LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 84, seit 23. Oktober im HandelIm Sommer 2019 habe ich die Interviewreihe „Wendegespräche“ begründet. In der Folge durfte ich mit insgesamt zehn Menschen unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft sprechen. So beispielsweise mit einem Dozenten, einer Choreographin, einem Versicherungsvertreter und einer Näherin – mit Menschen, die in der DDR sozialisiert waren, aber auch mit einer Teilnehmerin aus den alten Bundesländern, die über ihre persönlichen Erfahrungen vor, während und nach der Wende berichteten. In dieser Ausgabe schließe ich die „Wendegespräche“ mit einem persönlichen Blick auf meine Erinnerungen während dieser Zeit ab.
Zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 war ich sechs Jahre alt, seit wenigen Monaten Schüler der „Heinrich-von-Kleist“-Grundschule, die zuvor noch den Namen „Otto-Grotewohl“ trug und lebte seit zwei Jahren in Lichtenstein, einer Kleinstadt zwischen Chemnitz und Zwickau. Damals brauchte man mit dem Auto noch gut zwei Stunden, um in die mir damals sehr ferne Stadt Leipzig zu gelangen. Heute benötige ich zwischen den Städten per PKW etwa 90 Minuten.
Seit 2003 wird an der Autobahnverbindung zwischen Leipzig und Chemnitz gebaut; wenn diese dann voraussichtlich im Jahr 2026 fertiggestellt ist, schafft man die Strecke vielleicht auch in 80 oder 70 Minuten; mein Vater spricht sogar von nur 60 Minuten. Für ihn, der immer noch in Lichtenstein wohnt, ist die Frage, ob er nun eine Stunde oder mindestens eineinhalb Stunden nach Leipzig braucht, durchaus relevant, denn wäre die Autobahnverbindung wie ursprünglich geplant bereits fertig, so würde er für den Weg hin und zurück mindestens eine Stunde sparen, meint er.
In seiner Jugend sei er öfter nach Leipzig gefahren. Mit dem Zug ging das gut. Man fuhr freitags nach der Arbeit mit Freunden los, stieg in der Nacht in einem der auch für junge Leute erschwinglichen Hotels am Bahnhof ab und fuhr am nächsten oder übernächsten Tag wieder zurück.
Meine erste Erinnerung an Leipzig verorte ich ungefähr im Jahr 1988. Ich befand mich damals an der Hand meiner Mutter zusammen mit meiner Schwester auf dem Weg durch die Innenstadt zum Leipziger Hauptbahnhof. Wir hatten viele Zugfahrten unternommen. In diesem Zusammenhang erinnere mich auch daran, wie ich während einer Zugfahrt, vielleicht sogar jener von Leipzig nach Lichtenstein, auf dem Knie eines NVA-Soldaten gesessen hatte.
Jener Nachmittag durch die Leipziger Innenstadt muss ein grauer Herbsttag gewesen sein, denn alles um mich herum war schwarz. Vielleicht färbt mein Erinnerungsvermögen die Szenerie ein. Denn auch die als Kind für mich riesig anmuteten Städte Zwickau und Chemnitz sehe ich in dunkelgrauen Farben vor mir; vor allem Chemnitz, das in meinen Augen ein finsteres Labyrinth war.
Ich habe keinerlei Erinnerungen an den Mauerfall. Jedoch an die Zeit kurz darauf. Meine Familie zog nun um in eine etwas größere Wohnung mit je einem Kinderzimmer für meine Schwester und für mich. Den Umzug konnten meine Eltern mit Pkw und Handwagen abwickeln, denn wir zogen nur zwei Straßen weiter und so konnte ich meine Spielsachen in der Hand aus der alten in die neue Wohnung tragen.
