LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 81, seit 31. Juli im HandelDie Künstlerin Diana Wesser lebt seit 1994 in Leipzig. Schwerpunkt ihrer künstlerischen Forschung ist die Einbindung von Nachbarschaften, Expert/-innen und Zeitzeug/-innen in den Kunstprozess. In ihren Begegnungsformaten lädt sie Menschen dazu ein, vielfältige Perspektiven innerhalb einer Stadt zu erfahren. Ich habe mich nun mit ihr über ihr eigenes Leben in zwei Realitäten unterhalten.

Hallo Diana! Du hattest mir gerade die „Zehn Gebote im Umgang mit der DDR“ gezeigt …

„… mit den anderen Deutschen“, so lautete der Titel auf dem Arbeitsblatt, welches wir damals im Unterricht als Vorbereitung für die Klassenfahrt in die damalige DDR behandelt hatten.

Ist es richtig, dass ihr die Menschen dort nicht auf Jeans ansprechen durftet?

Ja. Aber wir müssen in meiner Biographie früher ansetzen: Ich bin im Westen geboren. In Stuttgart. Der Großteil meiner Familie lebte allerdings in der DDR. Denn meine Eltern waren als Kinder Kriegsflüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen und wuchsen später in Gößnitz bei Altenburg auf. In den späten 50ern waren sie in den Westen gegangen.

Kurz vor dem Mauerbau!

Zu diesem Zeitpunkt war das deshalb noch ganz einfach. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie ihre Tante in Freiburg besucht habe und dann einfach drüben geblieben sei.

Weißt du, weshalb?

Meine Mutter war im Krieg auf der Flucht verloren gegangen, kam erst sehr spät wieder mit ihrer Familie zusammen und hatte den Anschluss nicht mehr gefunden. Ich hatte bei ihr den Eindruck, sie habe ihre Jugend verpasst und habe das Gefühl gehabt, diese im Osten nicht nachholen zu können.

Bei meinem Vater war das ähnlich. Beide waren ja noch so jung, als der Krieg vorbei war. Dadurch, dass sie im Krieg so viel verpasst hatten, wollten beide sich so früh es für sie ging ihren Freiraum nehmen.
Jedoch sind wir jedes Jahr in den Sommerferien nach Gößnitz gefahren. Beide meiner Großmütter lebten dort.

Ich hatte meine Kindheit während der Sommerferien also immer in der DDR verbracht. Ich empfand das immer wie ein Spiel: Deutschland gibt es zweimal. Und in jedem der beiden Länder herrschen gewisse Regeln, die es im jeweils anderen Land nicht gibt.

Waren die Grenzübertritte Teil des Spiels?

Leider nein. Die waren schon heftig. Meistens fuhren wir mit dem Zug; einmal jedoch mit dem Auto. Es war mega-heiß und ich musste dringend auf Toilette. Meine Mutter meinte: „Du kannst nicht aus dem Auto, die erschießen dich!“ Diese Momente waren immer angstbehaftet. Was unsere Zugreisen betrifft, so erinnere ich mich aus einer Erzählung meiner Mutter: Die Züge waren rappelvoll und man reiste in Wägen mit Sechser-Abteilen.

Beim Passieren der Grenze mussten alle im Abteil bleiben. So kam es, dass sich beim Grenzübergang bis zu zwölf Leute in einem Abteil befanden. Einmal musste meine Mutter ihren ganzen Koffer auspacken. Das hieß: Alle mussten raus, sie packte ihren Koffer aus, mit zwei kleinen Kindern bei sich, die Kontrolleure verließen das Abteil, die Leute kamen zurück und meine Mutter befand sich mit ihrem ausgepackten Koffer nun mitten unter zwölf Leuten! Mein Vater wiederum wurde einmal an der Grenze einbehalten, weil er eine westdeutsche Zeitung bei sich hatte.

Hatten diese Erlebnisse dein Bild des anderen Deutschlands eingefärbt?

Überhaupt nicht. Als Kind war die DDR für mich ja toller als der Westen.

Weil es der Ort deiner Ferien war?

Ich bin Arbeiterkind. In Schwaben macht das nicht so richtig viel Spaß. In der DDR waren wir als Westdeutsche natürlich eher wohlhabend. Und klar, meine Erinnerungen sind natürlich sehr eingefärbt – Stichwort „Sommerferien“. Eine Freundin aus Gößnitz meinte deshalb einmal zu mir: „Diana, immer wenn es Melonen gibt, weiß ich, dass du bald zu Besuch kommst.“

Außerdem waren dort meine Verwandten. Das ist ja dann schon alles eher rosarot. Ich hatte aber grundsätzlich das Gefühl, dass hier für Kinder wahnsinnig viel gemacht wurde, zumal alles irgendwie bezahlbar war. Zudem mussten meine Eltern ihren Zwangsumtausch irgendwie loswerden. Politisch habe ich als Kind natürlich überhaupt nichts mitbekommen.

