Kirchenbauwerke gehören zu vielen Ortschaften. Sie sind bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke. Die Gotteshäuser haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfältige Bedeutung. Doch ihre Zukunft ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen auch über Mitteldeutschland hinaus – und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.
Das Domkandidatenstift war das Predigerseminar im Berliner Ortsteil Mitte, das im Jahr 1854 zur Zeit von König Friedrich Wilhelm IV. in der Friedrichstraße eröffnet wurde. Ab 1858 entstand für das Domkandidatenstift in der Oranienburger Straße ein eigenes Gebäude nach Plänen von Friedrich August Stüler, das Rudolf Stüve 1874 vollendete.
Die Aufgabe des Domkandidatenstiftes war die praktische und theoretische Ausbildung von angehenden Geistlichen („Kandidaten“) für ihr Amt. Das Stift hatte seit 1659 ein eigenes Heim, die zugehörige kirchenartige Stiftskapelle wurde 1874 fertiggestellt.
Geschichtlicher Hintergrund
Im Zusammenhang mit der industriellen Entwicklung und dem schienengebundenen Massenverkehr per Regional- und Stadtbahn, wuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl der bis dahin eher mittelgroßen Stadt Berlin bis 1840 auf knapp 330.000 Einwohner.
Die Kirche konnte mit dem Wachstum der werdenden Metropole nicht mithalten. Der stark religiös geprägte Friedrich Wilhelm IV., seit 1840 preußischer König und als „Romantiker auf dem Thron“ und „dilettierender Architekt“ bezeichnet, war davon sehr beunruhigt – er sah Berlin als „große sündenvolle Stadt“.
Sein Ziel war es – wie es in der Stifts-Festschrift von 1904 hieß –, „etwas für die Vertiefung der jungen Geistlichen, für die Arbeit an den verwahrlosten Gemeinden, für die Lebendigmachung und Verinnerlichung der Kirche in Berlin zu tun. “ So verpflichtete er den Stiftsprofessor und Ephorus-Generalsuperintendent Wilhelm Hoffmann aus Tübingen als Hof- und Domprediger in Berlin.
Ziele
Ausgangspunkt der Planungen für ein erneuertes Predigerseminar war das 1714 vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. eingerichtete Dom-Alumnat. Es bot Platz für lediglich vier bis sechs reformierte und später auch unierte Kandidaten, die mit einem Stipendium von 500 Talern ausgestattet und bei „ehrbaren Leuten der Domgemeinde“ untergebracht waren. Ein gemeinsames Leben neben dem Lernen, die „Vita communis“, fehlte.
Friedrich Wilhelm III. mahnte in seiner Kabinettsorder 1816 inhaltliche Verbesserungen und veränderte Rahmenbedingungen an: „Es muß auf die Kandidaten der Theologie, wenn sie die Universität verlassen, mehr Aufmerksamkeit verwandt werden. Ich will, daß zu diesem wichtigen Zweck geistliche Seminarien errichtet werden, in welchen die Kandidaten, nachdem sie die Universität verlassen haben, unter Leitung würdiger Geistlicher zu vorzüglichen Seelsorgern ausgebildet werden sollen.“
Friedrich Wilhelm IV. und Hoffmann verstanden das Predigerseminar weder als Fortsetzung des Universitätsstudiums im akademischen Sinne noch als Hinwendung zu technischen Fragen des Kirchendienstes. Ihr Ziel war, „durch Vertiefung in die Heilige Schrift und die daraus sich ergebenden dogmatischen und praktisch-theologischen Fragen eine freimütige Aussprache darüber herbeizuführen, was die Kandidaten bewegte. Und das mit dem Endziel einer eigenen theologischen Überzeugungsbildung unter steter Berücksichtigung des die werdenden Geistlichen erwartenden Amtes“, wie Bruno Doehring 1954 schrieb.
Neubau
Das neue Predigerseminar war zunächst in einem Provisorium untergebracht: Am 7. April 1854 wurde in aller Stille und ohne öffentliche Bekanntmachung die Eröffnung des neu gegründeten Stifts begangen – in angemieteten Räumen eines Hauses des Provinzial-Schulkollegiums in der Friedrichstraße 208.
Da sich das Gebäude für die Aufgaben als ungünstig gelegen erwies, wandte sich Hoffmann bald mit der Bitte um einen Neubau an anderer Stelle an den König. Der stimmte zu und stellte dafür eine Parzelle des Monbijouparks zur Verfügung.
