Kirchenbauwerke gehรถren in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfรคltige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen โ und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.
Sie war Magdeburgs zweitรคlteste Pfarrkirche โ und ein zentrales Wahrzeichen der Altstadt: die St.-Ulrich-und-Levin-Kirche, auch kurz Ulrichskirche genannt.
Um 1022 wurde Magdeburgs St.-Ulrichs-Gemeinde erstmals erwรคhnt, deren Kirche erstand vermutlich im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts. Die Kirchengrรผndung stand mit groรer Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Bau der Geroschen Stadtmauer zwischen 1012 und 1023, Namenspatron war Bischof Ulrich von Augsburg. Der erste Bau war eine Holz- oder Fachwerkkirche mit Fundamenten und Turmgeschossen aus Stein.
Beim Stadtbrand 1188 brannte auch die Ulrichskirche nieder. Nach dem Wiederaufbau wurde sie auch dem Heiligen Levin geweiht, der hauptsรคchlich in Flandern verehrt wurde. Der Grund: Flandrische Kaufleute waren in die Region Magdeburg eingewandert, und in der Kirchgemeinde hatten diese wohlhabenden Personen groรen Einfluss. Die erste urkundliche Erwรคhnung des offiziellen doppelten Kirchennamens stammt von 1464.
Die wiederaufgebaute Kirche entstand auf den Fundamenten des Vorgรคngerbaus โ als eine einschiffige Saalkirche mit zwei aus Stein errichteten Tรผrmen. Aus dieser Bauphase stammten die bis 1956 bestehenden unteren drei Turmgeschosse.
Eine besondere Rolle spielte die Kirche bei der Reformation: Im September 1524 wurde Nikolaus von Amsdorf, ein enger Vertrauter Martin Luthers, Prediger an Sankt Ulrich und Superintendent von Magdeburg; er trieb die Reformation in der Stadt voran. Nach der Besetzung Wittenbergs von kaiserlichen katholischen Truppen 1547 flohen viele Gelehrte der Universitรคt Wittenberg nach Magdeburg. Dort verfassten sie Hunderte Streitschriften gegen den Kaiser und fรผr den Protestantismus โ aus dieser Zeit stammt Magdeburgs Beiname โUnseres Herrgotts Kanzleiโ.
Bei der Zerstรถrung der Stadt im Dreiรigjรคhrigen Krieg wurde auch die Ulrichskirche beschรคdigt und von 1648 bis 1656 wieder aufgebaut. Orgelbauer Arp Schnitger schuf 1699 seine Orgel fรผr die Kirche.
Am 9. Juni 1861 lรถste ein Blitzschlag ein Feuer aus. Das Dach, die beiden Tรผrme und ein Teil des Gewรถlbes in der Nรคhe der Tรผrme wurden zerstรถrt oder stark beschรคdigt. Das Kircheninnere erlitt kaum Schรคden โ so konnte am 14. Juli 1861 wieder Gottesdienst gefeiert werden. Der Wiederaufbau dauerte bis 1866, dabei wurden die beiden Tรผrme neogotisch umgestaltet.

Beim Luftangriff auf Magdeburg am 16. Januar 1945 blieben die charakteristischen Doppeltรผrme und die Westfassade komplett erhalten. Dach und Gewรถlbe stรผrzten ein, die Auรenwรคnde und die gotischen Pfeiler blieben stehen.
Die Kirche diente Dutzenden Generationen von Magdeburgern regelmรครig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stรคtte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt fรผr Taufe und Konfirmation, fรผr Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit und fรผr den Heimgang Hunderter Bรผrger. Sie war Ort der Gemeinsamkeit fรผr Andacht und Hoffnung, fรผr Zuversicht und Freude, fรผr Trauer und Leid.
Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wรผnschten sich die Christen dort ein Wiedererstehen ihrer Kirche. Es blieb ein frommer Wunsch: Beim Neuaufbau als der Stadt der DDR, der im Sinne der SED-Ideologie bewusst mit der bisherigen Stadtgestaltung brach, wurde die Ulrichskirche als stรถrendes Element gesehen. Am 5. April 1956 wurde sie gesprengt, das freigewordene Areal begrรผnt.
