Es ist ein Routine-Termin. Sensationen erwartet bei der Pressekonferenz am Abend des 10. Februar 1990 in Moskau niemand. Doch dann verkündet der deutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) den Hammer: „Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.“
Es ist das Bekenntnis des sowjetischen Parteichefs zur Einheit Deutschlands. Der Coup ist perfekt – und der Weg für die zwei-plus-vier-Verhandlungen geebnet, die im September 1990 ihren Höhepunkt im gleichnamigen Vertrag zwischen den Siegern des Zweiten Weltkriegs und beiden deutschen Staaten finden. Er gilt heute als ebenso schillerndes wie strittiges Meisterstück der Diplomatie. Zu Recht? Und welche Rolle hat die DDR in diesem Spiel?
Im Anfang war Gorbatschow
Rückblick: Nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes und der Besetzung Deutschlands 1945 zerfällt die Allianz der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Aus den Westzonen geht 1949 die Bundesrepublik Deutschland hervor, im Osten entsteht die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit Segen Moskaus. Durch das Land verläuft die Frontlinie zwischen der NATO, dem westlichen Verteidigungsbündnis mit den USA an der Spitze, und ihrem östlichen Pendant, dem Warschauer Pakt unter sowjetischer Führung.
In Deutschland stehen sich nicht nur Markt- und Planwirtschaft, parlamentarische Demokratie und Parteiendiktatur gegenüber, sondern zugleich zwei bewaffnete Militärblöcke. Dieser Status scheint seit dem Mauerbau 1961 zementiert – im wahrsten Sinne des Wortes.
Doch dann tritt 1985 in Moskau Michail Gorbatschow als Chef des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei an. Der 54-Jährige reagiert nicht nur auf den desaströsen Zustand von Ökonomie und Gesellschaft, sondern erkennt auch, dass die Kosten des Sowjetimperiums nicht mehr tragbar sind. Mit „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) startet er einen Reformkurs, dessen Dynamik ihm entgleitet – und die Einheit im östlichen Lager bröckeln lässt. Nun wird möglich, was eben noch undenkbar schien.
„Die Einheit wird kommen“
Zugegeben, ganz so linear verläuft der Pfad zur Wiedervereinigung nicht. Im Gegenteil: Auch wenn sich Helmut Kohl in den Achtzigern zur Einheit bekennt, steht das Thema noch im Sommer 1989, kurz vor dem Knall in der DDR, nicht auf der weltpolitischen Agenda. Als Horst Teltschik, Kohl-Berater und späterer Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, in einem Interview Auswirkungen der Massenflucht aus der DDR auf die deutsche Frage anspricht, tobt der Kanzler, soll seinen Vertrauten sogar angebrüllt haben.
Doch in den dramatischen Tagen um den Mauerfall am 9. November 1989 nehmen die Menschen in der DDR den Lauf der Dinge in die eigene Hand. Der Druck von unten wächst – und Kohl, angeschlagen durch ein Umfragetief, legt Ende November bei einer Haushaltsdebatte im Bundestag überraschend einen Zehn-Punkte-Plan zur Einheit vor. Nur wenige sind in den Text eingeweiht – nicht einmal der Koalitionspartner FDP und ihr Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der stinksauer reagiert. Kohl will nicht, dass Genscher den Text vorab als eigene Idee verkaufen kann – alltägliche Piekser im politischen Kräftespiel.
International ist Kohls Vorstoß wie ein Schlag ins Wespennest. Zwar weiß er um die Rückendeckung der USA unter Präsident George H. W. Bush, doch Großbritannien und Frankreich haben kein Interesse an einem starken Player in der Mitte Europas. Besonders die britische Premierministerin Margaret Thatcher fürchtet, Deutschland wolle sich im Frieden nehmen, was Hitler im Krieg nicht geschafft habe.