Für den Standort Oranienburger Straße 76a in der nordwestlichen Ecke des Monbijouparks sprach die Nähe einiger Einrichtungen: Der damals noch Schinkelsche Dom, wo die Kandidaten sich in Morgen- und Abendgottesdiensten in Liturgie übten, die Domschule am jetzigen Bahnhof Hackescher Markt, in der sie Religionsunterricht erteilen sollten, das Seminar für Stadtschullehrer neben der Synagoge, in dem sie pädagogisch unterwiesen wurden, und das Domhospital, in dem Andachten zu halten waren. Später kamen auch Morgenandachten bei Königinwitwe Elisabeth im Schloss Charlottenburg hinzu.
Baulich erlebte die Umgebung des Domkandidatenstifts während der knapp 90 Jahre seines Bestehens einige Veränderungen. Zunächst als Abschluss der durchgehenden Bebauung entlang der Südseite der Oranienburger Straße konzipiert mit einer zum Park hin frei stehenden Kapelle, entstanden später östlich unmittelbar angrenzend weitere Wohnbauten.
Westlich wurde mit dem Bau des heutigen Bode-Museums die Monbijoustraße angelegt, womit aus ursprünglichen Brandwänden des Gebäudes nachträglich Giebelfassaden wurden. Südlich angrenzend entstanden auf Parkgelände außerdem 1885 die Anglikanische Kirche St. Georg unter Julius Carl Raschdorff – er wurde später Architekt des neuen Doms – und 1911 an der Monbijoustraße das Wohnhaus für Königliche Hofbeamte.
Nachdem Friedrich Wilhelm IV. dem Stift die Rechte für das Bauwerk („Superficies“) auf dem Grundstück übertragen hatte, welches Eigentum des „Kron-Fidei-Kommisses“ blieb und damit in der Erbfolge heute Landeseigentum ist, konnte 1858 mit dem Bau begonnen werden. Grundlage waren die im Landesarchiv dokumentierten Planungen Stülers.
Bauwerk
Das Bauensemble bestand aus dem Seminargebäude, H-förmig unterteilt in zwei Riegel entlang der Oranienburger Straße und südlich davon, verbunden mit einem mittleren Teil mit Bet- und Speisesaal zwischen einem knapp 20 Meter messenden quadratischen Atrium sowie einem Hof mit späterem Zugang von der Monbijoustraße. Das Stiftsgebäude wurde am 16. Oktober 1859 geweiht.
An der Atriumwand nach Osten entstand nach Stülers Plänen später eine quadratische, kirchenartige Kapelle mit 380 Quadratmetern Grundfläche, die mit drei Emporen Platz für mehr als 700 Personen bot. Die geplanten Baukosten dieses großen Kirchenraums – in der Publikation „Berlin und seine Bauten“ 1877 mit exakt 142.278 Mark angegeben – waren hoch und führten dazu, dass zunächst nur die Fundamente gelegt werden können.
Die Bau-Ausführung kam erst 1871–1874 unter Leitung von Stüve zustande. Zu diesem Zeitpunkt wurde als drittes Element des Entwurfs der 35 Meter hohe Glockenturm fertiggestellt.
In seiner Gesamtkonzeption und bei Basilika und Campanile ging Stüler auf die Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV. ein: Der versuchte – von seiner Beschäftigung mit der Architektur Italiens geprägt – Formen der Antike und Renaissance im „Preußischen Arkadien“ umzusetzen. Auch in der Rückbesinnung auf frühchristliche Motive, die „Urkirche“ und ihre Liturgie erhoffte sich der König einen Ausweg aus (kirchen-)politischen Problemen.
Die klassische Form der altchristlichen Basilika mit erhöhtem Mittelschiff und niedrigeren Seitenschiffen, der halbrunden Apsis im Osten und einem im Westen vorgelagerten Atrium war damit beim Domkandidatenstift im Wesentlichen umgesetzt. Vorbilder mehr oder weniger frei variierend, findet sich die Form des abgesetzten Glockenturms bei Stüler auch an anderen Kirchenbauten in Berlin, so zum Beispiel bei der Jacobikirche in der Oranienstraße, 1844–1845 erbaut. Auch das Pfarr- und Schulhaus gehörten zum Stift.
Die Kirche wurde 1944 und 1945 von Bomben getroffen und brannte aus. Das in der Substanz auch Jahrzehnte nach der Beschädigung gut erhaltene und wiederherstellungsfähige Bauwerk wurde 1972 gesprengt. Vom Domkandidatenstift mit seiner Kirche gibt es im Stadtbild Berlins keine Spuren mehr.
Koordinaten: 52° 31′ 27″ N, 13° 23′ 43″ O
Quellen und Links:
de.wikipedia.org/wiki/Domkandidatenstift_(Berlin)
kkbs.de/blog/24938
Keine Kommentare bisher