Kirchenbauwerke gehören in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfältige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen – und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.
Die Erlöserkirche war die Kirche der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde böhmischer Exulanten in Dresden. Exulanten hießen die zumeist protestantischen Glaubensflüchtlinge, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wegen ihres religiösen Bekenntnisses aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Die Kirche stand an der Paul-Gerhardt-Straße/Wittenberger Straße im Dresdner Stadtteil Striesen. Sie entstand von 1878 bis 1880 nach Plänen von Gotthilf Ludwig Möckel im Stil der Neogotik.
Die Kirche wurde 1945 bei den Luftangriffen auf Dresden zerstört. Die beschädigte Kirche wurde für Freiluft-Gottesdienste hergerichtet, dennoch wurde sie aufgrund politisch motivierter Anweisung Dresdner Behörden 1961/62 abgerissen. Ein Teil ihres Grundstücks ist heute eine Grünfläche, auf einem anderen Teil stehen Wohnhäuser. Teile der Einrichtung und des bildhauerischen Schmucks konnten vor dem Abriss gerettet werden.
Für den Bau einer eigenen Kirche setzten sich vor allem die in Striesen lebenden böhmischen Exulanten ein – und auch Christen von Striesen, die bis dahin zur Kreuzkirche gehörten. Die evangelisch-lutherische Religionsgemeinschaft der Exulanten war ursprünglich in Prag zu Hause, jedoch mussten während des Dreißigjährigen Krieges etwa 30.000 böhmische Protestanten wegen ihres Glaubens aus ihrer Heimat nach Sachsen fliehen.
Seit dem Abriss der Johanniskirche im Jahr 1861 hatten die rund 3.000 in Dresden lebenden böhmischen Exulanten keine eigene Kirche mehr. Nach einem Wettbewerb erhielt der Architekt Gotthilf Ludwig Möckel 1878 den Auftrag zur Projektbearbeitung – obwohl das Architekturbüro Giese & Weidner den ersten Preis gewonnen hatte. Ausschlaggebend war Möckels kostengünstigeres Angebot und die Aussicht auf 40 zusätzliche Sitzplätze (840 statt wie vorgegeben 800 Plätze).
Der Architekt entwarf eine dreischiffige Hallenkirche mit fast quadratischem Grundriss und polygonalem Chor sowie Emporen-Einbauten in den Seitenschiffen. Der Entwurf war in frühgotischen Formen gehalten, die Möckel jedoch im Vergleich zur früher errichteten Johanneskirche grober gestaltet hatte.
Das Kirchendach war mit gestaffelten und kombinierten Walm- und Satteldächern aufgelockert. Auch gab es kleine Dachgauben, schmiedeeiserne Schmuckformen im Dachbereich und das Portalgiebel-Relief „Lamm mit der Siegesfahne“. Vor die breite Halle setzte Möckel den wuchtigen, 60 Meter hohen Kirchturm mit Vorhalle. Die Fenster und Portale waren im hochgotischen Stil gestaltet.
Das Innere hatte Pfeiler und Kreuzgratgewölbe. Als oberer Abschluss des Kirchturms war ein in Spitzbogenstellung geöffnetes Glockengeschoss mit Umgang zu sehen. Darauf ruhte ein hoher, mit Schiefer verkleideter Turmhelm, der nach allen Seiten gleichseitige Dreiecksgiebel trug. Für die Fassade entstanden Sandsteinfiguren der vier Evangelisten.
Die bescheidener ausgeführte Ausschmückung entsprach den äußerst geringen Mitteln, die die Kirchgemeinde aufbringen konnte: Die Baukosten betrugen 168.000 Mark. Die Orgel mit 24 Registern war ein Werk der Orgelbaufirma Schubert aus Freiberg, die drei Glocken schuf die Glockengießerei J. G. Große.
Am 9. Oktober 1878, dem Tag der Grundsteinlegung, begann an der Wittenberger / Ecke Paul-Gerhardt-Straße der Bau der Erlöserkirche, sie wurde am 20. Juni 1880 geweiht. Ihren Namen erhielt sie nach der Prager „Mutterkirche“ der Exulanten.
Die Kirche wurde zunächst von der evangelischen Gemeinde und der böhmischen Exulantengemeinde gemeinsam genutzt, wobei beide Pfarrer abwechselnd die Predigten hielten, bis beide Gemeinden sich vereinigten. 1897 und 1909 wurde der Innenraum umgestaltet und erneuert.
Die ursprünglichen Bronzeglocken mussten im Ersten Weltkrieg als sogenannte „Metallspende“ abgegeben werden und wurden für Rüstungszwecke eingeschmolzen. Sie wurden 1920 von einem Stahlglockengeläut ersetzt; 1933 ausgetauscht gegen Bronzeglocken.
