Wir nähern uns wieder einem Gedenktag, dem 30. Januar. Mit der Ernennung eines der übelsten Diktatoren der Weltgeschichte zum deutschen Reichskanzler vor 90 Jahren setzte sich das nun ganz offiziell fort, was schon lange vorher und so ganz allmählich begann. Ein unheilverkündendes Beispiel dafür ist der öffentliche Umgang mit dem Film „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque.
Das Buch ist 1929 im Berliner Propyläen-Verlag erschienen. Der Schriftsteller Ernst Lothar hat es in der Wiener „Neuen Freien Presse“ (NFP) vom 24. Januar 1929 sehr eindrucksvoll rezensiert.
Lesenswert !!
Alles beginnt mit der Filmpremiere von „Im Westen nichts Neues“ im Mozartsaal am Berliner Nollendorfplatz am 4. Dezember 1930 mit einem störungslosen Verlauf. Aber schon am nächsten Tag, vorbereitet durch wüste Hetze rechtsradikaler Abendblätter, mischen sich etwa 200 Nazis unter die Kinobesucher, die mit Rufen wie „Saustall“, „Schweine“ und Ähnlichem die Vorstellung stören.
Dann werfen sie Stinkbomben, streuen Nießpulver und lassen von der Galerie herab lebende Mäuse in das Publikum fallen. Kritiker werden verprügelt. Auch ein Dr. Goebbels ist anwesend; seine Rede von der Galerie herab geht aber im allgemeinen Lärm unter.
Dessen (mißbräuchliche) Abgeordnetenimmunität schützt ihn vor Festnahme durch die später eintreffende größere Polizeieinheit, die dem Geschehen ein Ende bereitet und einige Hakenkreuzler festnimmt. Die nächste Vorstellung 9 Uhr abends muß abgesagt werden. In der Regel laufen dreimal täglich ausverkaufte Vorstellungen dieses Films im Mozartsaal.
Das hat Folgen: Der preußische Innenminister Karl Severing und alle zuständigen Behördenvertreter beabsichtigen, sich die deutsche und die Auslandsfassungen des Films des in New York hergestellten Streifens vorführen zu lassen. Zugleich erklärt der Berliner Polizeipräsident Grzesinski gegenüber der Presse, dass ein Verbot des Films überhaupt nicht infrage komme, da dieser die Zensur anstandslos passiert habe.
Die sächsische Regierung dagegen hat wegen befürchteter Ausschreitungen bei der Filmoberprüfstelle in Berlin den Antrag gestellt, die Zulassung des Films zu widerrufen.
Nazis randalieren, Regierungen knicken ein
Offenbar inspiriert durch eine Falschmeldung in der Berliner Nazipresse, randalieren am Sonntagabend, dem 7. Dezember, vor dem genannten Kino etwa 300 vor allem schulpflichtige (!) Jungen und rufen mehrmals: „Wir fordern die Absetzung des Hetzfilms!“ Die Polizei geht schließlich mit Gummiknüppeln gegen sie vor und nimmt 17 Hauptschreier fest.
Am nächsten Tage kommt es zur bisher größten Demonstration mit Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ab 7 Uhr abends versammeln sich viele Menschen auf dem Nollendorfplatz in Erwartung einer Protestkundgebung gegen den Remarque-Film, denn Dr. Goebbels wird zu ihnen um 9 Uhr dann sprechen.
Auch große Nazi-Trupps machen sich bemerkbar, die bei Gesang ihrer Lieder zwischen dem Winterfeld- und dem Nollendorfplatz hin und her ziehen. Alle Haltestellen von Straßenbahn und Autobus sind aufgehoben, die Ausgänge der U-Bahn sind in dieser Gegend geschlossen. Es herrscht eine Art Panik auf dem Kurfürstendamm.
Die Nazis wollen den Abbruch der Filmvorführungen erzwingen, die Polizei ist ebenso entschlossen, die Aufführungen zu schützen. Während also vor dem Kino allabendlich randaliert wird, verlaufen die Vorführungen, weil Polizei anwesend, im Hause selbst ruhig.
Die Länderregierungen Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Bayern und Württemberg treten für ein Verbot des Remarque-Films ein.
Der Berliner Polizeipräsident Grzesinski erläßt aufgrund der ständigen Vorfälle um den Remarque-Film ab Mittwoch, 10.12.1930, 14 Uhr bis auf Weiteres ein Demonstrationsverbot für Groß-Berlin. Daraufhin fordert die Fraktion der Deutschnationalen im preußischen Landtag durch einen „Ur-Antrag“, dass Grzesinski abberufen wird, weil ihm „jedes Verständnis für das moralische Recht des Volkes, sich gegen Verunglimpfungen vonseiten des Auslandes zu wehren, fehle“.
