Kirchenbauwerke gehören zu vielen Ortschaften. Sie sind bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke. Die Gotteshäuser haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfältige Bedeutung. Doch ihre Zukunft ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen auch über Mitteldeutschland hinaus – und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.

Die Marienkirche – im Zentrum der Altstadt Wismars auf dem St.-Marien-Kirchhof zwischen Marktplatz und Fürstenhof gelegen – war Hauptpfarrkirche und Ratskirche der Hansestadt. Sie gehörte zu den ältesten Bauwerken dort, ihr im Zweiten Weltkrieg beschädigtes Kirchenschiff wurde 1960 gesprengt – nur der 80,5 Meter hohe Kirchturm blieb erhalten.

Der 1960 gesprengte Sakralbau war nicht die erste Marienkirche in Wismar: Bereits für 1250 ist die erste Marienkirche belegt, vermutlich war sie ein Holzbau, der schon in den 1220er-Jahren stand. Die Stadtgründung vor dem Jahr 1226 erforderte eine Pfarrkirche, war doch ein Gotteshaus bei größeren Siedlungen zu jener Zeit selbstverständlich.

Die Marienkirche wurde um 1260–1270 als Hallenkirche mit Westturmanlage erbaut. Die Breite des Langhauses betrug 36 Meter, die Höhe der Gewölbe etwa 16 Meter, die Länge des Schiffes und die Gestalt des Chores sind unbekannt. Die Maße bezeugen eindrücklich anspruchsvolle Baukunst und wirtschaftliche Leistungskraft der Stadt im 13. Jahrhundert.

Zweites Bauwerk

Nach dem Abriss des Chores erfolgte der Bau einer provisorischen Abschlusswand zum weiterbenutzten Hallenlanghaus. Um 1320–1339 wurde unter Werkmeister Johann Grote der basilikale Umgangschor mit Kapellenkranz errichtet.

Marienkirche Wismar um 1930. Foto: Archiv Kirchgemeinde Wismar, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=132447427
Marienkirche Wismar um 1930. Foto: Archiv Kirchgemeinde Wismar, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=132447427

Nach 1339 folgte die Vollendung des Chores und 1353 die Weihe. Danach wurde das alte Hallenlanghaus schrittweise abgetragen und das Backsteinmaterial für die Errichtung des Langhauses als Basilika wiederverwendet. Im Typus entsprach die Kirche dem Vorbild der Marienkirche von Lübeck – da wollte die ebenfalls stolze Hansestadt Wismar schon mithalten.

Um 1370/1375 wurde das Langhaus vollendet. Die Höhe des Mittelschiffgewölbes betrug 32,2 Meter. Vor 1388 wurden nachträglich zwischen die Strebepfeiler Einsatzkapellen angebaut, auf der Nordseite um 1388 die Nordhalle und vor 1390 die Sakristei. Die Südvorhalle und die östlich daneben liegende Knochenhauerkapelle entstanden vor 1414.

Schließlich erfolgte die Aufstockung des Westturms auf drei Geschosse. Auf diesen Turm wurde ein hölzerner, kupferverkleideter Turmhelm aufgesetzt, sodass der Turm auf eine Gesamthöhe von rund 120 Metern kam.
Die Kapelle unter dem Turm wurde im Mittelalter von der Kaufleute-Korporation der Bergenfahrer ausgestattet, unterhalten und genutzt.

Im 15. oder frühen 16. Jahrhundert wurde der steile gotische Pyramidenhelm zerstört und mit einem Dachreiter ersetzt, der 1539 vom Blitzschlag zerstört wurde. Der Ersatz wurde 1661 vom Sturm heruntergeworfen, der anschließende provisorische Abschluss blieb bis heute bestehen. Im 18. Jahrhundert wurden teilweise Fenster und Portale zugemauert. In den 1860er-Jahren wurde ein Dachreiter auf dem östlichen Ende des Langhausdaches errichtet.

Pfarrkirche

Im Mittelalter dienten Pfarrkirchen überwiegend den in der Nähe wohnenden Christen. Der südliche Teil der Altstadt zwischen Dominikanerkloster, Heilig-Geist-Hospital und Bademutterstraße bildete das Kirchspiel der Marienkirche. Dort waren auch der Marktplatz und das Rathaus, im Stadtzentrum wohnten einige durchaus wohlhabende Bürger.

Die Kirche diente der Feier der heiligen Messe, der Predigt, der Spendung der Sakramente, der Beichte, der Taufe, der Krankensalbung und der Beerdigung der Gemeindemitglieder. Die ältere Nordvorhalle diente auch zur Aufbahrung der Verstorbenen.

Südansicht um 1896. Abb. aus „Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin“, Band II, Neudruck Schwerin 1992, gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12183083
Südansicht um 1896. Abb. aus „Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin“, Band II, Neudruck Schwerin 1992, gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12183083

Kapellen

Wie auch in Kirchen anderer Hansestädte üblich, ließen sich begüterte Gemeindemitglieder Kapellen in der Kirche einrichten oder anbauen, ebenso Kaufmannsgesellschaften und Handwerksämter. Jeweils an der Ostwand einer Kapelle stand ein Altar, an dem ein Meßpriester jeden Tag die Ewige Messe las.

