โ€žSchรผsse in einer Marienbader Villa โ€“ Professor Theodor Lessing ermordetโ€œ, so geschehen am 30. August vor 90 Jahren im bรถhmischen Marienbad. Diese Schlagzeile der โ€žLeipziger Neuesten Nachrichtenโ€œ vom 1. September 1933 lรคsst aufhorchen, zumal neben dem Bildnis des 61-jรคhrigen Opfers ein groรŸformatiges Foto vom flaggengeschmรผckten โ€žHauptquartier in Nรผrnbergโ€œ zu sehen ist.

Der Tod Lessings ist fรผr die deutschsprachige Presse damals รผberhaupt die Sensation, hat aber eine langjรคhrige Vorgeschichte.

Theodor Lessing, seit 1907 Privatdozent fรผr Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover, wird allgemein bekannt durch seine Beitrรคge in der Presse รผber Fritz Haarmann, Mรถrder von 26 jungen Mรคnnern zwischen 1918 und 1924, und seinen Komplizen Hans Grans. Lessing kritisiert das zรถgernde Vorgehen der Polizei und, als es am 4. Dezember 1924 zum Gerichtsprozess kommt, die Ablehnung psychologischer Gutachter durch die Verteidigung. Als er sich das Gericht vornimmt, wird er aus dem Gerichtssaal gewiesen und so von der weiteren Berichterstattung ausgeschlossen.

Haarmanns Komplize und der ungeeignete Hindenburg

Die โ€žNeue Leipziger Zeitungโ€œ vom 26. Juli 1924 bringt aber bereits eine ganzseitige kenntnisreiche Darstellung von Lessing: โ€žGrans, der Komplize Haarmannsโ€œ. Und sechs Tage spรคter kann man neben weiteren Informationen in der NLZ bestรคtigt finden, was Theodor Lessing รผber den Fall publiziert und kritisiert.

Und weiter: Wenige Monate spรคter hat es Lessing gewagt, รผber den Ehrendoktor der Hochschule und Ehrenbรผrger Hannovers Paul von Hindenburg einen Artikel zu schreiben. Der Beitrag ist im โ€žPrager Tageblattโ€œ am 25. Februar 1925, dem Vortage der Reichsprรคsidentenwahl, erschienen und charakterisiert den Kandidaten Hindenburg als ungeeignet und nichts Gutes verheiรŸend fรผr dieses hohe Amt.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Nach etwa zwei Wochen wird Lessing mit Schmรคhbriefen und Todesdrohungen belรคstigt. Er wird als โ€žVerrรคter der nationalen Sacheโ€œ, als โ€žgeschรคftstรผchtiger Judeโ€œ beschimpft. Studenten stรถren seine Vorlesungen, provozieren Skandale. Eine Versammlung von Studenten am 14. Mai 1925 beschlieรŸt, von Senat und Rektor unterstรผtzt, den Kultusminister zu ersuchen, Lessing zu entlassen und ihm die Lehrbefรคhigung an jeder deutschen Schule zu entziehen.

Der Minister sieht zunรคchst keinen Anlass, schlieรŸlich gibt es den Artikel 118, Abs. 1 der Reichsverfassung, dass jeder Deutsche โ€ždas Recht hat, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu รคuรŸern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- oder Angestelltenverhรคltnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.โ€œ

Der preuรŸische Kultusminister Dr. Carl Heinrich Becker gibt schlieรŸlich seinen Widerstand gegen das Ansinnen des akademischen Mobs wenigstens teilweise auf. Prof. Theodor Lessing erhรคlt statt eines Lehrauftrags einen gering honorierten Forschungsauftrag und zieht sich zurรผck nach Anderten bei Hannover. Auch nach diesem vรถlkischen Donnerwetter kann es der Gescholtene nicht lassen: Kรถstlich zu lesen der Satz aus einem offenen Brief an Hindenburg im โ€žPrager Tageblattโ€œ vom 10. Juni 1925: โ€žIch besitze Leser unter den besten Kรถpfen Europas. In der WilhelmstraรŸe bin ich unbekannt.โ€œ

Flucht in die ฤŒSR

Am 1. Mรคrz 1933 flieht Theodor Lessing mit seiner (zweiten) Frau Ada (Adela, geb. Grotte-Abenthern) in die ฤŒSR, weil das Land fรผr deutsche Flรผchtlinge damals noch eine zweite Heimat ist โ€“ von den etwa 14 Millionen Einwohnern leben mehr als 3 Millionen Deutsche vornehmlich im Sudetenland. Die Eheleute Lessing lassen sich zunรคchst in Prag nieder, Lessing hat dort Freunde aus den Zeiten seiner Vorlesungen, die er 1922, 1926 und 1927 hier gehalten hat.