Protest gegen die Absetzung
Am 11. Dezember wird der Film den Entscheidern der Filmoberprüfstelle vorgeführt und dann nach einer etwa halbstündigen Beratung dessen Vorführung „wegen Gefährdung des deutschen Ansehens im Auslande“ verboten. Ein vorhersehbares, kaum überraschendes Ergebnis: Die Besetzung der Filmoberprüfstelle wechselt von Fall zu Fall.
Der Vorsitzende, Oberregierungsrat Seeger vom Reichsinnenministerium, beruft zu Beginn jeder Session die Beisitzer. Im vorliegendem Fall sind es fast ausschließlich Persönlichkeiten, die zu den Rechtsparteien gehören oder ihnen nahestehen.
Am selben Tage wird der Remarque-Film in seiner amerikanischen Fassung im Mozart-Saal dem preußischen Ministerpräsidenten Braun und anderen Mitgliedern der Regierung, dem Berliner Polizeipräsidenten und mehr als fünfzig Offizieren der Schutzpolizei gezeigt.
Trotz des tiefen Eindrucks und der Erklärungen, dass der Film keine antideutschen Tendenzen aufweise, wird der Film vom Spielplan der Mozart-Lichtspiele aufgrund des o. g. Urteils abgesetzt. Auch die Herstellerfirma Universal Pictures Corporation New York zieht den Film, der seit Monaten auf 5 Kontinenten läuft und überall einen großen Eindruck hinterläßt, zurück.
Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) protestiert am 14. Dezember gegen die Entscheidung der Filmoberprüfstelle; einen Tag später kommt es zu den ersten großen Protestversammlungen des Reichsbanners in Berlin.
Am 18. Dezember in Berlin kommt der preußische Minister des Inneren Karl Severing im Laufe einer Etatberatung auch auf die Vorgänge um den Remarque-Film zu sprechen und sagt abschließend: „Als meinen Gesamteindruck von der Vorführung des Films ‚Im Westen nichts Neues’ kann ich nur feststellen: Der Film ist ein hohes Lied auf deutsche Kameradschaft und deutsche Tapferkeit.“
Der Hallenser „Jungstahlhelm“ veranstaltet am 19. Dezember auf dem Roßplatz eine öffentliche Kundgebung gegen den „schädlichen Geist“ des Remarque-Werkes. Um den Protest feierlich zu gestalten, verbrennen Halbwüchsige ein Buch „Im Westen nichts Neues“.
Im Saargebiet wird die Aufführung des Remarque-Films am 20. Dezember verboten.
Ein Deutscher, der sich in Paris den Remarque-Film in der französischen Fassung angesehen hat und die Landessprache beherrscht, schildert sehr eindrucksvoll seine Beobachtungen im „Berliner Tageblatt“, die er mit den Sätzen beschließt:
„ … ich hörte nicht ein einziges abfälliges Urteil, im Gegenteil, es herrschte allgemeine Begeisterung über den Film, und manch einer äußerte, daß alle die, die von einem neuen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich faselten, in diesen Film geschickt werden müßten. Um so beschämender und unverständlicher wirkte daher auf mich die niederträchtige und sinnlose Art, in welcher eigene Landsleute gegen diesen Film Sturm liefen.“
Ein anderer, H. Eisgruber mit Namen, bemerkt später: „Die französische Fassung ist um kein Jota antideutscher als die deutsche. Und deren ‚antideutsches’ Wesen besteht darin, daß sie die deutschen Soldaten nicht als heroisch kolorierte Bilderbuchfiguren, sondern als Menschen von Fleisch und Blut und Nerven dargestellt und einen gewissen Unteroffizierstyp so malt, wie ich ihn kennengelernt habe und mit mir Millionen, die den Zauber im Frieden und im Kriege erleben durften.“
Auch in Wien ein Für und Wider um die Aufführung des Films
Am 16. Dezember 1930 wird im österreichischen Nationalrat über die Zulassung von Vorführungen des Remarque-Films debattiert. Nach einem lebhaften längeren Gespräch wird kein Grund für ein Aufführungsverbot erkannt.
Zwei Tage später, am 18. Dezember, wird der Remarque-Film den Mitgliedern der österreichischen Regierung und des Nationalrates in einem Wiener Kino vorgeführt.
Der österreichischen Öffentlichkeit wird der Remarque-Film über eine Pressemitteilung am 21. Dezember vorgestellt.
Mittels Rundschreiben v. 23. Dezember überlässt es die Bundesregierung zuständigkeitshalber den Landesregierungen und dem Wiener Stadtsenat, wie angesichts zu befürchtender Störungen mit den Vorführungen des Remarque-Films zu verfahren sei. Den Landeshauptleuten wird eine „Hintanhaltung“ nahegelegt.
Am 3., 7. und 8. Januar 1931 kommt es zu schweren Ausschreitungen in Wien mit Verletzten im Zusammenhang mit Filmaufführungen des Streifens „Im Westen nichts Neues“.