In Polen wird die Erinnerung an finstere Zeiten wach, DDR-Ministerpräsident Hans Modrow kritisiert die Einmischung in innere Angelegenheiten, und der überrumpelte Gorbatschow geißelt Kohl als verantwortungslos. Aber Kohls Worte bleiben haften: Er sei sicher, die Einheit werde kommen, „wenn die Menschen in Deutschland sie wollen.“
Souveränität mit Sonderrechten
Gorbatschow fürchtet mit der deutschen Einheit ein Vorrücken der NATO und steht unter dem Druck konservativer Hardliner in den eigenen Reihen. Doch 1990 schwindet sein Widerstand. Bei einem NATO-Treffen in Ottawa kämpft Bundesaußenminister Genscher im Februar 1990 offen um die Wiedervereinigung.
Hier wird auch die zwei-plus-vier-Idee geboren. Woher sie kommt, ist nicht klar. Doch verdeutlicht die Formel, dass die zwei deutschen Staaten an der Entscheidung mitwirken und sie nicht den vier Siegermächten überlassen wollen. Deswegen werden sie zuerst genannt – Feinheiten zählen auf diplomatischem Parkett.
Das letzte Wort aber haben weder DDR noch Bundesrepublik. Doch warum eigentlich? Der Grund: Auch wenn Mitte der fünfziger Jahre sowohl die Westmächte als auch Moskau den deutschen Teilstaaten die Souveränität zuerkannt und die Besatzung formell beendet hatten, geschieht dies unter Vorbehalt von Sonderrechten. Die Siegermächte halten an der Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes fest, weder Bundesrepublik noch DDR sind total unabhängig. Der Entscheid über gewichtige Fragen wie die Einheit braucht also ein Okay von außen.
Von der Müritz in die Weltpolitik
Das bekommt DDR-Außenminister Markus Meckel zu spüren, als ihm US-Amtskollege James Baker deutlich macht, dass die „großen Vier“ als „steering group“ agieren würden, sollten beide deutsche Staaten nichts Vernünftiges zuwege bringen. Notfalls würden die Alliierten die Geographie des vereinigten Deutschlands eben selbst festlegen.
Meckel, Pastor in Vipperow (Südmüritz) und 1989 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, hätte wohl nie gedacht, dass es ihn mal aus Mecklenburg-Vorpommern an die Spitze der Weltpolitik katapultieren würde. Doch ihm fehlt Erfahrung auf dem Spielfeld der internationalen Diplomatie, wo eigene Regeln gelten, jedes Wort, jede Geste Unvorhergesehenes auslösen kann.
Viele seiner Ideen sind nicht mehrheitsfähig. So beißt er auf Granit, als er eine entmilitarisierte Zone in Europa vorschlägt. Hinter vorgehaltener Hand ist die Meinung vieler Konferenz-Teilnehmer klar: Die DDR-Kollegen sind ehrenwerte Menschen, aber ohne Expertise. Mit dem Aus der Regierungskoalition in der DDR im August 1990 legt Meckel sein Amt nach nur drei Monaten nieder.
Strickjacken-Diplomatie im Kaukasus
Innerhalb der DDR ist die Stimmung gekippt, das „Wir sind das Volk!“ des 89er-Herbstes hat sich oft ins „Wir sind ein Volk!“ verwandelt. Die einzige freie Volkskammer-Wahl vom März 1990 hat mit dem Sieg der CDU eine faktische Mehrheit für die Wiedervereinigung hervorgebracht. Die Bürgerrechtsbewegung hat ihren moralischen Kredit nicht in ein gutes Ergebnis übersetzen können, auch andere Gruppen, die für eine reformierte DDR eintreten, bleiben in ihrer Bedeutung begrenzt. Doch davon unabhängig ist die DDR außenpolitisch nur wenig in die Entscheidungsprozesse zur Einheit integriert.
Auf einer Vielzahl von Konferenzen nimmt der zwei-plus-vier-Vertrag Gestalt an. Im langen Diplomaten-Poker wird um Details gefeilscht: Soll das wiedervereinigte Deutschland in die NATO eintreten? Wie viele Soldaten darf es haben? Dem polnischen Nachbarn wird ein Grenzvertrag zugesichert.