Am 13. Februar 1945 wurde die Kirche stark beschädigt. Ab Mai 1945 konnte die Gemeinde in der wenig beschädigten katholischen Herz-Jesu-Kirche evangelische Gottesdienste feiern. Die Grundmauern und der Turmstumpf ihrer eigenen Kirche waren erhalten geblieben, sie dienten in der warmen Jahreszeit als Raum für Gottesdienste unter freiem Himmel.
Das Areal wurde zu vielen Anlässen wie Andachten, Jubelkonfirmationen oder Gemeindefesten intensiv genutzt. So feierte Dresdens Exulantengemeinde am Gründonnerstag, dem 6. April 1950, ihr 300-jähriges Bestehen. Kontakte zur „Mutterkirche“ der Exulanten, der Prager Salvatorkirche, konnten in den 1950er Jahren wieder geknüpft werden. Unter schwierigen Bedingungen fanden gegenseitige Besuche statt.
Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wĂĽnschten sich die Christen dort ein Wiedererstehen ihrer Kirche. Es blieb ein frommer Wunsch.
Das Stadtbauamt beanspruchte per Bescheid vom 1. Dezember 1959 vier kirchliche Grundstücke der Andreas-Erlöser-Gemeinde für Wohnungsbau – nach Paragraph 14 des Aufbaugesetzes der DDR vom 6. September 1950.
Auf einem der vier beanspruchten Grundstücke stand die Erlöserkirche, auf dem zweiten das zerstörte Kirchgemeindehaus und auf dem dritten das zerstörte Pfarrhaus.
Superintendent Gerhart Wendelin protestierte energisch, die Kirchenruine sei ein „Kulturdenkmal besonderer Art“: Die Erlöserkirche sei von den Nachkommen der Lutheraner erbaut und in Prag verfolgt worden, sodass sie 1639 flüchten mussten. Die Kirche sei somit ein bauliches Zeugnis der Gemeinde böhmischer Exulanten, weshalb die Verbindung erhalten blieb.
Damit sei sie auch gleichzeitig ein „lebendiges Zeugnis deutsch-tschechischer Freundschaft“. Zudem seien bei den Freiluft-Gottesdiensten Delegationen aus der ČSR zu Gast gewesen. Dresdens Stadtverwaltung blieb gleichermaßen unbeeindruckt und kompromisslos – die Erlöserkirche wurde im Winter 1961/62 abgerissen.
Diese Kirche diente Generationen von Exulanten in Dresden regelmäßig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stätte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt für Taufe und Konfirmation, für Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit und für den Heimgang Hunderter Bürger.
Sie war Ort der Gemeinsamkeit für Andacht und Hoffnung, für Zuversicht und Freude, für Trauer und Leid. Die städtischen Wohnhäuser wurden einige Jahre später gebaut. Sakrale Gegenstände und Dokumente aus der Kirche, die gerettet worden waren, gelangten im Januar 2000 in eine Stiftung.
Von der Kirchturmfassade wurden vier Apostelstatuen und das Reliefmedaillon mit dem Lamm Gottes gerettet. Sie wurden schlieĂźlich an der Friedhofskapelle Striesen aufgestellt.
Die am Stephanienplatz gelegene Andreaskirche hatte das gleiche Schicksal wie die Erlöserkirche: Das beschädigte Gotteshaus wurde ebenfalls abgerissen. Die beiden dezimierten Gemeinden wurden zur Erlöser-Andreas-Gemeinde.
Am 22. September 1957 wurde das neu aufgebaute Gemeindehaus mit Kirchensaal in der Haydnstraße 23 geweiht, das eine Glocke der alten Andreaskirche erhielt. Bei der künstlerisch-religiösen Gestaltung des neuen Kirchsaals im Gemeindehaus und der wieder hergestellten Friedhofskapelle war der Bildhauer Rolf Schulze prägend.
Als die Zahl der Gemeindeglieder der Exulantengemeinde stetig abnahm, wurde aufgrund alter Statuten die Gemeinde der Böhmischen Exulanten nicht mehr handlungsfähig. Mit der Fusion der Kirchgemeinden Erlöser-, Andreas- und Trinitatiskirchgemeinde zur „Johanneskirchgemeinde Dresden-Johannstadt-Striesen“ folgte deren Aufhebung: Am 1. Januar 2000 ist Dresdens Böhmische Exulantengemeinde erloschen.
Koordinaten: 51° 3′ 3,7″ N, 13° 46′ 55″ O
Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Erl%C3%B6serkirche_(Dresden)
https://www.dresden.de/media/pdf/denkmal/verlorene-kirchen-2018_web.pdf
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