Schutz gegen Hitze, Kรคlte, Niederschlag, Sturm, Feinde und Wildtier stellt ein Grundbedรผrfnis des Menschen dar. Schon unsere Vorfahren lernten, sich einfache und nach Region angepasste Behausungen zu errichten. Die menschliche Sesshaftwerdung und der Bau fester Hรคuser setzten in Mitteleuropa vor etwa 8.000 Jahren ein. In gewissem Sinne kรถnnte man vom Beginn des Wohnens sprechen. Oder auch nicht.

Denn die gar nicht so einfache Frage, was genau Wohnen eigentlich umfasst, beantworten einzelne Fachrichtungen unterschiedlich.

Woher kommt das Wort โ€žWohnenโ€œ?

Die ursprรผngliche Bedeutung von โ€žWohnenโ€œ wird aus dem Althochdeutschen โ€žwonรชnโ€œ abgeleitet, dessen Urbedeutung sich mit โ€žzufrieden sein, gern haben, wรผnschenโ€œ รผbersetzen lieรŸe. Hieraus leiten sich dann auch Begriffe wie โ€žgewรถhnenโ€œ ab, zudem treten in der Verwendung Aspekte wie Behaglichkeit und Geruhsamkeit hinzu.

Das verweist schon auf das, was wir mit dem Wohnen beziehungsweise unserer Wohnung auch heute assoziieren: eine ร–rtlichkeit als dauerhafter Lebensmittelpunkt, an der wir uns (jedenfalls sollte es so sein) wohlfรผhlen, die uns Schutz, Rรผckzug und Sicherheit bietet, einen Raum fรผr Austausch, Entspannung, Intimitรคt, Reprรคsentation und die Auslebung der individuellen Persรถnlichkeit.

Leitbilder des Wohnens stammen aus dem 19. Jahrhundert

โ€žDas Wohnen kann, abstrakt formuliert, als ein Interaktionssystem begriffen werden, das den Menschen sowohl physisch und psychisch wie auch soziokulturell an bestimmte Rรคume bindet. Die Struktur dieses Handlungssystems ist durch regelmรครŸig in der Zeit wiederkehrende Prozesse gekennzeichnet, die primรคr der Erhaltung und Entwicklung des Existenzsicherung dienenโ€œ, versuchte der Historiker Hans Jรผrgen Teuteberg schon 1985 eine Eingrenzung des schwierigen Wohnbegriffs.

Sicher scheint zumindest, dass die typisch bรผrgerliche Wohnvorstellung, wie sie lange vorherrschend war und zum Teil bis heute ist, wesentlich ein Produkt der der letzten rund 200 Jahre ist. Bildete in Mittelalter und Frรผher Neuzeit lange Zeit der Bauernhof mit Mehrgenerationen-Haushalt sowie der Einheit von Wohn- und Arbeitsstรคtte ein vorherrschendes Modell, so zerfiel dieses Muster vor allem mit der Durchsetzung industrieller Produktionsweisen, der Verstรคdterung und dem Aufstieg des Bรผrgertums im 19. Jahrhundert.

Merkmale des modernen Wohnens

Dadurch entstanden, wie die Soziologin Christine Hannemann unter Verweis auf die Forschungen von Hartmut HรคuรŸermann und Walter Siebel formuliert, fรผnf Merkmale des modernen Wohnens, wie sie idealtypisch waren, also prรคgnant und vorherrschend รผber einen bestimmten Zeitraum, auch wenn es sie schon vorher mancherorts gab.

Erstens wurde Wohnen als Ort des Nicht-Arbeitens begriffen, da die Erwerbsarbeit im Gegensatz zu frรผher nunmehr ausgelagert war. Das schuf neue Freirรคume zur Selbstverwirklichung und zur Gestaltung des Raums, etwa der bรผrgerlichen โ€žguten Stubeโ€œ.

SchwarzweiรŸbild eines histosichen Wohnzimmers.
Historisches Wohnzimmer in der Goldenen Waage in Frankfurt am Main. Foto: gemeinfrei

Zweitens lebten jetzt statt vieler Generationen mit Seitenverwandtschaft sowie GroรŸ- und UrgroรŸeltern oft nur noch Eltern und Kinder als Kleinfamilie zusammen. Je nach Funktion wurden Rรคume getrennt (Abort, Kรถrperhygiene, Sexualitรคt, Schlaf, Essenszubereitung und -einnahme, Konversation, Spiel etc.).

