Ob die Anschläge vor mehr als 20 Jahren in den Vereinigten Staaten tatsächlich eine historische Zäsur darstellten, ist gar nicht so einfach zu sagen und wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Der Versuch einer Annäherung.
Mein inzwischen verstorbener Vater, ein am Weltgeschehen interessierter Mensch und begeisterter Hobbyfotograf, pflegte die Leidenschaft, das Leben unserer Familie in bebilderten Alben zu dokumentieren – und dabei auch das Zeitgeschehen um uns herum durch eingeklebte Zeitungsartikel und eigene Kommentare mit aufzufangen.
In einem Album, wenige Tage nach dem 11. September 2001, schrieb er: „Eine neue Zeit ist gekommen. Niemand weiß, was sie mit sich bringt. Doch ahnt man, dass nicht viel Gutes dabei sein wird.”
„Nichts wird mehr so sein wie vorher“
Eine Einschätzung, mit der er nicht allein stand. Im Gegenteil. Die Bilder zweier entführter Passagiermaschinen, die in die New Yorker Zwillingstürme rasten und die Symbole amerikanischer Wirtschaftsmacht zum Kollaps brachten, haben sich tief ins Gedächtnis der Menschen gebrannt – und den Eindruck beflügelt, einem Wendepunkt der Geschichte beizuwohnen. „Nichts wird mehr so sein wie vorher“ – ein Satz, der vor zwanzig Jahren fast inflationär fiel.
Es soll hier nicht darum gehen, die furchtbaren Ereignisse mit fast 3.000 Todesopfern und tausenden Verletzten im Ablauf zu rekapitulieren. Genauso wenig setzt sich der Text mit den Verschwörungsmythen auseinander, die den islamistischen Terrorangriff von Al Quaida an 9/11 noch immer für ein konspiratives Teufelswerk der US-Regierung oder ihrer Geheimdienste halten – trotz manch offener Fragen gibt es dafür keinerlei Belege.
Doch die letzten zwanzig Jahre und der desaströs verlaufene Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan vor wenigen Wochen, der wohl ohne 9/11 nicht geschehen wäre, könnten Anlass sein, mal über ein paar in der Wissenschaft strittige Fragen nachzudenken: Was macht eine historische Zäsur aus? Zählen die Anschläge in den USA am 11. September 2001 dazu? Und wenn nicht, wie erklärt man die Diskrepanz zwischen zeitgenössischer Wahrnehmung und dem Urteil von Historikern? Dazu ein paar Gedanken-Impulse.
Zäsuren gab es einige
Aus der ursprünglichen Bedeutung „das Hauen, Fällen, Einschneiden“ abgeleitet, bezeichnet das Wort Zäsur eine Pause in einer Verszeile und wird gemeinhin im Sinne eines tiefgreifenden Einschnitts verwendet, der die Dinge in eine völlig neue Richtung lenkt.
Die moderne Geschichtsschreibung teilt die Jahrhunderte in Epochen – sinnvolle Einheiten, die sich voneinander abgrenzen lassen, zumal kleinere Happen besser aufzunehmen und zu verdauen sind. Eine historische Zäsur geht ihrem Wesen nach jedoch darüber hinaus. Sie ist ein klarer, sichtbarer Bruch in der zeitlichen Entwicklung, der weitreichende Folgen mit sich bringt.
Als Beispiele gelten im 20. Jahrhundert beispielsweise die russische Oktoberrevolution, Anfang und Ende der Weltkriege und die Revolution in der DDR, die zur Wiedervereinigung führte. Auch die Machtübernahme von Faschisten in Italien und Nationalsozialisten in Deutschland werden oft genannt – und, im deutschen Kontext, die doppelte Staatsgründung mit Bundesrepublik und DDR. Doch zählt der 11. September auch in diese Reihe?
Vorher und Nachher – ein ungleiches Paar
Es ist schon ein Kreuz mit diesen Zäsuren. Sie sind nicht beliebig, erfordern eine Begründung – und doch bleiben sie ein nachträglich gesetztes Konstrukt. Jedes Ereignis, das im Blickfeld der Zeitgenossen spektakulär und neuartig erscheint, kann sich in der Rückschau, mit mehr nüchternem Abstand und Klarheit, massiv relativieren.
Der sogenannte Sputnik-Schock von 1957 ist ein prominentes Beispiel: Als die Sowjetunion vor den USA den ersten künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn schoss, war das Staunen groß – wenngleich es einen kollektiven Schockzustand der westlichen Welt so auch nie gab.
Doch lag es vom zeitgenössischen Standort nahe, aus der Technologie der Sowjets auf eine generelle Überlegenheit ihres Systems zu schließen, zumal Moskau mit dem ersten Tier (Hündin Laika) und dem ersten Menschen im All (Juri Gagarin) bald nachlegen sollte.