Diese Messen sollten den Stiftern zum Seelenheil dienen. Um dies für die Kirche einträgliche Geschäft zu fördern, wurde jede Möglichkeit ausgeschöpft, Kapellen einzurichten oder an das Gebäude anzubauen. Auch in den beiden erhaltenen Turmhallen waren Kapellen eingerichtet.

Gemeindemitglieder, die sich eine Begräbnisstätte innerhalb der Kirche nicht leisten konnten, wurden auf dem Friedhof, der die Marienkirche umgab, bestattet.

Ausstattung

St. Marien war als Wismars Ratskirche dank Stiftungen reich ausgestattet. Im Laufe der Geschichte wurden Ausstattungsstücke an Kirchgemeinden Mecklenburgs weitergegeben, so etwa die Kanzel aus der Werkstatt des Lübecker Bildschnitzers Tönnies Evers d. J. von 1587, die seit 1746 in der Marienkirche von Neustadt-Glewe zu Hause ist.

Etliche Stücke der Ausstattung konnten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges gerettet werden, die meisten wurden jedoch zerstört. So der Hauptaltar von 1749, der Orgelprospekt aus der Zeit um 1840 und das Gestühl.

Das Triumphkreuz von 1420 schmückt seit der Restaurierung 1990 den Schweriner Dom, es stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Andere Stücke wie etwa die Taufe aus Bronze, um 1335 gegossen, haben in Wismars Nikolaikirche ihren neuen Platz. Die Taufe stand nachweislich 1495 unter dem Turm, sie schuf vermutlich Johann Apengeter aus Lübeck. Die astronomische Uhr von St. Marien wurde bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Sprengung St. Marienkirche zu Wismar

Kirchturm

Der Unterbau des Turmes und die beiden Seitenhallen stammen von der frühgotischen Vorgängerkirche. Mit dem Bau wurde etwa von 1260 bis 1270 begonnen. Das Portal ist spitzbogig und mit Kleeblattbogenfriesen und Ecklisenen ausgestattet. Die ehemaligen Rundfenster an den Seiten wurden vermauert.

Dieser frühgotische Unterbau wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts um drei Geschosse aufgemauert, die einzelnen Geschosse an jeder Seite von zwei Spitzbogenfenstern gegliedert. Die Außenkanten waren mit weißen Kalksteinbindern betont – als Kontrast zum Rot der Backsteine. Zwei sich kreuzende Satteldächer wurden wohl im 16. Jahrhundert aufgesetzt; die vier Giebelfelder mit Maßwerksteinen und geometrischen Mustern verziert. Die Turmuhr erhielt 1647 die Ziffernblätter.

Zeit ab 1945

Im April 1945 wurde die Kirche von Luftminen stark beschädigt. Die Dacheindeckung wurde zerstört, und alle Gewölbe, das südliche Seitenschiff und die Südvorhalle stürzten ein. 1951 wurde für die Gemeinde eine Notkirche nach dem Entwurf von Otto Bartning gebaut: die Neue Kirche, aus den Steinen des alten Pfarrhauses errichtet.

Backsteinsockel zur Markierung von Grundriss und Pfeilern der einstigen Kirche. Foto: Avda, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92459863
Backsteinsockel zur Markierung von Grundriss und Pfeilern der einstigen Kirche. Foto: Avda, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92459863

Obwohl keine direkte Gefahr des Zusammenbruchs oder gesundheitlicher Risiken bestand, wurden 1960 Langhaus und Chor der Marienkirche unter Protest zahlreicher kultur- und geschichtsinteressierter Bürger gesprengt und das Baumaterial geschottert.

Geläut

Der Glockenbestand der Marienkirche zählt zu den umfangreichsten in Norddeutschland; die 13 Glocken sind alle erhalten geblieben. Neun in der Glockenstube aufgehängte Glocken bilden gemeinsam ein Glockenspiel, das nach dem Kirchenjahr wechselnde Choräle spielt. Die fünf größten Glocken sind zum schwingenden Läuten eingerichtet und werden an Festtagen zusammen geläutet.

Jüngere Vergangenheit

Mit Finanzmitteln von Stadt, Land, Bund, Deutscher Stiftung Denkmalschutz und mit Spenden engagierter Bürger wurde der Kirchturm saniert und wetterfest gemacht sowie innen technisch ausgerüstet zur Nutzung für Veranstaltungen. Der Grundriss des Kirchenschiffs wurde mit 80 Zentimeter hohen Aufmauerungen wieder sichtbar gemacht – sie lassen die Großartigkeit der einstigen Kirche erahnen. Die zwischenzeitlich geplante Rekonstruktion dieses Wahrzeichens von Wismar wurde 2017 aufgegeben, der Förderverein löste sich auf.

Der Kirchturm heute

Der Sakralbau-Torso war gemeinsam mit St. Georgen in Wismar bis Januar 2012 Ort der Ausstellung „Wege zur Backsteingotik: Gebrannte Größe – Bauten der Macht“ zu Backsteingotik und Entstehungsgeschichte von St. Marien. Der Kirchturm ist Teil der Europäischen Route der Backsteingotik.

Warum blieb der Kirchturm der Marienkirche überhaupt stehen? Jahrhundertelang diente er den Seeleuten aufgrund seiner Höhe als Orientierungsmarke bei der Navigation. An diesem Fakt kamen auch Wismars SED-Machthaber bei ihrer Kirchensprengung 1960 nicht vorbei: Der Kirchturm musste stehenbleiben – wegen seiner Bedeutung als Seezeichen.

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