Meinen letzten Besuch unternahm ich 1986, als meine Großmutter starb. Ich war damals 15. Das war zugleich das erste Mal, dass ich die DDR außerhalb der Sommerferien bereiste, nämlich Ende April. Und plötzlich sah ich überall die Beflaggung für den 1. Mai. Ich entschied mich, früher zurückzufahren, denn das hatte mich völlig erschlagen. Ich war auch nie im Winter hier. Das hätte sicher bereits als Kind meinen Blick auf die DDR sehr verändert.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 81, Ausgabe Juli 2020. Foto: Screen LZ

Gibt es etwas, das du heute noch unmittelbar mit deiner Kindheit in der DDR verbindest?

Die Mauersegler und den Geschmack von Vita Cola.

1989 bist du dann wieder und diesmal mit deiner Schulklasse in die DDR gereist.

Das war meine Abi-Fahrt. Alle anderen Schulen fuhren nach Barcelona oder London; wir in die DDR.

Das war schon etwas Besonderes, oder? Noch dazu, wenn man aus Stuttgart kommt!

Auf jeden Fall! Das war schon spannend, die DDR bereits halbwegs privat zu kennen und sie dann nochmals mit der Klasse offiziell zu bereisen. Als Vorbereitung auf diese Reise gab es Sonderunterricht. Darin wurde uns vermittelt, dass es wirklich eine ernste Sache sei, in die DDR zu reisen. Was ich daran ganz gut fand, war dieser Gedanke: „Kommt mal von eurer Arroganz runter!“

Ich kann natürlich schlecht einschätzen, wie das für die anderen war, in die DDR zu reisen. Das einzig neue für mich war ja, mit dieser Distanz dorthin zu fahren. Denn wir hatten zwar Treffen mit Jugendlichen, aber uns wurde vorher eingebläut: „Denkt daran, sie sind ausgewählt!“ Und das hieß für uns auch, dass wir sie in Bedrängnis bringen könnten, wenn wir ihnen bestimmte Fragen stellen.

Wenn du privat in der DDR warst, dann hast du diese Fragen bestimmt gestellt und dich mit ihnen über Jeans unterhalten. Hast du auch Jeans aus der BRD mitgebracht?

Ja klar! Meine Mutter war ja Schneiderin. Ich trug deshalb zwar viel selbst genähte Kleidung und nicht solche Marco-Polo-Pullis. Dadurch fiel ich in der DDR nicht ganz so sehr auf. Aber wir hatten trotzdem immer sehr darauf zu achten, was wir tragen, damit wir nicht ständig erkannt werden. Rückblickend denke ich jedoch, dass man uns natürlich sofort angesehen hatte, dass wir aus dem Westen kamen. Und sei es über den Gestus.

Das wäre eigentlich eine interessante Methode, darüber die beiden ehemaligen Staaten miteinander zu vergleichen.

Das war ja sogar noch Ende der Neunziger so, dass die Leute häufig sofort wussten, ob jemand aus dem Westen kam oder nicht, obwohl man dann schon dieselben Klamotten trug. Da hängt so viel daran!

Und Ende der Neunziger hast du schon längst in Leipzig gelebt. Hattest du dich in deinem Studium an der HGB mit diesen Fragen beschäftigt?

Anfangs gar nicht. Das war indirekt, als wir mit der Umstrukturierung der HGB konfrontiert waren. Wir hatten noch viele Ostprofessoren und Mitte der Neunziger kamen die neuen Westprofessoren und wollten neuen Wind in die Hochschule bringen. Ich hatte damals das Gefühl, dass wir Studierenden etwas zwischen die Stühle geraten sind, vieles auf unseren Rücken ausgetragen werden würde.

Aber dass ich jetzt hier studieren konnte, das war schon toll! Während unserer Klassenfahrt besuchten wir ja auch Leipzig und Dresden. Damals dachte ich: „Wenn es jemals möglich wäre, dann möchte ich hier studieren!“ Und ein halbes Jahr später war es möglich! Die Mauer fiel genau, während wir Abiprüfungen hatten.

Während das viele Menschen im Westen nur am Rande interessierte, stand ich heulend vor dem Fernseher und auch meine Mitschülerinnen und Mitschüler hatten aufgrund unserer Reise einen Bezug dazu.

Hattet ihr während eurer Klassenfahrt im Sommer `89 damit gerechnet?