Im Frühjahr 1990 unternahmen wir gemeinsam mit einer befreundeten Familie die erste Fahrt in den Westen. Wir fuhren mit dem Saporosch, die Freunde mit ihrem Moskwitsch. Mein Vater war sehr stolz auf seinen „Sapo“. Ich weiß noch, wie er kurz nach unserem Umzug in der Parkbucht vor unserem Altbau das orangene Auto in ein strahlendes Blau umlackierte. Und nun ging es mit dem quasi neuen Sapo in den Westen, nach Hof.
Es war ein strahlender Tag. In meiner Erinnerung schien die Sonne den ganzen Tag. Während der Fahrt hörten meine Eltern Simon & Garfunkel, Smokie und die Stones. So ziemlich das erste, was ich in Hof erblickte, war eine schwarzglänzende Harley-Davidson. Daneben stand ein Franke in Lederjacke. Er erlaubte mir, mich auf seine Harley zu setzen.
Von meiner ersten D-Mark kaufte ich mir nun eine Alf-Figur, weil Alf damals meine absolute Lieblingsserie war. Wahrscheinlich hatte ich diese schon vor der Wende geschaut, denn noch vor der Wiedervereinigung war die Wand meines Kindeszimmers mit Dutzenden Alf-Stickern beklebt, die es damals in den Hanutaschnitten und in den Duploriegeln gab.
Kurz darauf besuchten wir den Großonkel in Mainz. An die riesigen Kaufhäuser mussten sich meine Augen damals erst gewöhnen. Während meine Großcousine nonchalant durch die Regale schlenderte und den Einkaufswagen mit Puppen und Kuscheltieren füllte, waren meine Schwester und ich durch das Überangebot an Spielsachen schlichtweg überfordert.
Meine Schwester ließ sich ihre erste Barbiepuppe schenken, ich ein Matchboxauto, das unglaublich schnell fuhr und sich im warmen Wasser verfärbte. Noch mehr als über diesen Flitzer freute ich mich allerdings über einen kleinen silbernen daumengroßen Cadillac, den mir mein Vater einige Wochen später an einem Vormittag als eine Überraschung in den Kindergarten brachte.
Im September 1990 kam die Einschulung. Ich hatte genau einen Schulsamstag zu absolvieren; blaue Halstücher gab es in meinem Jahrgang nicht mehr. Allerdings hatte meine Klassenstufe noch Altpapiersammlungen veranstaltet, die dann plötzlich eingestellt wurden. Ich verstand das nicht, denn das Altpapiersammeln hatte ja Spaß gemacht und war sinnvoll.
Unter uns Kindern gab es dann auch Diskussionen darüber, was besser sei – die schweren Glasflaschen, in denen die Pausenmilch noch ungefähr bis Herbst 1991 abgefüllt wurde oder die neuen leichten Tetrapaks mit Strohhalm, die man einfach wegschmiss und die man als kleine Bomben umfunktionieren konnte, indem man den Tetrapak austrank, ihn mittels des Strohhalmes aufblies, ihn möglichst in die Mitte eines leeren Schulkorridors positionierte und nun mit voller Wucht zertrat.
Im Fach Deutsch wurde ich zunächst mit der Fibel, einem dicken Papplehrbuch, das ich sehr mochte, unterrichtet. Später wurden die Ostlehrbücher durch Westlehrbücher in Broschur ersetzt, die man nun in Plastikumschläge aller Farben einschlug. Auch diese Bücher mochte ich sehr. Die neuen Themen, die darin angeschlagen wurden, sprachen mich an. Besonders haften geblieben ist mir, wie man uns Kindern Toleranz gegenüber anderen Kulturen beizubringen versuchte, etwa mittels des griechischen Tsatsikis.
Weil mich meine Eltern damals schon zum Einkaufen in den Konsum schickten, der dann ein Edeka (später ein Netto und schließlich ein Getränkemarkt) wurde, kaufte ich zum Abendbrot als Brotaufstrich einen Becher Tsatsiki. Als dann Mitte der Neunziger das erste griechische Restaurant im Nachbardorf eröffnete, wurden wir Stammgäste und freundeten uns mit den Wirten an.
