Kirchenbauwerke gehรถren zu vielen Ortschaften. Sie sind bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke. Die meisten haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfรคltige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen auch auรŸerhalb von Mitteldeutschland โ€“und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist. 

Wo in Berlins Mitte heute GroรŸstadtverkehr rollt, stand vor mehr als sieben Jahrzehnten eine prachtvolle Kirche: Wo sich die Karl-Marx-Allee und die Otto-Braun-StraรŸe nรถrdlich vom Alexanderplatz kreuzen โ€“ direkt vorm heutigen Haus des Reisens โ€“, kratzte damals der beeindruckende Haupt-Kirchturm der St. Georgenkirche am Himmel.

Die Georgenkirche in der Georgenvorstadt im Berliner Ortsteil Mitte war eine evangelische Kirche. 1689 als neue Pfarrkirche fรผr die Georgen-Vorstadt (ab 1701 Kรถnigstadt) gebaut, entstand 1898 dort das dritte Kirchengebรคude an selber Stelle. Der Kirchturm mit 105 Metern Hรถhe war โ€“ gemeinsam mit der 114 Meter hohen, alten Kuppel des Berliner Doms โ€“ die รผberragende Hรถhendominante im historischen Berlin.

Im Jahr 1278 wurde โ€“ damals weit vor den Toren Berlins โ€“ ein Georgenhospital urkundlich erwรคhnt, in dem Arme und Kranke Hilfe fanden. 1331 wurde eine dazugehรถrige Kapelle genannt. Diese wurde Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem die Einwohnerzahl der Umgebung auf 600โ€“700 Familien angestiegen war, zur Kirche mit einem eigenen Prediger aufgewertet.

1780 wurde das Kirchenschiff von August Gotthilf Naumann zu einer Saalkirche verbreitert und verlรคngert, wobei der alte Kirchturm stehen blieb. Die Finanzierung eines Kirchenneubaus erfolgte dank einer Spendensammelaktion, an der sich viele Gemeindemitglieder und Gewerke beteiligten.

So ist รผberliefert, dass sich die Berliner Glaser-Innung bereit erklรคrte, die Kirchenfenster zu stiften. Der Neubau der Georgenkirche wurde am 29. Oktober 1780 eingeweiht.

Dieses Gotteshaus hatte wenig mehr als 100 Jahre Bestand: 1894 wurde der Bau einer neuen Kirche beschlossen, der nach Plรคnen und unter Leitung des Architekten Johannes Otzen ausgefรผhrt wurde.

Otzen hatte die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg (1888) und die Lutherkirche in Schรถneberg (1894, seit 2002 โ€žAmerican Churchโ€œ) gebaut. Vollendet wurde die dritte Georgenkirche im neogotischen Stil im Jahr 1898. Reiche und farbenprรคchtige Glasmosaiken mit Ornamenten und Symbolen des Christentums sowie Darstellungen der zwรถlf Apostel, ausgefรผhrt von der Firma Puhl & Wagner, schmรผckten die Wรคnde des fรผnfteiligen Chores.

Das aus drei Glocken bestehende Gussstahlgelรคut der Georgenkirche schuf der Bochumer Verein, es war mit Berlins erster elektrischen Lรคute-Anlage versehen. Laut Inventarliste der GieรŸerei kostete das Ensemble aus Glocken mit Klรถppel, Lager, Achsen und Lรคutehebel 24.667,60 Mark.

Sie war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt fรผr Taufe und Konfirmation, fรผr Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit wie auch fรผr den Heimgang Hunderter Bรผrger. Sie war Ort der Gemeinsamkeit fรผr Andacht und Hoffnung, fรผr Zuversicht und Freude, fรผr Trauer und Leid.

Die Georgenkirche mit ihren drei Bau-Varianten diente fรผr rund 250 Jahre Generationen von Christen aus ihrer Nachbarschaft regelmรครŸig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stรคtte festlicher Begegnung.

Im Zweiten Weltkrieg wurde sie bei alliierten Luftangriffen schwer beschรคdigt, der Turm gering versehrt. Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wรผnschten sich die Christen dort ein Wiedererstehen ihrer Kirche.

Es blieb ein frommer Wunsch: Wie viele andere im Zweiten Weltkrieg beschรคdigte Gotteshรคuser im Ostsektor Berlins durfte sie nicht wiederaufgebaut werden. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg plante und beantragte die Sicherung der Georgenkirche.

