Vor 50 Jahren begann etwas, was man auch die geplante Auslöschung des Leipziger Stadtgedächtnisses nennen kann: die rigorose Umgestaltung des einstigen Neuen Johannisfriedhofs zu einer Parkanlage. „Der Friedhof war mit seinen über 1.000 zum Teil kunstvollen Erbbegräbnisstätten eine eindringliche Erinnerung an die ehemalige bürgerliche Eliteschicht der Stadt, die es im sozialistischen Sinne auszulöschen galt“, schreibt Wikipedia dazu. Wenn es nur das wäre.
Das ehemalige Verwaltungsgebäude und das Eingangstor an der Liebigstraße/Vor dem Hospitaltore existieren noch. Aber sonst erinnert nichts an diesen Friedhof, der 1846 in Nutzung genommen wurde und bis 1950 zur Ruhestätte für 140.000 Leipzigerinnen und Leipziger wurde. Der Neue Johannisfriedhof war bei den Leipzigern noch beliebter als der 1886 eröffnete Südfriedhof, der auch noch ein gehöriges Stück weiter entfernt vom Stadtzentrum lag und liegt.
Im Grunde war es dasselbe Denken, mit dem die SED-Führung 1968 schon die Sprengung der Paulinerkirche und der alten Gebäude der Universität am Augustusplatz (Karl-Marx-Platz) durchgesetzt hatte. Man wollte mit den „bürgerlichen Überbleibseln“ aufräumen. Und damit auch das bürgerliche Gedächtnis der Stadt austilgen.
Eine riesige Lücke
Dass dabei viel mehr verloren ging, merkt jeder, der heute über den Südfriedhof geht und – vergeblich – nach den Namen der berühmten Leipzigerinnen und Leipziger sucht, die diese Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägten. Denn sie liegen dort nur zu einem geringen Teil. Sie hatten meist ihre Grabmäler auf dem Neuen Johannisfriedhof.
Welche Erinnerungskultur da verloren ging, hat der Spezialist für Begräbniskultur Alfred E. Otto Paul in mehreren Zeitschriftenbeiträgen und Büchern herausgearbeitet.
Besonders makaber: der gern als Rodelberg genutzte Hügel im Friedenspark: „Inmitten dieses Parkes entsteht ein gewaltiger Hügel durch die Auftürmung tausender und abertausender Grabsteine, und die Verantwortlichen dieser barbarischen Kulturzerstörung empfehlen dem Volk die künftige Nutzung dieses Sepulcrum Lipsiense als Rodelberg“, schreibt Paul.
Bis 1983 dauerten die „Umgestaltungsarbeiten“. Dann wurde der Park als Friedenspark der Öffentlichkeit übergeben. In jüngerer Zeit wurde zumindest der Gedächtnisort für die in der NS-Zeit im Euthanasieprogramm getöteten Leipziger Kinder, die „Wiese Zittergras“, geschaffen. Die getöteten Kinder hatte man damals auf dem Neuen Johannisfriedhof verscharrt.
Heine, Blüthner, Reclam …
Aber was wirklich fehlt, ist jeder Hinweis darauf, welch ein Ort der Erinnerung der Neue Johannisfriedhof einmal war. Und es sind eben nicht nur die von den SED-Mächtigen so verachteten Kapitalisten, die hier zum Teil prächtige Begräbnisanlagen besaßen.
Es waren Familien, die den Aufstieg der Stadt Leipzig zur Großstadt und zur Industriestadt prägten, angefangen von Carl Heine, der mit seiner Erschließung des Leipziger Westens überhaupt erst einmal den Grundstein legte für die zukunftsfähige Erweiterung der Industriestadt, über bis heute legendäre Unternehmer wie den Klavierbauer Julius Blüthner, den Verleger Philipp Anton Reclam oder den Eisenbahnpionier Albert Dufour-Féronce bis zu Kofferfabrikant Anton Mädler und Maschinenbauer Karl Krause.
Im Grunde wäre dieser Friedhof eine begehbare Erzählung des ganzen 19. Jahrhunderts in Leipzig. Mitsamt den Oberbürgermeistern Otto Koch und Bruno Tröndlin. Aber selbst das verstellt den Blick darauf, dass Leipzigs bürgerliche Kultur eben nicht nur aus dem etablierten Großbürgertum bestand. Das wird noch deutlicher, wenn man weiß, dass hier auch die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters und ihr Ehemann August Peters ruhen, genauso wie Auguste Schmidt und der berühmte Kinderarzt Moritz Schreber.