In der Zeit der ersten Klasse fällt auch meine erste Erfahrung mit dem Phänomen Krieg. Es war mitten im Winter, in den frühen Morgenstunden, als ich im Fernsehen die Bilder der Bombardierungen Kuwaits sah. Meine Klassenlehrerin unterhielt sich nun im Unterricht mit uns regelmäßig über dieses Thema. Einige meiner Klassenkameraden waren damit bereits vertraut. Für andere und für mich war Krieg etwas völlig Neues. Schreiende Menschen, zerstörte Häuser und inmitten dieses Zerrbildes die Bejahung des Kampfes – das ging für mich nicht zusammen, das war für mich schlichtweg unbegreiflich.
Umso mehr schätzte ich die Friedensfahrten, die in Lichtenstein als Ableger der Internationalen Friedensfahrten jeweils im Frühling noch bis 1991 veranstaltet wurden. Ein weiteres Großereignis war für mich die AMI, die Internationale Automobilmesse in Leipzig, von der mir mein Vater ein Dutzend Autozeitschriften und Kataloge mitbrachte. Diese liebte ich allein schon wegen des Geruches des Hochglanzpapiers.
Einer meiner Freunde war in Autos noch vernarrter als ich: Im Alter von gerade einmal fünf Jahren beherrschte er alle Automarken aus dem Effeff und konnte selbstredend etwa einen Opel Kadett Stufenheck von einem Opel Vectra Fließheck unterscheiden.
Bald schon zeigte sich aber auch die Kehrseite dieser neuen Dingwelt. Wer gewisse Dinge nicht hatte oder nicht kannte, schied aus den Spielen mit ihnen und aus den Gesprächen über sie aus. Wenn ein Junge nicht mit Matchboxautos spielte, eine gewisse Stickersammlung nicht hatte oder mit Lego nicht umgehen konnte, stand er in den Pausen alleine da.
In der Welt der Erwachsenen separierten sich die Eigenheimbauer von den Reihenhausbesitzern und diese von denen, die in Neubau- oder Altbauwohnungen wohnen blieben. Einige Familien, darunter Freunde aus dem Kindergarten, zogen in den Westen oder in die größeren Städte. Von anderen hieß es: „Dem N. und der F. geht es jetzt schlecht und die dürfen dies und das nicht mehr, denn ihre Eltern waren ja bei der Staaasiee!“ Ein Kind aus meiner Klasse wurde aus diesem Grund von den meisten der anderen Kinder gemieden.
1991 wurde ich ein großer Fan von Michael Jackson. Ich imitierte seinen Tanzstil und kaufte mir, als ich mit meinen Eltern das erste Mal nach Tschechien fuhr, meine erste Kassette: das Album „Dangerous“. Meine Schwester und ich schauten in dieser Zeit zudem leidenschaftlich gern „Die Bill Cosby Show“. So auch während eines Familientreffens. Jemand aus meiner Familie bezeichnete Bill Cosby nun als „Neescher“. Meine Schwester und ich konterten mit Michael Jackson „It don’t matter if you’re black or white.“ So einfach war das für uns damals.
Zwei Sommer später lernte ich, dass das alles doch nicht so einfach war: Ich befand mich in einem Ferienlager in Tschechien. Einer meiner Freunde war ein überzeugter Punk aus Zwickau, der gern „Die Toten Hosen“ hörte. Ein Junge aus unserer Clique sprach mich am Tag der Abreise auf mein T-Shirt an, das mit der US-Flagge und der Freiheitsstatue in Rot Weiß Blau gemustert war. Ich interessierte mich damals bereits für die USA.
Mein Onkel, der nach der Wende der erste und lange Zeit einzige in der Familie war, der einen Personalcomputer besaß, hatte mir während eines Besuches auf A4 einmal ein Porträt der USA mit Flagge, Landesgrenzen und den zehn größten Städten, die ich bald auswendig wusste, ausgedruckt. Mit eben diesem Selbstverständnis trug ich also jenes T-Shirt.