Im Juli 1990 gehen Bilder aus dem Kaukasus um die Welt, wo Kohl und Genscher von Gorbatschow in legerer Freizeitkleidung die Zusage bekommen, dass das künftige Deutschland selbst über eine Mitgliedschaft in der NATO entscheiden darf. Der sowjetische Parteichef geht weit, riskiert den Bruch mit Hardlinern und Militärs zu Hause.
Bis zum Schluss steht die sensationelle Einigung auf der Kippe, etwa als Moskau Fragen nach der Zulässigkeit westlicher Manöver in Ostdeutschland und der Ablösesumme für den Rückzug sowjetischer Streitkräfte stellt. Persönliches Vertrauen und das gezückte Scheckbuch helfen weiter.
Legenden von Wortbruch und Nicht-Souveränität
Nach Beilegung der Konflikte zwischen den Akteuren und innerhalb der Regierungen wird das Vertragswerk am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet, 1991 tritt es in Kraft. Es legt den Grundstein zur deutschen Einheit, beendet die Spaltung Europas und hebt Sonderrechte der Alliierten auf. Die Truppenstärke und der Abzug sowjetischer Streitkräfte ist geregelt, zudem erklärt Deutschland den Verzicht auf Gebietsansprüche, was auch durch einen Vertrag mit Polen fixiert ist. Die Oder-Neiße-Grenze im Osten wird anerkannt.
Die „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, wie sie offiziell heißt, ist nominell kein Friedensvertrag, wohl aber dem Ansinnen nach. Was Wirrköpfe als Beleg für die angebliche Nichtexistenz der eigenständigen Bundesrepublik anführen, ist pragmatisch motiviert: Kohl fürchtet, dass ein Friedensvertrag saftige Reparationsforderungen von Staaten nach sich zieht, die Deutschland noch kurz vor Ende den Krieg erklärt hatten.
Ähnlich ist es mit der Wortbruch-Legende, wonach der Sowjetunion eine Nicht-Ausdehnung der NATO über Deutschland hinaus zugesichert worden sei. Das überzeugt kaum, weil es in den Verhandlungen nur um Deutschland geht und der restliche Warschauer Pakt zunächst weiterexistiert. Seine Auflösung 1991 sieht keiner voraus.
Ist Deutschland also mit dem zwei-plus-vier-Vertrag souverän? Ja. Zwar gibt es Punkte, die oberflächlich für eine eingeschränkte Souveränität sprechen. Korrekt ist, dass die „Feindstaatenklauseln“ der UNO, die Handlungen eines Staates infolge des Zweiten Weltkriegs gegen einen anderen Staat gestatten, theoretisch noch in Kraft sind. De facto aber sind sie obsolet und nach einer Lesart durch andere Klauseln ausgehebelt.
Gültig bleiben auch Elemente des Besatzungsrechts, wonach die Bundesrepublik nicht gegen Maßnahmen klagen darf, die aufgrund des Kriegs und zu Reparationszwecken „gegen deutsches Auslands- oder sonstiges Vermögen durchgeführt worden sind.“ Hier zu folgern, Deutschland sei völkerrechtlich nicht souverän, ist jedoch abwegig.
Ein diplomatisches Meisterstück – insgesamt
Gemessen an der Herausforderung, die DDR aus ihrer Bindung an eine Weltmacht zu lösen und ohne Blutvergießen ein vereinigtes Deutschland zu schaffen, ist es keine Übertreibung, den zwei-plus-vier-Vertrag als diplomatisches Meisterstück zu titulieren. Kleine Fragezeichen ändern nichts am Gesamtbild.
Wie wenig die DDR hier noch mitzureden hat, bleibt in der Rückschau bemerkenswert.
Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918
Leipzig in den „Goldenen 20ern“
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