โ€žDer Alltag in der DDRโ€œ, so kommentierte es ein Kabarettist mal sarkastisch, โ€žmachte die Menschen zu รœberlebenskรผnstlern: Sie wurden immun gegen die Umweltgifte, lebten in Nischen, die die allmรคchtige Partei รผbersah oder duldete, schlossen sich in Gruppen Gleichgesinnter zusammen, und es gelang ihnen, ,aus nischt was zu machen.โ€˜โ€œ Worte, die zeigen, wie das Gros der DDR-Bรผrger die spรคten achtziger Jahre in seinem Land zwischen Fichtelberg und Kap Arkona empfindet: bedrรผckend, eng, miefig.

Wenige engagieren sich in Oppositionsgruppen, oft unter dem Dach der Kirche, andere versuchen, รผber einen Ausreiseantrag wegzukommen. Doch die Masse bewรคltigt den Alltag weiter. Schwer genug, wenn nicht einmal der viel beschworene Rรผckzug ins Private noch glรผckt, da selbst Baumaterial fรผr den kleinen Schrebergarten bestenfalls unter grรถรŸter Mรผhe zu bekommen ist.

Junge Menschen schielen gen Westen

Dabei kann Anfang der achtziger Jahre kein anderer Ostblock-Staat einen so hohen Lebensstandard wie die DDR vorweisen. Die Nachkriegs-Not ist passรฉ. Technische Gerรคtschaften gehรถren fast so selbstverstรคndlich zum DDR-Haushalt wie im Westen. Der umfangreiche Wohnungsbau zeigt Wirkung. Die Mieten sind dank staatlicher Subventionen ebenso niedrig wie die Preise fรผr Grundnahrungsmittel. Bildung, medizinische Versorgung und Kinderbetreuung gibt es kostenfrei.Doch gerade die jรผngeren Menschen, anders sozialisiert als die greise Fรผhrungscrew der DDR, stellen Ansprรผche. Sie honorieren die Sozialfรผrsorge nicht mit Loyalitรคt, sondern schielen in die Bundesrepublik. Der รคuรŸerlich erleichterte Alltag vermag fehlende Freiheiten, Gรคngelei und Umweltverschmutzung nicht aufzuwiegen.

Wirtschaft vor dem Kollaps

Dazu kommt, dass die Menschen zwar immer mehr Geld in Ostmark haben, dafรผr aber umso weniger kaufen kรถnnen. Jenseits von Brot, Milch, ร„pfeln, Zigaretten und Alkohol gibt es kaum etwas, was nicht zeitweise zur Mangelware zรคhlt. Langlebige Konsumgรผter kosten tausende Mark und dazu oft jahrelange Wartezeit, weil die klamme DDR Schreibmaschinen, Motorrรคder, Kameras und Mรถbel lieber fรผr Devisen in den Westen exportiert.

Westliche Beobachter ahnen nicht, dass die Wirtschaft der DDR zu Beginn der achtziger Jahre kurz vor dem Kollaps steht. 1982 รผbersteigen die Tilgungs- und Zinsverpflichtungen an westliche Glรคubiger die Devisen-Einnahmen der DDR bereits um das Eineinhalbfache, die Schuldenlast liegt 1981 bei 23 Milliarden Mark. Honeckers Idee, kreditfinanzierte Technologieeinfuhren spรคter durch eine Exportoffensive auszugleichen, ist im Strom der globalen Entwicklungen โ€“ ร–lkrisen, Digitalisierung โ€“ faktisch zerfetzt worden. Ein hoher Anteil des neu geborgten Geldes flieรŸt in die Importfinanzierung und die Begleichung von Altschulden.

Zwei Finanzspritzen aus der Bundesrepublik, eingefรคdelt durch den Stasi-Offizier Alexander Schalck-Golodkowski mit dem bayerischen Ministerprรคsidenten Franz Josef StrauรŸ und dem Fleischfabrikanten Josef Mรคrz, entschรคrfen die Lage zwar ab 1983. Der westliche Nachbar hilft aus, denn er hat an Unruhen vor seiner Haustรผr kein Interesse. Doch das grundsรคtzliche Problem bleibt bestehen.

Selbst im โ€žinner circleโ€œ der DDR melden sich Stimmen wie die des Chefplaners Gerhard Schรผrer zu Wort, die klarmachen, dass der unappetitliche Cocktail aus Dauerverschuldung, Milliardensubventionen und zu wenig Exporterlรถsen letztlich ins Desaster fรผhrt. Doch Honecker und sein Wirtschaftssekretรคr Gรผnter Mittag weisen den frustrierten Chef der staatlichen Plankommission wiederholt brรผsk ab. Die Streichung von Sozialausgaben erscheint Honecker in ihren Folgen fรผr die Stabilitรคt des Landes unkalkulierbar. Seine Abwehr ist ebenso katastrophal wie machtlogisch.

Schattenseiten der Sozialpolitik

So subventionieren die Herrscher weiter โ€“ von Wohnungen und Nahrung รผber Verkehrsmittel bis hin zu Millionen Arbeitsplรคtzen โ€“ so ziemlich alles. Ein gefรผllter Magen, ein sicheres Einkommen und eine Behausung stellen die Menschen ruhig und lassen sie nicht aufbegehren โ€“ dieser Gedanke leitet Honeckers politischen Kurs seit dessen Antritt 1971.