Nach dem Verbot einzelner Vorstellungen am Vortage wird am 10. Januar 1931 die Aufführung des Films mittels „Notverfügung“ auch für ganz Österreich verboten.
Die Leipziger Protestkundgebung gegen das Verdikt der Filmoberprüfstelle
Aus Empörung über die Entscheidung der Filmoberprüfstelle wird in Leipzig eine Protestkundgebung am 21. Dezember 1930 im Leipziger Volkshaus veranstaltet.
Zur Kundgebung, gemeinsam organisiert von der Kulturabteilung des ADGB, Ortsausschuss Leipzig, dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Gau Leipzig, und der SPD, Unterbezirk Groß-Leipzig, kommen soviel Teilnehmer, dass nicht nur der große Saal im Volkshaus mit seinen Nebenräumen, sondern auch noch der Gesellschaftssaal für die Unterbringung der Teilnehmer bereitgemacht werden muss.
Der Gauvorsitzende des Reichsbanners Pflugk hält die erste Rede und sagt u. a.:
„Es ist das hohe Lied reinen Menschentums – und das darf nach dem Willen der Reaktion unsere Jugend nicht kennenlernen. Das soll unseren Kindern verborgen bleiben! ‚Kein schönerer Tod, kein besserer Tod, als wer vorm Feind erschlagen’, heißt es in einem der Kriegslieder, und in diesem Geiste der Verlogenheit soll die heranwachsende Generation erzogen werden. Man will vermeiden, daß die Jugend erfährt, wie jämmerlich die Menschen in den Drahtverhauen umkamen, wie Nacht für Nacht die grausigen Schreie der Schwerverwundeten in die Ohren gellten. Und das zeigt uns gerade der Film ‚Im Westen nichts Neues’!“.
Als zweiter und letzter Redner tritt Dr. Robert Riemann vom ADGB auf. Gleich der erste Satz lässt aufhorchen: „Für uns bedeutet das Verbot des Films der erste Griff des Faschismus nach der Macht.“ Gegen Ende seiner Rede kommt er noch einmal darauf zurück:
„Der Spruch der Oberprüfstelle ist das erste große Zurückweichen gegenüber dem Faschismus! Man darf nur mehr die Filme zeigen, die Hitler und Goebbels genehm sind! Und die Regierung Brüning hat sich diesem Diktat gebeugt. Das Verbot ist aber auch ein Bekenntnis zum Kriege, wie der Film ein Bekenntnis zum Frieden ist.“
Zum Abschluss sagt er noch: „Wir verwahren uns schließlich auch dagegen, daß durch solche Maßnahmen, wie das Verbot des Films, die Reichsverfassung durchlöchert und unwirksam gemacht wird. Denn die Erziehung im Geiste der Völkerversöhnung, die Förderung des inneren und äußeren Friedens ist ein Kernstück der Reichsverfassung! Dagegen wehren wir uns, dagegen kämpfen wir, dagegen erheben wir Protest! (Stürmischer Beifall.)“
Zum Schluss verliest der Leiter der Kundgebung Erich Schilling die Entschließung und lässt darüber abstimmen. Sie wird einstimmig angenommen. Durch Stärkung der antifaschistischen Front erwartet man, dass „in nicht allzu ferner Zeit die faschistische Inflation vorüber sein“ werde.
*Peter Uhrbach, Autor und Wagner-Rechercheur
Es gibt 2 Kommentare
Liebe “Olga”: den Unterschied der Zeiten und damit auch leider Ihre reichlich verquere Sicht auf unsere heutige erkennen Sie unter anderem daran, dass nicht nur Sie, sondern auch so manch anderer Mitmensch ohne Kenntnis diese Inkompetenz dennoch öffentlich äußern können. Sozusagen überall und ständig.
Was traurig ist, bleibt wohl der Umstand, dass Sie sich tatsächlich als “Antifaschistin” verstehen, wenn Sie einheimischen Faschisten und russischen Autokraten hinterher”denken”. Das “postfaktische Zeitalter” lässt grüßen. Und hat Sie schon ziemlich im Griff, wenn Sie einen „woken Faschismus“ erkennen wollen 😉
Danke für den Beitrag zu dem überaus lesenswerten Buch von Erich Maria Remarque (und sehenswerten Verfilmungen). Und leider wiederholen sich Dinge gut 90 Jahre später in ähnlicher Weise. Auch heute werden Filme, Bücher, Veranstaltungen und Meinungen zensiert und friedenspolitische Äußerungen unter Strafe gestellt um die Menschen einzuschüchtern und reif für den Krieg zu machen. Nur was dem Kapital und dem aufkommenden neuen deutschen Faschismus dient – egal ob er ganz traditionell im braunen oder woke im grün/rot/gelben Gewand daherkommt: Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch. Heute weit mehr als noch vor 30 Jahren. Dagegen gilt es die Stimme zu erheben und Widerstand zu organisieren.