Kirchenbauwerke gehรถren in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfรคltige Bedeutung.

Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen โ€“ und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.

Die Deutsch-reformierte Kirche war ein Kirchengebรคude in Magdeburg am Kaiser-Otto-Ring, heute Ecke Lรผneburger StraรŸe/Henning-von-Tresckow-StraรŸe.

Brandenburg-PreuรŸen verschaffte die Aufwertung

Im Erzstift Magdeburg war im 16. Jahrhundert Luthers Reformation eingefรผhrt worden, aufgrund der Zuwanderungen aus den Niederlanden und dem Westen Deutschlands bildeten sich auch kleine reformierte (calvinische) Gemeinden. 1680 kam das Gebiet des Erzstifts an Brandenburg-PreuรŸen, dessen Herrscherhaus seit 1613 calvinisch war.

Das bedeutete fรผr die reformierte Minderheit โ€“ in Magdeburg die โ€žwallonischeโ€œ (franzรถsischsprachige) und die โ€ždeutscheโ€œ โ€“ eine gesellschaftliche Aufwertung und รถffentliche Wahrnehmung. Die wallonisch-reformierte Gemeinde erhielt 1690/1694 die ehemalige Augustiner-Klosterkirche, heute Wallonerkirche.

Andrang bei der Kirchweihe

Die deutsch-reformierte Gemeinde hatte zunรคchst in der Gangolfi-Kapelle am Domplatz ihr Zuhause. Fรผr sie wurde ab 1693 die 1631 ausgebrannte ehemalige Dominikanerkirche St. Pauli am Breiten Weg wiederhergestellt, 1698 รผbergeben und 1700 eingeweiht. Der spรคtere General des nordamerikanischen Unabhรคngigkeitskrieges, Friedrich Wilhelm von Steuben (1730โ€“1794), und Lรผtzows Adjutant Karl Friedrich Friesen (1784โ€“1814) wurden dort getauft.

Zu dieser Gemeinde gehรถrten ab 1692 Reformierte, die seit 1666 als Mitarbeiter und Mitglieder des brandenburgisch-kurfรผrstlichen Hofes in Magdeburg ansรคssig waren, und die Deutschen der โ€žPfรคlzer Kolonieโ€œ, also 1689 aus der Pfalz vertriebene Reformierte. Die 1821 neu geweihte Kirche wurde 1890 an die Post verkauft, die sie 1895 fรผr die geplante neue Zentralpost abriss.

Grundsteinlegung der neuen deutsch-reformierten Kirche war am 10. Juli 1896. Die Bauleitung hatte Stadtbauinspektor Emil Jaehn. Zur Kirchweihe am 31. Januar 1899 herrschte groรŸe Nachfrage, es mussten daher Eintrittskarten ausgegeben werden.

Kronleuchter als Symbol des himmlischen Jerusalem

Die in Sandstein gearbeitete, neogotische Kirche hatte folgende MaรŸe: Kirchturmhรถhe 72 Meter, Dachhรถhe 28,5 Meter, Lรคnge 43 Meter, Breite 30,5 Meter, grรถรŸte Gewรถlbehรถhe 21 Meter, grรถรŸte Hรถhe der Emporenwรถlbung 4,5 Meter, diagonale Spannweite der Pfeiler des Schiffes 18 Meter, Breite und Tiefe des Kirchenschiffs jeweils 25 Meter. Das Hauptportal war im westseitigen Kirchturm, es gab fรผnf Seiteneingรคnge.

Deutsch-reformierte Kirche Magdeburg, nach 1899. Foto gemeinfrei, TU Architekturmuseum Inv.-Nr. F 0586, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St._Pauli_(Deutsch_Reformierte_Kirche),_Magdeburg,_Turmfront.jpg
Deutsch-reformierte Kirche Magdeburg, nach 1899. Foto gemeinfrei, TU Architekturmuseum Inv.-Nr. F 0586, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St._Pauli_(Deutsch_Reformierte_Kirche),_Magdeburg,_Turmfront.jpg

Die Emporenbrรผstung umschloss als konzentrisches Zwรถlfeck den Innenraum, darรผber die Gewรถlbekuppel. Die Westempore bot Platz fรผr Chor und Orchester und hatte drei farbige, mit Blumenornamenten verzierte Fenster. In der Hauptachse waren Abendmahltisch, Marmor-Kanzel und Orgel angeordnet. Neben den Bankreihen auf der Westempore gruppierten sich auf der Nord- und Sรผdempore Familienlogen. Der von Jaehn entworfene Kronleuchter symbolisierte das himmlische Jerusalem mit seinen zwรถlf Toren.

Massive Kriegsschรคden โ€“ und fรผr die Sozialisten ein Stรถrfaktor

Die Kirche wurde beim Luftangriff auf Magdeburg am 16. Januar 1945 schwer beschรคdigt. Das Gotteshaus diente Dutzenden Generationen von Magdeburgern regelmรครŸig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stรคtte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt fรผr Taufe und Konfirmation, fรผr Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit und fรผr den Heimgang Hunderter Bรผrger. Sie war Ort der Gemeinsamkeit fรผr Andacht und Hoffnung, fรผr Zuversicht und Freude, fรผr Trauer und Leid.

Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wรผnschten sich die deutsch-refomierten Christen dort das Wiedererstehen ihrer Kirche. Es blieb ein frommer Wunsch: Beim Neuaufbau als Bezirksstadt der DDR galt das Gotteshaus den SED-Ideologen als stรถrendes Element.

โ€žDie meisten Kirchen hรคtten gerettet werden kรถnnenโ€œ

โ€žDie meisten Kirchen hรคtten gerettet werden kรถnnenโ€œ, sagte Christian Halbrock, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten fรผr die Stasi-Unterlagen in Berlin, im Jahr 2018 laut Kirchenzeitung โ€žGlaube und Heimatโ€œ. Doch das widersprach den SED-Plรคnen zur sozialistischen Umgestaltung von DDR-Bezirksstรคdten nach dem Vorbild der Sowjetunion โ€“ etwa mit mehrspurigen Magistralen fรผr Aufmรคrsche.

Zudem: โ€žKirchengebรคude und das Wรคchteramt der Kirchen stรถrten bei der Umerziehung zum โ€šneuen Menschenโ€˜ โ€œ. Wenn eine Stadt in der DDR Bezirksstadt wurde, bedeutete dies das politisch erzwungene Aus fรผr zahlreiche historische Bauwerke verschiedenster Art.

1955, zehn Jahre nach Kriegsende, wurde sie gesprengt. Steine des Gotteshauses wurden beim Bau der katholischen St.-Andreas-Kirche im Stadteil Cracau verwendet.

Koordinaten: 52ยฐ 8โ€ฒ 29,6โ€ณ N, 11ยฐ 38โ€ฒ 26,3โ€ณ O

Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-reformierte_Kirche_(Magdeburg)
https://www.ekm-reformiert.de/ueber-uns-magdeburg/
https://www.ek-md.de/kulturtourismus/kulturtourismus-verlorenekirche.html

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