiefsten Verachtung haben wir Frankreichs Volk entgegenzubringen (lebhafte, anhaltende Zustimmung. Pfuirufe.) Erst jetzt, nachdem wir die Waffen niedergelegt, wagen es die Scharen schwarzer und weißer Franzosen, unsere Grenze zu überschreiten.
Ist dies das Handwerk ehrlicher Soldaten? Die französischen Generäle haben die Rolle von Schinderknechten übernommen (anhaltende Zustimmung.) Es gibt kein anderes Wort als: Pfui Teufel (wiederholte Zustimmung). Wir wollen auf das französische Volk erhobenen Hauptes blicken und sagen: Nicht um alle Länder, die das Meer umspült, möchte ich so vor dir stehen, wie du vor mir (starker Beifall)!“
Am Ende der Veranstaltung verlesen die Veranstalter noch, dass die Anwesenden fest in unerschütterlicher Treue zu Deutschland stehen. Unter dem Absingen des Liedes „Deutschland, Deutschland über alles“, leerte sich langsam der Saal.
Am 17. Januar kostet 1 Dollar bereits 16.650 Mark. Die Geldentwertung sorgt auch dafür, dass die Abschlagszahlungen für Gas, Strom und Wasser nun alle zwei Monate geleistet werden. Die Begründung liest sich wie folgt. „Da zwischen der Ablesung und der Rechnungserteilung mindestens weitere zwei Wochen liegen, so vergeht bis zur Bezahlung oft ein Zeitraum bis zu drei Monaten.
Kein anderer Geschäftsmann kann heute derartig lange Zahlungsfristen geben, und auch die Stadtwerke sind bei der katastrophalen Geldentwertung dazu nicht mehr in der Lage. Allein für Kohlen, die zum Teil im Voraus zu bezahlen sind, müssen heute gegenüber dem Monat Oktober monatlich 620 Millionen Mark mehr aufgebracht werden.“
Die Gebührensätze vom 8. März 1922 für Hebammen wurden vom Ministerium bis auf Weiteres versechsfacht.
„Zeitreise ins Jahr 1923: Das „Katastrophenjahr“ der deutschen Geschichte“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 115, der LEIPZIGER ZEITUNG.
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