Null! Ich habe vor fünf Jahren einen Audiowalk gemacht „Keimzellen 89“, der sich mit der Widerstandsbewegung im Leipziger Osten beschäftigt. Ich habe u. a. die Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler Walther interviewt, die genauso alt ist wie ich. Da habe ich für mich gesehen, welcher Zufall es eigentlich war, dass sie hier geboren wurde und ich in Stuttgart. Gerade mit meiner Biographie hätte es ja gut möglich sein können, dass ich auch hier geboren worden wäre, schließlich hatten sich meine Eltern ja noch hier in der DDR kennengelernt.

Ich habe mich währenddessen immer gefragt, was ich gemacht hätte. Sie hatte damals ihr Leben riskiert und sich für Menschenrechte, Umweltschutz und Gerechtigkeit eingesetzt, während ich mich mit Depeche Mode und coolen Haarfarben beschäftigt hatte. Wir sind dann zusammen durch die Straßen gegangen, in denen das alles passiert war, was sie mir erzählte. Und da zeigte sie mir dann, wo sie schwarz gewohnt hatte, wo die konspirativen Treffen stattfanden oder wo die heimliche Druckmaschine stand …

Auch wenn man die Frage sicherlich nicht beantworten kann, ob man genauso gehandelt hätte, so zeigt sie dir doch eine Möglichkeit der Biographie auf.

Zufall der Geburt! Ein wichtiger Grund, weshalb mich das so interessiert, ist ja der, dass ich von klein auf diese Wahrnehmung von parallelen Realitäten hatte.

In der Physik ist das eine Theorie, die mittlerweile zunehmend ernst genommen wird.

Mit dieser Wahrnehmung, dass alles auch ganz anders sein könnte, bin ich aufgewachsen. Was ich erlebte, war ja: Da gibt es noch etwas anderes, was aber eigentlich ganz genau gleich ist und dann eben doch nicht, obwohl man dieselbe Sprache spricht und mit Menschen sowohl hier als auch dort verwandt ist.

Inwiefern hat diese Wahrnehmung deine künstlerische Arbeit beeinflusst?

Ich habe mir das bisher in diesem Zusammenhang noch gar nicht überlegt. Aber ja, es geht ja immer um parallele Welten.

Wie bei deinen Audiowalks.

Ja, zum Beispiel bei der „Fabrik der Frauen“, einem Audiowalk mit Frauen die zwischen 1948 und 2019 in bzw. auf der Spinnerei arbeiteten und noch arbeiten. Und auch bei den Begegnungsformaten wie z. B. bei den Leipziger Stadtteilexpeditionen passiert ja auch genau das: Wenn wir dich einladen, Wohnungen in Reudnitz zu besuchen und mit einem Menschen Kaffee zu trinken oder Suppe zu essen, mit dem du normalerweise nie reden würdest, trittst du in eine anderen Realität ein.

Das zeigt uns, wie viele unterschiedlichen Kulturen es in einem, wie wir meinen, einheitlichen Kulturraum gibt, wie viel bereits in unserer unmittelbaren Nachbarschaft parallel nebeneinanderstehen kann.

Und das hat mir noch nie Angst gemacht; sondern im Gegenteil habe ich das immer als Reichtum empfunden.

Aktuell beschäftigst du dich selbst mit dem Thema (Nach-)Wende. Inwiefern?

Vom 28. September bis 4. Oktober 2020 findet in Leipzig ein Festival im Rahmen des Jubiläums der Wiedervereinigung mit dem Titel „Eine Reise wegwohin“ statt. Hier geht es um Uwe Johnson, der als „Dichter beider Deutschland“ wiederentdeckt werden soll. Ich produziere einen Hörspaziergang, der auf einem Text von Johnson basiert.

Hier suche ich noch nach Menschen, die ich interviewen darf, also nach Zeitzeug/-innen, die diese Parallelität der beiden Realitäten erlebt haben oder die den Verlust ihrer Heimat erfuhren, ohne dass sie sich wegbewegt hätten. Menschen, die ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, vielleicht auch von Aspekten erzählen können, an die man nicht sofort denkt.

Mich interessieren auch Beschreibungen von Gerüchen, Geräuschen, Geschmack und die Gleichzeitigkeit zweier Länder am selben Fleck für diesen kurzen Moment; Erzählungen über das irre Tempo, das 1990 hatte.

Ich würde gern mit jemanden sprechen, dem alles weggebrochen ist und mit jemandem, für den es ein Neustart war. Oder mit jemandem, der am 14. März 1990 bei der Rede von Helmut Kohl auf dem Augustplatz dabei war.

Der Hörspaziergang findet dann in der Innenstadt statt.

Interessierte können sich hierfür bei Diana Wesser per Mail an info@dianawesser.de melden oder ihre Geschichte als Sprachnachricht auf dem AB des Festivals hinterlassen: 0341 97854777

Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de

Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918

Leipzig in den „Goldenen 20ern“

Leipzig im Jahr 1932

Die DDR im Rückblick

Alle Zeitreisen auf einen Blick

 

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