Daheim in Hannover wird unterdessen die Wohnung der Lessings am 5. und 6. Mรคrz 1933 von SA-Leuten demoliert; alle seine Bรผcher und Unterlagen werden vernichtet. Noch im Mรคrz ziehen die Lessings in das westbรถhmische Marienbad/Mariรกnskรฉ Lรกznฤ› um, wohnen bis 31. Mรคrz in der โ€žMarienbader Mรผhleโ€œ auf der HauptstraรŸe (heute steht dort das โ€žChristal Palaceโ€œ), danach zehn Tage im Hotel โ€žNew Yorkโ€œ (heute โ€žPoloniaโ€œ) des jรผdischen Hoteliers Emil Baruch und dann einige Tage im entlegenen Hotel โ€žMiramonteโ€œ und schlieรŸlich beziehen sie ein Quartier in der abgelegenen Villa โ€žEdelweiรŸโ€œ/โ€žProtezโ€œ an der Waldquellzelle, der AusfallstraรŸe von Marienbad nach Karlsbad. Die Villa steht seit 1892 dort, erbaut im Auftrag von Alexander Ziegler.

Ada und Theodor Lessing wohnen im hinteren Teil des zweiten Stockwerks. Die Villa dient vor allem als Kinderferienhaus. Nun, da wegen des Beginns des neuen Schuljahres die Kinder abgereist sind, wohnen darin auรŸer den Lessings nur noch die Heimleiterin Ruzena Ehrmannova, ihre Mutter, ihre beiden eigenen Kinder, ihr Neffe und weiter die Familie des Sohnes des Hauseigentรผmers, Dr. med. Gerhardt Stark.

Der Eigentรผmer des Hauses Dr. Adolf Stark und sein Sohn, deutsche Juden, sind Mitglieder der hiesigen Freimaurerloge โ€žGoethe im Tal des Friedensโ€œ. Nach einem gemeinsamen Projekt von Gerhardt Stark, Ada und Theodor Lessing sollte in der Villa โ€žEdelweiรŸโ€œ ein Tรถchterheim nach den Prinzipien des Pรคdagogen Herrmann Lietz als Landerziehungsheim entstehen und ab 15. Oktober 1933 gefรผhrt werden.

Mordkomplott in Tirschenreuth

Der Anschlag auf Theodor Lessing steht im Zusammenhang mit der langfristig angelegten Einschรผchterung der Emigranten und ist von der SA geplant und veranlasst worden auf einem Treffen am 30. Juni 1933 in Tirschenreuth in Anwesenheit von Ernst Rรถhm, Stabsfรผhrer der SA. Dort wird, nach Aussage eines Beteiligten, von einem Auftrag gesprochen, Lessing ausfindig zu machen und nach Deutschland zu schaffen. (Doch der Ablauf des Attentats lรคsst eindeutig den Bedarf an ortskundigen Mittรคtern und die eindeutige Tรถtungsabsicht erkennen.)

Ende Juni 1933 bringen die der Nazipartei der deutschen Minderheit DNSAP nahestehende โ€žฤŒechoslovakische Bรคder-Zeitungโ€œ und andere sudetendeutsche Blรคtter die Meldung, dass Deutschland eine Kopfprรคmie von 80.000 (statt bisher 40.000) Mark an denjenigen zahle, der Lessing โ€žlebend nach Deutschland bringtโ€œ. Er soll sich im Deutschen Reich โ€žfรผr den Inhalt seiner Schriften verantwortenโ€œ, so wird behauptet.

Lessing kรผmmert sich wenig um die Warnungen, die ihm in Marienbad von der Polizei und guten Freunden zugehen, einer bietet ihm sogar eine sichere Wohnung im Stadtinnern an โ€“ vergeblich. Kurz nach Erscheinen des Artikels in der Bรคder-Zeitung schreibt er einen lรคngeren launigen Text: โ€žMein Kopfโ€œ, dessen Typoscript in der Universitรคtsbibliothek Hannover aufbewahrt wird.