Jedoch verweigerte Ost-Berlins Magistrat die Genehmigung dafรผr: Eine Kirche mit mehr als hundert Meter Kirchturm an derart zentraler Lage der kรผnftigen Hauptstadt des selbst proklamierten โ€žArbeiter-und-Bauern-Staatsโ€œ war aus Sicht der SED-Stadtplaner zu beseitigen.

Innenansicht mit Altar und Kanzel. Foto: Werbeschrift der Firma Puhl &Wagner, 1899, gemeinfrei 

Die kirchlicherseits folgenden Klagen vor dem Landgericht und dem Kammergericht im Ostsektor von Berlin auf einstweilige Verfรผgung gegen die Sprengung wurden eingereicht โ€“ und abgelehnt. So wurde der Kirchturm der Georgenkirche am 18. Juni 1949 gesprengt โ€“ 51 Jahre nach seiner Vollendung.

Nichts erinnert dort daran, dass in der Achse der RathausstraรŸe (der frรผheren KรถnigsstraรŸe) die evangelische St. Georgenkirche stand: keine Bodenmarkierung, keine Infotafel, nichts. Das Schicksal teilt sie mit vielen Gotteshรคusern Berlins, die nach dem Krieg abgerissen wurden.

Zwischen 2012 und 2015 recherchierte die Forschungsgruppe โ€žVerlorene Gotteshรคuser in der Berliner Mitteโ€œ im Bรผrgerverein Luisenstadt die Geschichte jener verlorenen Kirchen im Stadtzentrum. Ergebnis war die Ausstellung โ€žSt. Nirgendwo! Verlorene Gotteshรคuser in der Berliner Mitteโ€œ: Sie dokumentierte die mehr als zwei Dutzend verlorenen Kirchen und Synagogen.

Der Georgenkirchplatz, auf dem die Georgenkirche stand, lag nordรถstlich vom Alexanderplatz. Auch diesen Platz gibt es nicht mehr โ€“ er musste damals der sozialistischen Neubebauung des Stadtzentrums weichen. An das verlorene evangelische Gotteshaus erinnert lediglich die stark verkรผrzte GeorgenkirchstraรŸe.

Koordinaten: 52ยฐ 31โ€ฒ 20,7โ€ณ N, 13ยฐ 24โ€ฒ 59,2โ€ณ O

Quellen und Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Georgenkirche_(Berlin-Mitte)

https://www.berliner-woche.de/mitte/c-bildung/ausstellung-st-nirgendwo-verlorene-gotteshaeuser-in-der-berliner-mitte-in-der-zionskirche_a171857

https://kkbs.de/blog/24943

https://kirchensprengung.de/kirchensprengung-ostberlin

Anmerkung des Autors

Was ursprรผnglich als lose Folge von zehn bis zwรถlf Beitrรคgen รผber verlorene und umgenutzte Kirchen gedacht war, hat jetzt einjรคhriges Jubilรคum. Sonntag fรผr Sonntag erschien hier eine Folge:

Der erste Beitrag รผber die Markuskirche Leipzig-Reudnitz erschien am 10. Oktober 2021 (bis dato > 1.300 Abrufe), Folge 50 informierte am 18. September 2022 รผber die Trinitatiskirche Leipzig von 1982 (> 1.900 Abrufe), und die grรถรŸte Reichweite fand der Beitrag รผber die Johanneskirche Leipzig (> 5.500 Abrufe). Alle anderen Beitrรคge brachten es meist binnen weniger Tage auf mehrere hundert Klicks.

Mein Dankeschรถn gilt

โ€“ dem Onlineportal l-iz.de der Leipziger Zeitung und insbesondere Redakteur Ralf Julke fรผr die freundliche Unterstรผtzung,

โ€“ den Leserinnen und Lesern dieser Beitrรคge fรผr ihr anhaltendes Interesse an dieser Thematik und

โ€“ den zahlreichen Menschen landauf landab, die mit ihren zusammengetragenen und im Internet zugรคnglich gemachten Informationen und Fotografien via Wikipedia und anderswo sozusagen die Bausteine fรผr diese Kirchenportrรคts bereitgestellt haben.

Die Sonntagskirchen-Serie geht weiter.

Holger Zรผrch, Machern bei Leipzig

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