Drittens fielen privater und รถffentlicher Raum stรคrker auseinander. Die Wohnung wurde zum Inbegriff von Privat- und Intimsphรคre mit klarer Abgrenzung nach auรŸen. Emotionales und Kรถrperliches war weitgehend nach innen verlagert, was sich beispielsweise in der Einhausung der frรผher vielfach รถffentlichen Aborte zeigt.

Viertens dynamisierte und verrechtlichte sich ein Wohnungsmarkt, auf dem Wohnraum durch Kauf oder Anmietung genutzt werden kann. Wรคhrend der Staat gesetzliche Rahmenbedingungen vorgibt, treten mit Mietern bzw. Kรคufern, Vermietern, Bauunternehmern, Architekten usw. viele Akteure auf den Plan.

Fรผnftens schlieรŸlich ist modernes Wohnen รผberwiegend technisiert: Heizung, Elektro- und Wasseranschluss, Sanitรคranlagen, Satellitentechnik etc. zรคhlen heute zu den Standards des Wohnens, wie sie kaum mehr wegzudenken sind. Technische Gerรคte verรคnderten die Wohnstandards immer weiter.

Zustรคnde zur Zeit der Industrialisierung waren meist katastrophal

Cover Leipziger Zeitung Nr. 114, Vร– 30.06.2023. Foto: LZ

Doch breiteten sich diese Normen erst รผber lรคngere Zeit aus und dรผrfen nicht รผber die katastrophalen Zustรคnde des 19. Jahrhunderts hinwegtรคuschen. Wรคhrend das wohlhabende Bรผrgertum sich Villen oder grรถรŸere Wohnungen eher leisten und geschmackvoll einrichten konnte, hauste (wohnen will man es wohl kaum nennen) die Masse der Arbeiter mit den Familien meist รคuรŸerst beengt unter hygienisch widrigen Bedingungen in sogenannten Mietskasernen am Rand der Stรคdte, die durch den Zuzug von Menschen auf der Suche nach Arbeit in wenigen Jahrzehnten rasant anwuchsen.

Meist gab es keine Heizungen oder flieรŸendes Wasser, Gemeinschaftstoiletten nur auf dem Hausflur oder im Hinterhof. Die Wohnungsfrage wurde als soziales, gesellschaftliches und politisches Phรคnomen begriffen. Erst mit dem 20. Jahrhundert setzte eine gewisse Entspannung ein, unter anderem durch die staatliche Fรถrderung des Baus preiswerter, funktionaler Wohnungen.

Die Bundesrepublik als Wohlfahrtsstaat

Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren, nicht nur in Deutschland, Millionen Wohnungen zerstรถrt, in den Westzonen des von den Alliierten besetzten Gebiets fehlten 1946 รผber fรผnf Millionen davon. Die 1949 gegrรผndete Bundesrepublik reagierte mit der Fรถrderung des Wohnraums in Form von sozialem Wohnungsbau sowie Eigenheimen, sogar ein eigenes Ministerium wurde geschaffen.

Ende der sechziger Jahre machten รถffentlich gefรถrderte Mietwohnungen einen Anteil von fast 30 Prozent aus, zudem setzte der Staat einen Anreiz zum Eigenheimbau fรผr die Mittelschicht, wobei die Eigenheimquote nur geringfรผgig stieg.

Spรคter bemรผhten sich Verantwortliche auch um die Aufwertung der innerstรคdtischen Wohnsituation. Seit Mitte der Siebziger, als Statistiken einen Gleichstand zwischen Wohnungen und Haushalten auswiesen, zog sich der Bund allmรคhlich aus der Fรถrderung zurรผck.

Sozialistische Wohnungsbaupolitik der DDR

Auch die DDR hatte betrรคchtliche Kriegsverluste des Wohnraums zu verzeichnen, stellte ihre Wohnungsbaupolitik jedoch unter sozialistische Prรคmissen: Wohnraum sollte Ausdruck der Gleichheit und kein Privateigentum oder Spekulationsgut mehr sein, weswegen er nach offizieller Vorgabe zentral verteilt wurde. Die sehr niedrigen Mieten wurden vom Staat festgelegt und machten nur wenige Prozentpunkte der Einkommen aus.

Eigenheimbau blieb eher die Ausnahme, war aber seit 1971 per Anordnung mรถglich. Im gleichen Jahr beschloss der VIII. SED-Parteitag ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm, mit dem das Problem bis 1990 gelรถst werden sollte. Bis 1989 wurden รผber zwei Millionen Wohnungen in standardisierter Plattenbauweise am Rand der Stรคdte errichtet.