Heute wissen wir es besser: Moskaus Planungsbürokratie konnte kurzfristig mehr Ressourcen mobilisieren, auf langer Strecke aber ging ihr der Atem aus – und das System unter.
„Kein Tag, der die Welt veränderte“
Was den 11. September 2001 betrifft, schlagen manche Forscher auch den Relativierungspfad ein. „Kein Tag, der die Welt veränderte“ – so der Titel eines Sammelbandes von 2011, zu dessen Mitherausgebern der Amerikanist Michael Butter zählt. Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass unser Leben eher von längerfristigen Entwicklungen bestimmt wird, die wenigsten Geschehnisse kämen aus dem Nichts.
Entsprechend wenden sich die zehn Aufsätze gegen die These, 9/11 habe die Welt grundlegend verändert. Nein, der Terror war ein Katalysator, der Entwicklungstendenzen sichtbar machte und verstärkte, heißt es.
Das blieb nicht ohne Widerspruch. Der Historiker Manfred Berg ging zwar mit, dass die rhetorischen Superlative direkt nach den Anschlägen falsch waren, kritisierte die Aufsatzsammlung jedoch, sie verrenne sich in ihrer Fixierung auf Kontinuität und lasse kaum noch Raum für eine Differenzierung der Zäsur. Sowohl die unmittelbare Erfahrung der Erlebenden als auch die spätere Rückschau müssten betrachtet werden.
Der Trumpf der Miterlebenden
Durchaus, so Berg, lässt sich nämlich der Standpunkt vertreten, nur Zeitgenossenschaft befähige zur Empathie, einen als fundamental erachteten Bruch, der intuitiv als Wendepunkt der Geschichte erlebt wird, richtig zu erfassen. Es ist quasi die Umkehr des Arguments, allein nüchterne Reflexion im Nachhinein erlaube ein klares Urteil.
Fest steht, dass ein Ereignis die unmittelbare Wahrnehmung und Lebenswirklichkeit verändern kann – und wer will den betroffenen Menschen das absprechen? Der Mauerfall am 9. November 1989, die leeren Autobahnen in der Bundesrepublik während der Ölkrise 1973, das Ende des Deutschen Kaiserreichs 1918 – Beispiele für das Empfinden, in einer „neuen Zeit“ zu leben, gibt es reichlich. Vielleicht auch gerade heute, in unseren unruhigen Tagen.
Beispielloses Szenario
Bergs Fachkollege Martin Sabrow schlug vor, das Spannungsfeld zwischen zeitgenössischer Erfahrung und Sinnstiftung der Historiker hinsichtlich einer Zäsur aufzulösen, indem zwischen „sinnweltlichen Ordnungszäsuren“ und „historiographischen Deutungszäsuren“ unterschieden wird.
Dass der Terror von 19 fanatischen Islamisten eine sinnweltliche Zäsur darstellte, ist kaum zu bestreiten. Jeder kann sich erinnern, wo er war, als ihn die Nachricht und die schockierenden Bilder erreichten. Ich war damals 14 und mein Vater stand vor dem laufenden Fernseher. In den USA seien Flugzeuge in Türme gekracht, sagte er in seiner stoisch-ruhigen Art.
Je mehr Details über Abläufe und Täter bekannt wurden, umso mehr verstärkte sich das Gefühl einer beispiellosen Bedrohung – auch wenn der Terrorismus kein neues Phänomen war. Doch dass ein kleiner Trupp mit Teppichmessern eine Weltmacht überlistet und in kürzester Zeit tausende Menschen ermordet, verletzt und traumatisiert, wäre vorher maximal als Drehbuch eines B-Movies durchgegangen.
Das Gedankenspiel
Will man ermessen, ob 9/11 auch auf längere Sicht eine Zäsur war, bietet sich die kontrafaktische Geschichtsschreibung an. Nichts ist gegen einen engmaschig kontrollierten Gedankengang einzuwenden, der aufschlüsselt, welche Entwicklungen ohne Ereignis A als unwahrscheinlich gelten müssten. Je mehr es sind, desto eher kann auch von einer Zäsur die Rede sein.
Vorfälle wie 9/11 eignen sich gut für das berühmte „Was wäre gewesen, wenn?“, weil die „geheime Lieblingsfrage der Historiker“ (Robert Cowley) sich leicht auf ein einmaliges und zeitlich verdichtetes Geschehen anwenden lässt – anders als auf lang andauernde Prozesse wie etwa die Industrialisierung.