Letztmalig hat Frau Ehrmannova und ihre Mutter mit dem Ehepaar Lessing an jenem 30. August gegen 18 Uhr im Speiseraum gesprochen und sich dann mit dem Einpacken der Kindersachen fรผr den Abtransport beschรคftigt.

Der Mord

Den Mรถrdern (zwei ortskundige Einheimische und ein Reichsdeutscher) wird die Orientierung in der Dรคmmerung erleichtert durch zwei nicht verhangene Fenster an der linken Randseite im zweiten Stock des Hauses, deren Lichtschein helle Rechtecke auf den Rasen werfen. Sie lehnen mit aller vorher ausgetรผftelten Vorsicht mit einer langen Leine eine bereits gestohlene und mit Unterstรผtzung herbeigeschaffte sieben Meter lange Feuerwehr-Leiter zwischen beide Fenster an.

Zwei der drei unmittelbar beteiligten Attentรคter (ein Ortskundiger steht โ€žSchmiereโ€œ), nebeneinander auf dieser Leiter stehend, feuern zugleich am 30. August 1933 gegen 21.30 Uhr zwei Schรผsse durch beide Fenster auf den am Schreibtisch sitzenden Lessing, der gerade einen Artikel รผber den in Prag stattfindenden Zionistenkongress zu Ende schreiben will, ab.

Die beiden Frauen im weit abgelegenen Speiseraum hรถren die Schรผsse nicht. Nur Ada Lessing hรถrt sie in der Kรผche der Wohnung. Sie lรคuft in das Arbeitszimmer ihres Mannes, begreift, was geschehen ist, rennt aus dem Zimmer und schreit โ€žHilfe! Hilfe! Mรถrder!โ€œ.

Der schwerverletzte, bewusstlose Lessing wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er gegen 1 Uhr stirbt.

Ruzena Ehrmannova: โ€žDie drei furchtbar herausgeschrienen Worte, die im Treppenhaus ertรถnten, werde ich bis zum Tod nicht vergessen. Spรคter, wรคhrend des Krieges, habe ich viel erlebt. Die Erinnerung an diesen Augenblick trage ich jedoch bis zu meinem Grabe in mir โ€ฆโ€œ

Bei allen Cliquen unbeliebt

Und wer steht ihm heute noch nahe? Gรผnter Kunert hat es 1995 in einem Vortrag so ausgedrรผckt: โ€žZwar behauptet Lessing von sich, er sei Sozialist, gar Kommunist, doch stand keiner den entsprechenden Parteien und ihren Ideologien ferner als er. Als Ideologe war er vรถllig unbrauchbar. Und just das scheint mir der Grund fรผr sein Vergessenwordensein. Weder war er eindeutig politischen Fronten zuzuordnen, auch nach dem Kriege nicht, noch konnte irgendeine Gruppierung sein Werk oder Teile davon instrumentalisieren. Lessing, der Mann zwischen allen Stรผhlen, mochte auf keinem Sessel, keinem Thron Platz nehmen.

Seine staunenswerte und leider fรผr die meisten unnachahmliche Begabung bestand, unter anderem, darin, sich innerhalb der Cliquenwirtschaft bei jeder von ihnen unbeliebt zu machen. Am leichtesten fiel ihm das noch bei den Nazis: Als Jude war der damit schon auรŸen vor. Bei den Juden genรผgte sein Buch vom jรผdischen SelbsthaรŸ, um ihn als jรผdischen Antisemiten abzustempeln. Von den Christen ganz zu schweigen, denen er bis heute ein ร„rgernis ist und bleiben wird.โ€œ

Die hier geschilderten Marienbader Ereignisse sind teilweise der 1966 im Verlag der Zeitschriften des Ministeriums fรผr Nationale Verteidigung der ฤŒSSR erschienenen reportagehaften Rekonstruktion von Roman ฤŒileks โ€žSchรผsse in der Villa EdelweiรŸโ€œ entnommen โ€“ das Typoscript der deutschen รœbersetzung hat 115 A4-Seiten.

Ein Grabmal fรผr Theodor Lessing steht auf dem Marienbader jรผdischen Friedhof, gestaltet von Vitฤ“zlav Eibl, der auch das Goethe-Denkmal auf dem Marienbader Goethe-Platz geschaffen hat. Und zwei Tafeln am Haus โ€žEdelweiรŸโ€œ/โ€žProtezโ€œ in Marienbad erinnern an das letzte gemeinsame Quartier des Ehepaares Lessing.

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