Auch die Mitglieder der Familie Brockhaus liegen hier, obgleich man ihre Grabsteine auf dem Alten Johannisfriedhof stehen sieht, wohin sie umgesetzt wurden.
Man fände hier die berühmten Musiker der Stadt genauso wie die namhaften Wissenschaftler der Universität Leipzig. Und dann fände man auch die Personen, die einen stutzen lassen, weil man sie hier erst gar nicht vermuten würde. Und dann merkt man: Doch. Genau das hier war der Ort, wo sie begraben sein mussten.
So wie Adam Friedrich Oeser, Gründer der Leipziger Kunstakademie und Zeichenlehrer Goethes, der 1867 hierher umgebettet worden war. Oder Edwin Bormann und Georg Bötticher, die beiden großen Humoristen. Bötticher war ja bekanntlich der Vater von Joachim Ringelnatz, der sich zum Glück nicht in Leipzig begraben ließ, sondern in Berlin beerdigt wurde. So blieb sein Grab erhalten.
Anders als das Grab des Komponisten Carl Friedrich Zöllner (an den wenigstens das Zöllner-Denkmal im Rosental erinnert). Oder das des Historikers Gustav Wustmann, der im 19. Jahrhundert dafür sorgte, dass die Erforschung der Leipziger Stadtgeschichte überhaupt erst einmal mit einer gewissen Systematik begann.
Ein entleerter Ort
Es gäbe also eine ganze Menge von Vereinen, Initiativen und Museumsleitungen, die sich längst hätten zu Wort melden müssen, um diesen so systematisch ausgelöschten Erinnerungsort auf irgendeine Weise überhaupt erst einmal wieder in die Wahrnehmung der Leipziger zurückzuholen. Denn die meisten Leipziger wissen nichts über den Ort. Nichts weist sie beim Eintritt darauf hin, was sie hier eigentlich vor sich sehen. Und was eben nicht.
Man wird den Friedhof natürlich nicht wieder rekonstruieren können. Aber man kann an die hier begrabenen Persönlichkeiten erinnern. Auch um diesen zweiten umfassenden Versuch der einstigen SED-Funktionäre, das Leipziger Stadtgedächtnis auszulöschen, nicht andauern zu lassen. Möglichkeiten gäbe es genug. Bis hin zur simplen Sichtbarmachung der Namen der hier unsichtbar Gemachten.
Ergänzend zu Alfred E. Otto Pauls 2012 erschienenem Buch „Der Neue Johannisfriedhof in Leipzig“. Nämlich vor Ort. Für all die Menschen, die hier gern spazieren gehen, auf der Wiese liegen oder auf den „Rodelberg“ steigen und nicht wissen, dass sie tatsächlich auf einem Berg von Grabsteinen stehen.
Grabsteine, auf denen Namen stehen, die man von Leipziger Straßenschildern nur zu gut kennt – wie die des Unternehmers Carl Lampe oder des Juristen Bernhard Windscheid.
Und bedenkenswert ist auch der kleine Nachsatz im Wikipedia-Artikel: „Unter den Persönlichkeiten der Liste befinden sich neun Ehrenbürger von Leipzig.“
Das kann man erst einmal sacken lassen. Möchte man da eigentlich Ehrenbürger sein?
Die Frage kann man sich ja stellen, wenn man da oben steht auf dem Hügel der beerdigten Grabsteine.
Eigentlich.
Nicht.
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Sehr verdienstvoller Text, lieber Autor! Daß jüngere Leipziger z.T. erschrocken reagieren können, wenn sie erfahren, daß es sich um einen ehemaligen Friedhof handelt, habe ich erst letzthin erlebt. Dabei ist es eigentlich unübersehbar, was der jetzige Friedenspark einmal war.
In Basel, fern des Pleißestrands, ging man allerdings nicht unähnlich vor: Der https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kannenfeldpark im Großbasel war ebenso Friedhof wie der Horburgpark im Kleinbasel, der zudem noch an die dortige Gottesackerstraße angrenzt. Mindestens letzterer hat auch einen Hügel, der mutmaßlich aus Grabmalen besteht.