Das brachte eine Verbesserung der Wohnsituation vieler Menschen, vor allem Familien, mit sich, die nun ein kleines Reich inklusive Zentralheizung, eigenem Bad und Innen-WC in Beschlag nehmen konnten. Insgesamt vermochte der DDR-Wohnungsbau aber nicht mit der Nachfrage und westdeutschen Standards schrittzuhalten. Wohnraummangel blieb ein Problem, zumal die geringen Mietkosten keinen Anreiz boten, zu groรŸe Wohnungen aufzugeben und nach etwas Kleinerem zu suchen.

Dazu kam der Verfall der Altbausubstanz in Stรคdten wie Ost-Berlin, Rostock, Halberstadt oder Leipzig, wo ganze Viertel in den achtziger Jahren einer geisterhaften Kriegskulisse glichen, mit undichten Fenstern, mangelhafter Ausstattung mit Heizung und Wasseranschluss und natรผrlich den unbeliebten AuรŸenklos. Ein Faktor, der im Herbst 1989 auch politisch weniger versierte Menschen auf die StraรŸe trieb, um gegen derlei Zustรคnde zu protestieren.

Schwierige Transformation und Deregulierung

Diese Hinterlassenschaft prรคgte auch die Zeit nach der Wiedervereinigung. In Ostdeutschland wurde sozialer Wohnungsbau angekurbelt, zudem der Wohnungsmarkt an gesetzliche Bedingungen angepasst und die Rรผckรผbertragung einst staatlich verwalteten Wohnguts aus der DDR an Altbesitzer bzw. ihre Erben durchgefรผhrt. Derlei Prozesse zogen sich bis in die frรผhen 2000er Jahre, Wohnungsbestรคnde in รถffentlicher, kommunaler und genossenschaftlicher Hand gingen durch Restitution und Privatisierung zurรผck.

Parallel zur Stรคdtebau- und Eigenheimfรถrderung konnten Sanierungen und Neubauten das Wohnungsangebot sowie die Ausstattung des Wohnraums aber deutlich steigern. Um das Jahr 2000 war sogar gerade der Leerstand an Wohnungen in Stรคdten ein Problem.

Die rot-grรผne Regierung Schrรถder und ab 2005 die GroรŸe Koalition unter Merkel zogen sich aus der Fรถrderung zurรผck und ergriffen DeregulierungsmaรŸnahmen in der Wohnungsbaupolitik. Zum Teil wurden รถffentliche Wohnungsbestรคnde privatisiert.

Rรผckkehr der Wohnungsfrage in Deutschland

Nach der Flaute der Nullerjahre kamen Sanierung und Neubau wieder in Schwung, wobei jedoch รผberwiegend im hรถherpreisigen Segment Aktivitรคten feststellbar sind, weniger im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Mit dem Zuzug aus anderen EU-Lรคndern nach Deutschland und den hohen Ankunftszahlen geflรผchteter Menschen aus Krisenregionen 2015/16 hat die Wohnungsfrage neue Bedeutung erlangt, verschรคrft durch die Geflohenen infolge des russischen รœberfalls auf die Ukraine 2022.

Wรคhrend es auf dem Land oder in kleineren Orten mitunter noch hรถhere Leerstandsquoten an Wohnungen gibt, ist deren Mangel in groรŸen Stรคdten nach wie vor ein gewaltiges Problem, das so schnell nicht von der politischen Agenda verschwinden wird. Ihr Ziel von 400.000 neuen Wohnungen jรคhrlich hat die jetzige Ampel-Regierung von Olaf Scholz bisher klar verfehlt.

Neue Trends: Individualisierung, Alterung, Wandel der Arbeitswelt

Davon unabhรคngig dรผrften sich beim Wohnen auch die aktuellen Trends weiter fortsetzen: Neben der รคlter werdenden Gesellschaft und neuen Formen des Wohnens im hรถheren Lebensalter (Mehrgenerationen-Haushalte, WGs fรผr alte Menschen) betrifft dies auch die Individualisierung, die HaushaltsgrรถรŸen weiter schrumpfen lรคsst: Prognosen nach kรถnnten Single-Haushalte in Deutschland mit nur einer Person bis 2040 fast ein Viertel aller Privathaushalte ausmachen.

Zudem wirkt auch die Verรคnderung der Arbeitswelt mit neuen Mรถglichkeiten zum Homeoffice auf das Wohnen zurรผck, forciert durch die Corona-Zeit 2020-2022. In Sachen Wohnungsbau kรถnnten obendrein der Klimawandel und Nachhaltigkeitsgedanken kรผnftig eine grรถรŸere Rolle spielen.

โ€žAlternative Landwirtschaft in Zeiten des Klimawandelsโ€œ erschien erstmals in der Juni-Ausgabe, ePaper LZ 114, der LEIPZIGER ZEITUNG.

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