Zäsur für Politik und Gesellschaft
In politischer Hinsicht kann mit gutem Grund von einer Zäsur durch die Angriffe gesprochen werden. Die Priorität der bis dahin noch recht konturlosen Administration von George W. Bush bekam mit dem „Krieg gegen den Terror“ plötzlich eine Agenda nach außen und innen. Der Präsident sah die Chance, sich als ideologischer Schutzpatron seiner Weltordnungsgelüste aufzuspielen.
Zugleich beanspruchte er eine außerordentliche Fülle an Macht inklusive fast schrankenloser Entscheidungsgewalt. Mit der Doktrin einer „einheitlichen Exekutive“ wurde der Geist der US-Verfassung pervertiert, sie diente aber als Rechtfertigung zur Folter und unbegrenzten Inhaftierung Terrorverdächtiger.
Mit einiger Sicherheit steht fest, dass weder diese Präsidentenmacht noch der im Oktober 2001 erfolgte Angriff auf ein armes Gebirgsland in Asien ohne das Trauma der Anschläge den gleichen Rückhalt gehabt hätten, ja überhaupt infrage gekommen wären. Die westliche Afghanistan-Intervention, der fast zwanzigjährige Versuch, einen stabilen demokratischen Staat aufzubauen, ist mit der gewaltsamen Rückkehr der Taliban an die Macht inzwischen krachend gescheitert.
Inwieweit es ohne 9/11 nicht zum Irakkrieg gekommen wäre, scheint weniger klar. Wie wir heute wissen, hatten die Falken um Bush den Diktator Saddam Hussein schon vor dem 11. September im Visier. Doch hätten sie auch so die breite Unterstützung für einen völkerrechtswidrigen Einmarsch generiert, der unter Lügen zustande kam? Hier muss wenigstens ein Fragezeichen stehen.
Auch die gesellschaftliche Polarität wurde durch den Terror zumindest verschärft. Das konservative Lager sah sich in einem angeblichen „Kampf der Kulturen“ zwischen dem christlichen Abendland und einer islamischen Bedrohung nur bestätigt, linksliberale Denker wie Noam Chomsky dagegen interpretierten 9/11 als logische Konsequenz des US-Imperialismus. Es fehlte auch nicht an Aufrufen zur Besonnenheit und Toleranz gegenüber der Mehrzahl friedlicher Musliminnen und Muslime.
Wirtschaft und Alltag: kein schwerer Einschnitt
In anderer Hinsicht erwiesen sich die Folgen als glimpflicher: Trotz des Schocks direkt nach 9/11 blieb ein Kollaps von Finanzmärkten und Wirtschaft aus. Obgleich der Terror in die Zeit der New Economy-Krise fiel, dem Platzen des Internet-Hypes, sollte sich schnell wieder neues Wachstum einstellen.
Auch die Lebenswelten der meisten Menschen im „Westen“ haben sich nach 9/11 nicht fundamental gewandelt. Mit der Gefahr terroristischer Anschläge, wie sie auch Europa erreichten, haben sich die Bürgerinnen und Bürger irgendwie abgefunden. Hier ist das Spannungsfeld Freiheit-Sicherheit wieder in den Fokus gerückt. Und irgendwie ist der Mensch ja anpassungsfähig an eine neue Normalität – der Vergleich zur noch immer nicht ausgestandenen COVID-19-Pandemie drängt sich auf.
Es ist kein zynisches Zahlenspiel, darauf hinzuweisen, dass der Anti-Terror-Kampf der USA die meisten Opfer in islamischen Ländern gefordert hat – Irak, Afghanistan, Pakistan. Nicht zuletzt dieser Umstand erleichterte wiederum den Zulauf für Islamisten, wie sich im Aufstieg des „Islamischen Staates“ zeigte.
9/11, der Sargnagel?
Was bleibt? Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA haben Entwicklungen in Gang gebracht, die ohne den Terror unwahrscheinlich gewesen wären, andere Tendenzen hat der Terror befeuert. Weltwirtschaft und Globalisierung wurden jedoch in keine neue Richtung gelenkt und auch das Alltagsleben der meisten Menschen im „Westen“ nicht für immer auf den Kopf gestellt.
Gerade in der amerikanischen Innenpolitik und auf der Weltbühne, augenscheinlich sichtbar im Afghanistan-Desaster des „Westens“, sind Dinge passiert, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer Zäsur zu sprechen.
So oder so hat der perfide Terrorangriff vor über zwanzig Jahren seinen Stellenwert in der Historie – vielleicht als Schlüsselereignis, das die Geburt einer neuen Ordnung mit China als omnipotentem Akteur markiert.
Oder als Sargnagel, mit dem der imperiale Überdehnungsbruch der USA in der Welt begann? Das wird erst die Zukunft zeigen. Mein Vater hätte der These vielleicht zugestimmt.
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„Der 11. September 2001 – war er wirklich eine historische Zäsur?“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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