Damit verlor Magdeburg ein Gebรคude, das Stadtbild und Stadtgeschichte wesentlich mitgeprรคgt hatte. 1959 wurden zwei sรคkularisierte Kirchen abgerissen und drei weitere Kirchen gesprengt: Sankt Jakobi (ausgebrannt, Tรผrme und Umfassungsmauern zu groรen Teilen intakt), Martinskirche und Heilige-Geist-Kirche (Sankt Spiritus: 1948 bis 1950 wiederaufgebaut, wurde genutzt). Am 20. Oktober 1960 wurde die Franzรถsisch-Reformierte-Kirche gesprengt und 1964 das Kirchenschiff Sankt Katharinen.
Nach der Deutschen Einheit 1990 wurde das รถstlich gelegene Gebiet neu bebaut. Das dort errichtete Gebรคude erhielt in Erinnerung an die Kirche den Namen โUlrichshausโ. Das Gelรคnde, auf dem die Kirche stand, heiรt seit 1998 โUlrichplatzโ.
Am 31. Oktober 2007 grรผndete sich das Kuratorium zum Wiederaufbau der Ulrichskirche. Es hatte sich das Sammeln von Spenden zum Ziel gesetzt โ und die Wiedererรถffnung des Gotteshauses als โDokumentationszentrum des Protestantismusโ zum 31. Oktober 2017, dem 500. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag, als Ziel.
Oberbรผrgermeister Lutz Trรผmper beantragte im April 2010 im Stadtrat, einen Bรผrgerentscheid zum Wiederaufbau der Ulrichskirche zu initiieren; der Antrag verfehlte die notwendige Zweidrittelmehrheit. Magdeburgs Stadtrat signalisierte am 24. Juni 2010, das Vorhaben des Kuratoriums zu unterstรผtzen und das Grundstรผck bis 2017 fรผr den Wiederaufbau der Ulrichskirche freizuhalten.
Daraufhin sammelte eine Bรผrgerinitiative mehr als 13.000 Unterschriften, um doch einen Bรผrgerentscheid zu diesem Thema zu erreichen โ รผberwiegend mit der Motivation, so den Wiederaufbau zu verhindern. Der Bรผrgerentscheid am 20. Mรคrz 2011 hatte eine Wahlbeteiligung von 56,3 Prozent, dabei stimmten 76 % der Wรคhler gegen den Wiederaufbau.
Ausstattungsstรผcke der Ulrichskirche sind heute an verschiedenen Stellen in Magdeburg zu finden. So ist etwa das Uhrwerk der Turmuhr von 1880, am 3. April 1956 ausgebaut, seit 2016 im Jahrtausendturm in Magdeburgs Elbauenpark zu Hause.
Teile der gesprengten Kirche wurden bei der Errichtung von Bauten des Magdeburger Zoos verbaut. Nach dem Abriss solcher Bauten wurden Sรคulenteile, Kapitelle und Sandstein-Einfassungen der gesprengten Kirche geborgen und aufbewahrt.
Die Fundamente der Ulrichskirche liegen unter einem Blumenbeet am Nordrand der dortigen Grรผnflรคche. Die Nordfassade schloss in etwa mit dem Fuรweg der Ernst-Reuter-Allee ab, die Ostfassade stand gegenรผber dem heutigen Bronzemodell und der Gaststรคtte โAlexโ. An der Stelle der West- und Sรผdfassade wรคchst heutzutage Rasen.
Koordinaten: 52ยฐ 7โฒ 50,6โณ N, 11ยฐ 38โฒ 3,1โณ O
Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/St.-Ulrich-und-Levin-Kirche
https://ulrichskirche.de/home
https://buergerentscheid-magdeburg.de
https://www.volksstimme.de/lokal/magdeburg/magdeburger-stadtrate-wollen-reste-der-ulrichskirche-ausgraben-lassen-3165981
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