Am 4. Juni 1923, also vor 100 Jahren, werden aus allen Teilen Deutschlands Demonstrationen und Lohnbewegungen der Arbeiterschaft gemeldet. Gleichzeitig aber revoltieren an jenem Montag auch Erwerbslose auf Deutschlands grรถรŸtem stรคdtischen Platz, dem Leipziger Augustusplatz. Zunรคchst treffen sich Tausende von ihnen im Palmengarten in Lindenau, einem Aufruf des Erwerbslosenrates folgend.

Ein Ergebnis der einstรผndigen Versammlung ist die รœbernahme der Forderungen der Dresdner Erwerbslosen nach Verdopplung der Erwerbslosen-Unterstรผtzung, Herabsetzung der Preise fรผr Naturalien und Gewรคhrung von Zuschรผssen zu Miet- und Gasverbrauchskosten. Mit der Mahnung, wรคhrend des anschlieรŸenden Demonstrationszuges keine Ausschreitungen zu begehen, wird die Versammlung beendet. Der Zug, begleitet von Ordnern, bewegt sich anschlieรŸend durch die Plagwitzer StraรŸe nach dem Stadtinnern.

Vor dem Rathaus angekommen, verhandeln Mitglieder des Erwerbslosenrates mit einem Stadtrat, der Zug bewegt sich weiter durch die WรคchterstraรŸe vor das Reichsgericht. Die nacheilenden Unterhรคndler informieren die Wartenden davon, dass sich die Stadt auรŸerstande sehe, zu helfen, aber bei der sรคchsischen Landesregierung und der Reichsregierung vorstellig werden wolle, damit unverzรผglich Schritte zur Abwendung der Not unternommen werden.

Den Gemeinden ist es gesetzlich nicht gestattet, von sich aus, d. h. neben der Reichsverordnung รผber Erwerbslose, Sonderbeihilfen fรผr Erwerbslose zu gewรคhren. Ab 14. Mai 1923 z. B. erhalten in Leipzig/Ortsklasse A, Mรคnner รผber 21 Jahre mit eigenem Haushalt 3.200 M., ohne eigenen Haushalt 2.800 M., unter 21 Jahren 1.950 M.; weibl. Personen รผber 21 Jahren mit eigenem Haushalt 2.800 M., ohne eigenen Haushalt 2.350 M., unter 21 Jahren 1.750 M.; Zuschuss gibt es fรผr Ehegatten 1.150 M.; Zuschuss fรผr Kinder und sonstige unterhaltspflichtige Angehรถrige 950 M.; 1 Pfund Kartoffeln kostet lt. Markthallen-Tabelle am 5. Juni 1923: 85 Mark, vor dem Krieg und Inflation 4 Pfennig.

Die meisten Umherstehenden geben sich zufrieden und gehen ihrer Wege, bis auf einige hundert meist jรผngere Leute, die grรถlend zur Markthalle ziehen. Noch gelingt es Zugordnern, durch gutes Zureden die Stรผrmung der Markthalle zu verhindern. Dann, auf dem Augustusplatz: Das Cafรฉ Felsche wird gestรผrmt, die Gรคste reiรŸen aus, Tische und Stรผhle fliegen durch die Fensterscheiben, Glรคser, Flaschen und Speisen bedecken den Boden, in Sekunden ist alles verwรผstet. Ein Marmortisch steckt in einer groรŸen Fensterscheibe, alle Fenster demoliert, Rechnungen bleiben unbezahlt. Eine Parole โ€žZum Brรผhlโ€œ wird gebrรผllt.

Lichtscheue Elemente im Polizeibericht

In einem Polizeibericht heiรŸt es: โ€žAlle Anzeichen deuten darauf hin, daรŸ an den Ausschreitungen lichtscheue Elemente den Hauptanteil tragen, und daรŸ daneben Krรคfte am Werke sind, welche die infolge der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Teuerung vorhandene Erregung benutzen, um Ausschreitungen herbeizufรผhren in der Hoffnung, daรŸ sich am Ende derselben ihre putschistischen und staatsfeindlichen Plรคne leichter verwirklichen lassen. Es ist jedenfalls sehr auffรคllig, daรŸ schon bei der Demonstration Schmรคhrufe gegen die Juden ausgestoรŸen wurden, und daรŸ auch am Cafรฉ Felsche die Aufforderung erging, nun nach dem Brรผhl zu ziehen und das Gleiche zu wiederholen.

