Kirchenbauwerke gehรถren in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfรคltige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen โ€“ und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.

Die Lutherkirche war eine evangelische Kirche in der Friedrichstadt, Magdeburgs jetzigem Stadtteil Brรผckfeld: PreuรŸens Kรถnig Friedrich Wilhelm II. schenkte sie am 8. Mai 1798 der Kirchgemeinde, Standort war der Heumarkt nahe der heutigen Anna-Ebert-Brรผcke. 1820 steuerte die Stadt eine Orgel als Geschenk bei, 1822 wurde eine Kirchenglocke angeschafft und 1824 die Turmuhr.

Da die Einwohnerzahl und damit auch die Zahl der Glรคubigen wuchsen, wurde sie bald zu eng. 1847 wandte sich die Kirchgemeinde mit dem Anliegen, ein neues Gotteshaus zu bauen, an die preuรŸische Regierung; der Neubau wurde am 4. November 1865 bewilligt.

Die Grundsteinlegung erfolgte 1880. Es entstand ein neogotischer Backsteinbau mit vier Jochen im Stil norddeutscher Backsteingotik, der Ostgiebel war nach bรผrgerlicher Hanse-Architektur gestaltet. Das neue Kirchengebรคude wurde 1882 geweiht. Fรผnfzehn Jahre spรคter, am 22. Januar 1897, erhielt es den offiziellen Namen Lutherkirche โ€“ genehmigt vom Kรถnig am 12. April 1896.

Magdeburg hat dieses Lutherdenkmal, doch die Lutherkirche wurde 1951 aus dem Stadtbild radiert. Foto Andrzej Otrฤ™bski, CC BY-SA 4.0, https https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magdeburg_pomnik_Lutra.jpg
Magdeburg hat dieses Lutherdenkmal, doch die Lutherkirche wurde 1951 aus dem Stadtbild radiert.
Foto Andrzej Otrฤ™bski, CC BY-SA 4.0, https https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magdeburg_pomnik_Lutra.jpg

Die Kirche diente Generationen regelmรครŸig zum Gottesdienst sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stรคtte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter, heimatlicher Ort fรผr Taufe und Konfirmation, fรผr Trauung und Heimgang Hunderter Bรผrger von Magdeburg. Sie war Stรคtte der Gemeinsamkeit fรผr Hoffnung, Zuversicht und Freude, fรผr Trauer und Leid.

Am 21. Januar 1944 wurde die Kirche beim britischen Luftangriff schwer getroffen und beschรคdigt. Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wรผnschten sich die Christen in Magdeburg das Wiedererstehen ihrer Kirche.

Es blieb ein frommer Wunsch. 1951 folgte der Abriss der teilzerstรถrten Lutherkirche. Bei dieser Entscheidung gab es politischen Druck: Der Kirchgemeinde wurde zum Ausgleich ein anderes Grundstรผck zugewiesen โ€“ ein klarer Hinweis fรผr die damalige staatliche Einflussnahme auf das Kirchen-Aus.

Hinzu kam: Auf dem Ausgleichsgelรคnde waren irgendwelche kirchliche Aktivitรคten oder gar ein Kirchenneubau vรถllig unmรถglich: Besitzer dieses Grundstรผcks war die Rote Armee der Besatzungsmacht Sowjetunion โ€“ was in Magdeburgs Rathaus selbstverstรคndlich bekannt war.

Die abgefeimte Zwangs-Zuweisung des de facto nicht nutzbaren Grundstรผcks โ€“ sie war eine bis dato beispiellose Selbst-Demaskierung der SED-Staatslenker: Nur selten traten deren tatsรคchliche Denkweise und deren machtkalter Umgang mit dem Thema Kirche im selbsternannten Arbeiter-und-Bauern-Staat so ungeschminkt zutage.

Doch selbst solche Vorgehensweise war in der DDR noch steigerungsfรคhig: In Karl-Marx-Stadt informierte am 27. Februar 1961 das Stadtbauamt, das Kirchen-Grundstรผck der St.-Pauli-Kirche werde โ€žfรผr den Bau von achtgeschossigen Wohnblรถcken in Anspruch genommenโ€œ. Gegen das sogenannte โ€žAufbaugesetzโ€œ der DDR war kein juristischer Widerspruch zulรคssig. Zugleich wurde die Grundstรผcks-Enteignung verfรผgt โ€“ rรผckwirkend zum 1. Januar 1961.

รœbrigens: Die Rote Armee nutzte jenes Grundstรผck in Magdeburg noch mehr als vier Jahrzehnte โ€“ bis zum Abzug der sowjetischen Truppen aus dem wiedervereinigten Deutschland 1994.

Die Kirchgemeinde โ€“ seit 1986 unter dem Namen Trinitatisgemeinde mit Magdeburgs St. Johannisgemeinde vereint โ€“ nutzte fortan das Gemeindehaus โ€žIda-Hubbe-Stiftโ€œ als Ort ihrer Gottesdienste.

Weitere Kirchen fielen in Magdeburgs Innenstadt der SED-Stรคdtebaupolitik zum Opfer. Bis 1964 wurden in Magdeburg auรŸer der Lutherkirche folgende Kirchen gesprengt und abgerissen: Heilig-Geist-Kirche, St. Ulrich und Levin, St. Katharinen, St. Jakobi, die Martinskirche, die Deutsch-Reformierte und die Franzรถsisch-Reformierte Kirche sowie die zwei sรคkularisierten Kirchen Zeughaus, einst St. Nikolai, und die Evangelische Schule, einst Franziskanerkloster.

โ€žDie meisten Kirchen hรคtten gerettet werden kรถnnenโ€œ, sagte Christian Halbrock, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten fรผr die Stasi-Unterlagen in Berlin, im Jahr 2018 laut Kirchenzeitung โ€žGlaube und Heimatโ€œ. Doch das widersprach den SED-Plรคnen zur sozialistischen Umgestaltung von DDR-Bezirksstรคdten nach dem Vorbild der Sowjetunion โ€“ etwa mit mehrspurigen Magistralen fรผr Aufmรคrsche.

Zudem: โ€žKirchengebรคude und das Wรคchteramt der Kirchen stรถrten bei der Umerziehung zum โ€šneuen Menschenโ€˜โ€œ. Wenn eine Stadt in der DDR Bezirksstadt wurde, bedeutete dies das politisch erzwungene Aus fรผr zahlreiche historische Bauwerke verschiedenster Art.

Heute ist in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt der Standort der Lutherkirche nicht mehr zu erkennen: Zur DDR-Zeit wurden darauf Plattenbauten errichtet. Wohl wenigen Mietern dรผrfte bekannt sein, auf welchem historischen Grund und Boden ihr Wohnhaus steht.

Koordinaten:  52ยฐ 7โ€ฒ 40,9โ€ณ N, 11ยฐ 39โ€ฒ 24,2โ€ณ O

Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherkirche_(Magdeburg)
https://www.ek-md.de/kulturtourismus/kulturtourismus-verlorenekirche.html (mit historischem Foto der Kirche)
https://www.meine-kirchenzeitung.de/magdeburg/c-kirche-vor-ort/gesprengte-hoffnung_a5531
https://www.trinitatis-gemeinde.de/index.php/ueber-uns

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