Der Junge aus unserer Clique, der also auch mit dem Punk aus Zwickau befreundet war, sagte nun mit Blick auf mein T-Shirt: „Du bist aber auch ganz schön links!“ Ich verstand nicht und dachte, er meinte „link“. Ich musste nachfragen und so lernte ich, dass es Rechts und Links gab und man sich entscheiden müsse.
Ich entschied mich auch, als in Lichtenstein die Bomberjacken auftauchten und ein Bekannter von mir, der im Ort einen eher schweren Stand hatte, da er sitzengeblieben war und lange keine Matchboxautos hatte, von vier oder fünf Bomberjacken über den ganzen Sportplatz derart gejagt wurde, dass er, der bis dato nicht sonderlich sportlich war, plötzlich über einen Zaun springen konnte, was ihm leider jedoch nichts nützte. Denn kurz darauf hatten ihn die Bomberjacken schon im Schwitzkasten und boxten ihn mit den Worten „Zecke! Du Zecke!“ in den Magen, während ich blöd daneben stand.
Die Entscheidung, ob ich nun links oder rechts sei, wurde mir zudem vielleicht auch deshalb leichter gemacht, weil der coolste Typ aus der Gegend aussah wie Kurt Cobain. Kurt Cobain aus Lichtenstein konnte auf der Schaukel im Stehen bis zum Anschlag auf 180⁰ schaukeln, sodass er quasi in der Luft auf dem Kopf stand. Bis kurz nach 1990 war dieses Kunststück noch möglich, weil die Schaukeln sowie im Allgemeinen alle Klettergerüste, Kletterpilze, Rutschen und Wippen der DDR-Spielplätze aus Stahlgestängen gefertigt waren.
Nach der Wende veränderte sich die Spielplatzlandschaft jedoch allmählich und die Schaukeln der Spielplätze, die die Wende überstanden hatten, hingen nun an Ketten, wodurch man unmöglich noch bis zum Anschlag hätte schaukeln können. Aus meiner damaligen Sicht als Siebenjähriger war das ein klarer Rückschritt. Erst als dann einige Jahre später in der Nachbarschaft eine riesige Kletterspinne auf einem neu angelegten, mit Mulch und Kies aufgeschütteten gigantisch großen Spielplatz errichtet wurde, war ich umgestimmt.
Die sozialen Unterschiede verschärften sich ab Mitte der Neunziger auch bei uns im Ort zusehends. Mit Matchboxautos und Lego war es nun nicht mehr getan. Der Kampf um den Status wurde auf dem Schulhof jetzt mit Markenklamotten und Berichten von Fernreisen ausgetragen. Die Erwachsenen kauften sich alle drei oder zwei Jahre ein neues Auto, immer öfters auch auf Pump. Nicht nur die wenigen „Ausländer“, sondern auch die Zugezogenen aus Berlin, aus dem Westen oder manchmal sogar nur aus der Nachbarstadt wurden beargwöhnt, erst recht, wenn sie in die Kleinstadt kamen, um sich hier ein Eigenheim zu errichten.
Seit einiger Zeit nehme ich allerdings einige Veränderungen wahr. So hat beispielsweise mein Vater gemeinsam mit seinen Nachbarn die einstige Parkbucht vor dem Haus mit Sträuchern und Blumen bepflanzt und eine Bank aufgestellt. Hier sitzen nun die Leute des Hauses ab dem Frühjahr bei Bier, Wein und Kaffee zusammen und unterhalten sich.
Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918
Leipzig in den „Goldenen 20ern“
Alle Zeitreisen auf einen Blick
Wendegespräch (7): Ein Gespräch mit dem Künstler Schwarwel über eine Wende, die keine war
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30 Jahre deutsch-deutsche Parallelwelt: Höchste Zeit, die betonierten Vorurteile zu demontieren
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