Bisher ist bei den zahlreichen Erwerbslosenversammlungen eine antisemitische Stimmung nicht zu bemerken gewesen. Leider war es nicht mรถglich, die Hauptwรผhler festzunehmen. Wenn irgendwo die Polizei eingreift, bilden sich sofort groรŸe Ansammlungen von Neugierigen, wodurch den lichtscheuen Elementen Gelegenheit geboten ist, unauffรคllig zu verschwinden und an anderer Stelle ihr Treiben aufs neue zu beginnen.โ€œ

โ€žGutgekleidete Personenโ€œ, d. h. Anhรคnger oder Sympathisanten der am 22. Januar 1922 von 30 Mรคnnern unter Fรผhrung von Hans Fรถrster gegrรผndeten Leipziger Ortsgruppe der NSDAP, bemรผhen sich, die Demonstranten zu forscherem Vorgehen zu bewegen und gegen den jรผdischen Teil der Bevรถlkerung zu hetzen. Die Erregung hรคlt an รผber Tage. Krawalle und Handgemenge in der Stadt, tรถdliche Verletzungen, Schรผsse: Am Ende gibt es mehrere Tote und รผber hundert Verletzte.

Am Donnerstag ist dann fรผr die Polizei โ€ždie Lage geklรคrt.โ€œ Es folgen die รผblichen Nachspiele von Protest, Schuldzuweisung, Rechtfertigung und Forderung.

Die โ€žLeipziger Winterhilfeโ€œ

Die Reaktion: Bis Oktober 1923 konstituiert sich eine โ€žLeipziger Winterhilfeโ€œ. Ein Bรผro im Untergeschoss des Stadthauses, Zimmer 623, ist eingerichtet. Am 21.10.1923 erscheint ihr Aufruf: โ€žHelft die Hungernden speisen, die Frierenden wรคrmen! Ein Winter der bittersten Not beginnt. Tausende von Leipziger Einwohnern stehen hilflos im Kampf um das tรคgliche Brot โ€ฆโ€œ

Im Aufruf wird die Lage deutlich und prรคgnant dargestellt. โ€žTรคglich eine warme Mahlzeitโ€œ soll gesichert sowie โ€žMassenspeisungen und die Errichtung von Wรคrmestubenโ€œ organisiert werden, sobald Spenden und bereitstehende Rรคumlichkeiten das erlauben.

Unterzeichnet ist der Aufruf von 88 Persรถnlichkeiten, darunter: der Verleger Max Brockhaus, Frau Dora Fรถrster, die Gattin des Anglisten und Keltologen Max Fรถrster, der Verleger Henri Hinrichsen, der Prokurist Max Hermann Heine, der Schauspieldirektor Alwin Kronacher, Leipzigs Oberbรผrgermeister Karl Rothe, Frau Helene Skutsch, Gattin des Gynรคkologen Felix Skutsch, der ร„gyptologe und Orientalist Georg Steindorff, der Thomaskantor Karl Straube und der Direktor der Akademie fรผr graphische Kรผnste und Buchgewerbe zu Leipzig, Walter Tiemann.

Der Aufruf zeigt Wirkung: An rund 40 Orten in der Stadt werden etwa 11.000 Notleidende tรคglich mit Nahrung und Wรคrme versorgt.

Mehr Fรผrsorge

Mit der Leipziger Winterhilfe ist keine neue Organisation beabsichtigt, vorhandene Fรผrsorgezweige sollen ausgebaut und erweitert werden. Sie โ€žwill Milch fรผr Sรคuglinge und kleine Kinder, fรผr schwangere Frauen und stillende Mรผtter schaffen, eine warme Mittag- oder Abendmahlzeit fรผr sieche Mรคnner und Frauen und Kinder bereitstellen und den Frierenden warme Kleidung und Unterkunft gebenโ€œ, so ein erlรคuternder Kommentar.

Die Stadt speise jetzt schon tรคglich 15.000 Kinder, weitere 10.000 unterernรคhrte gingen leer aus, heiรŸt es und: โ€žMutterschutz und Studentenkรผche, die stรคdtischen Volksbadeanstalten und die Gulaschkanone der Heilsarmee, alles wird in den Dienst der guten Sache eingespannt werden, damit die Leipziger Winterhilfe von Dauer ist und an keinem vorรผbergeht, der zu den ร„rmsten der Armen, zum versinkenden Mittelstand gehรถrtโ€œ, heiรŸt es weiter.

Zur Jahresmitte 1932 gibt es fast 300 000 โ€žWohlfahrtserwerbsloseโ€œ in Sachsen. Von 24 statistisch ausgewiesenen Orten liegt Leipzig mit 68,4 betroffenen Personen pro 1000 Einwohner an 17. Stelle; Pirna mit 96,5 Personen hรคlt die traurige Spitze, Riesa ist mit 60, 9 Unterstรผtzungsempfรคngern je 1000 Einwohner die letzte Stadt in dieser Reihe.

Damit ist das โ€žWinterhilfswerkโ€œ, gegrรผndet am 13.09.1933, auch keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern lediglich eine Perfektionierung und letztendlich durch Ausschluss vor allem der โ€žnichtarischenโ€œ Bevรถlkerung auch eine Pervertierung lรคngst vorgeprรคgter Gedanken und praktischer Erfahrungen.

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