Im Februar 1988 schrieben Michael Arnold und ich als Jugendliche einer autonomen Gruppe aus Leipzig namens Initiativgruppe Leben einen Brief direkt in den Kreml nach Moskau, gratulierten Gorbatschow zum 57. Geburtstag und formulierten noch ein paar Gedanken: โWir beobachten voller Interesse Ihr Engagement bei der Umgestaltung Ihres Landes. Leider erhalten wir Informationen รผber ihre Auffassung von Politik nur mangelhaft und unvollstรคndig.
Sie decken in Ihrem Land Missstรคnde auf, welche auch bei uns auftreten. Aber gerade diese Kritiken verรถffentlicht man nicht in unseren Zeitungen. Uns interessiert, ob Ihnen diese Tatsachen bekannt sind.โ
Wir stellten in dem Schreiben noch ein paar Fragen nach Pluralismus, den Mรถglichkeiten zivilen Wehrersatzdienstes und Gorbatschows Sicht auf Abrรผstungsmรถglichkeiten. Wir hatten den Brief einer Freundin von Michael Arnolds Frau mitgegeben, die vorhatte, nach Moskau zu fliegen und ihn direkt im Eingang zum Kreml abgeben wollte.
Im Sommer bekamen wir dann รผberraschender Weise eine Einladung zum Gesprรคch vom russischen Konsulat in Leipzig. Das Konsulat lag gleich hinterm Zoo, eine groรe Villa aus Backstein.
Wir gingen in unserer รผblichen Kleidung, mit buntem Halstuch und Jesuslatschen an den Fรผรen zum Empfang des Konsulates und wurden mit den Worten empfangen. โSie werden erwartet.โ Dann saรen wir, bei Keksen und Tee, eine Stunde lang auf dem Sofa mit dem Vertreter des Konsuls zusammen und redeten รผber Politik.
Der Diplomat brachte seine Freude รผber das Engagement der jungen Leipziger zum Ausdruck, am Ende drรผckte er uns die Hรคnde und sagte freundlich: โWir wollen in Kontakt bleiben.โ
Wir wussten beide, dass das nicht sehr viel bedeutete, aber immerhin. Die Stasi sollte ruhig wissen, dass wir den Kontakt zu den Freunden schรคtzten, seitdem in Moskau ein neuer Wind wehte.
Die Losung der DDR โVon der Sowjetunion lernen heiรt siegen lernenโ bekam fรผr uns in dieser Zeit eine ganz neue Dimension und wir benutzten sie gegenรผber Genossen immer wieder gerne um sie zu รคrgern.
Auch wenn wir nach Berlin zu Treffen in die Umweltbibliothek fuhren, gingen wir auch immer unter Beobachtung der Stasi zum russischen Kulturzentrum, um die neuesten Broschรผren mit den รbersetzungen der Reden von Gorbatschow abzuholen.
Die neue Politik von Perestroika und Glasnost gab uns, die aktiv im Widerstand waren, eine gewisse Sicherheit, dass nicht wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR erneut russische Panzer durch Berlin rollen werden, um einen Aufstand blutig niederzuwalzen.
Honecker war die von Gorbatschow praktizierte Politik von Glasnost und Perestroika ausgesprochen suspekt und sein Chefideologie-Sekretรคr Kurt Hager brachte es in einem Interview 1987 auf den Punkt, indem er sagte: โWรผrden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fรผhlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?โ Damit war fรผr uns klar, dass vonseiten dieser Stalinistischen Ideologen in der DDR nichts zu erwarten war.
Die meisten in Ostdeutschland verehren heute Gorbatschow als einen, der die Wiedervereinigung Deutschlands erst ermรถglichte. Vergessen wird dabei oft, dass die Sowjetunion vor dem wirtschaftlichen Ruin stand und dass es eine immer stรคrkere Widerstands-Oppositions- und Ausreisebewegung in der DDR gab, die letztendlich die DDR zum Einsturz brachte.
Anders sieht es schon in den Baltischen Lรคndern in der Ukraine und Polen aus, dort sieht man Gorbatschow sehr kritisch. Gorbatschow versuchte noch im Januar 1991 die Sowjetunion gewaltsam zu retten. Sowjetische Soldaten tรถteten am โBlutsonntag von Wilnaโ 14 Demonstranten und verletzten mehr als 600.
Der Friedensnobelpreistrรคger wollte Litauen in die Knie zwingen. Vorausgegangen war, dass die drei Baltischen Staaten am 11. Mรคrz 1990 ihre staatliche Unabhรคngigkeit erklรคrten.
Wie immer in der Geschichte gibt es kein schwarz und weiร und auch Helden haben oft ihre hellen und dunklen Seiten. Heldenmythen tragen oft nicht zur historischen Aufklรคrung bei.
*Uwe Schwabe (Bรผrgerrechtler/Vorstandsvorsitzender Archiv Bรผrgerbewegung Leipzig e. V.)
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