Doch schon in den frรผhen achtziger Jahren erkennen selbst systemnahe Kreise die dunkle Seite dieser Politik. Rentner, eine Gruppe ohne Lobby, kรถnnen sich teure Industriewaren wie Kleidung und Schuhe kaum leisten, leben oft am Rande der Gesellschaft. Die staatlichen Kapazitรคten und Mittel zur Versorgung alter, pflegebedรผrftiger und behinderter Menschen sind vรถllig unzureichend, vor allem Institutionen der Kirche verhindern hier ein vรถlliges Desaster. Im Gesundheitswesen wird permanent ein Mangel an Personal, Technik und Arzneimitteln gemeldet.

Die Folgen vieler Subventionen erweisen sich als fatal. Billige Reichsbahn-Fahrkarten geben das Schienennetz dem Verfall preis, das sich Ende der achtziger Jahre zu 17 Prozent nur noch mit geringer Geschwindigkeit befahren lรคsst. Subventioniertes Billigbrot wird von Bauern an Tiere verfรผttert. Durch niedrige Mieten fehlt eine Einnahmequelle zur Sanierung von Wohnhรคusern, zudem wird jeder Anreiz blockiert, zu groรŸen Wohnraum aufzugeben.

Katastrophaler Verfall der Bausubstanz

Auch wenn es mit dem Wohnungsbauprogramm seit den Siebzigern gelingt, die Wohnsituation teils zu verbessern, fรผhrt die Konzentration der Mittel auf den Neubau von Plattenbauten zum Zerfall der Altbausubstanz. Abseits des Schaufensters Ost-Berlin gleichen ganze Viertel in Stralsund, Potsdam, Schwerin, Gรถrlitz, Halberstadt oder Leipzig einer geisterhaften Kriegskulisse.

Initiativen vor Ort, die dagegen kรคmpfen, speisen sich meist nicht einmal aus politisch versierten Systemkritikern, sondern Menschen, die derlei Lebensverhรคltnisse schlicht leid sind. Es ist eine symptomatische Vorbedingung fรผr den Herbst 1989: Fast jeder findet wรคhrend der achtziger Jahre Faktoren, die dazu fรผhren, dass er innerlich mit dem Regime abschlieรŸt. Wenn Regenwasser durch die Decke tropft, die Toilette immer noch eine halbe Treppe tiefer ist und Braunkohle-Mief durch undichte Fenster dringt, ist die groรŸe Politik zweitrangig.

โ€žAus unseren Schornsteinen kommt nur sauberer Dreckโ€œ

Die LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 72, Ausgabe Oktober 2019. Foto: LZ (zum VergrรถรŸern klicken)
Die LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 72, Ausgabe Oktober 2019. Foto: LZ (zum VergrรถรŸern klicken)

Auch die Umwelt ist in einem desastrรถsen Zustand. Sie muss gegenรผber der Wirtschaft, die oft mit รผberalterten Produktionsanlagen arbeitet, zurรผckstecken. Die Schlote qualmen weiter, im Westen hatte sich dagegen bereits die Abkehr von den Schornsteinindustrien vollzogen.

Nur drei Prozent der FlieรŸgewรคsser und ein Prozent der stehenden Gewรคsser der DDR gelten 1989 noch als รถkologisch intakt. Wilde Mรผllkippen, Industrieabwรคsser, Pestizide und Dรผnger verseuchen die Bรถden. Im Chemiedreieck Leipzig โ€“ Halle โ€“ Bitterfeld trรคnen den Menschen die Augen im Smog, es stinkt, Atemwegserkrankungen hรคufen sich, die Hรคlfte des Waldbestands ist krank oder tot โ€“ รคhnlich wie in der Bundesrepublik.

โ€žAlles in der DDR ist grau, nur die Flรผsse sind buntโ€œ, spรถttelt der sarkastische Volksmund hinter vorgehaltener Hand. Oder: โ€žWas macht ein Aal in der Saale? Er lernt Chemiefacharbeiter.โ€œ

Als ein Staatsbรผrgerkundelehrer vor seiner Klasse ernsthaft behauptet, aus den heimischen Schornsteinen kรคme nur โ€žsauberer Dreckโ€œ, kรถnnen weder Schรผler noch Kollegen des Mannes ihr Lachen unterdrรผcken. Fรผr die Politik, die derlei Missstรคnde eher fรถrdert als eindรคmmt, selbst die Tschernobyl-Katastrophe herunterspielt, fehlt den Menschen jedes Verstรคndnis. Auch oppositionelle Umweltgruppen werden zu einem Sargnagel des SED-Regimes.

Der โ€žNeue Kalte Kriegโ€œ

So hat die DDR ihr Legitimationsarsenal in den achtziger Jahren aufgezehrt. Missmut und Mehltau liegen bleiern รผber der Gesellschaft, neben Finanzhilfen aus dem Westen hรคlt Improvisationskunst die maroden Betriebe noch am Leben. AuรŸer der Automobil-Industrie und der Mikroelektronik, die allerdings Jahre hinter dem internationalen Niveau liegt, sind die dringend benรถtigten Investitionen im Inneren fast ausgeblieben.

Die Jugend rennt dem System davon. VerheiรŸungen zum Aufbau des Kommunismus, die zwanzig Jahre vorher noch ansatzweise wirkten, liegen Lichtjahre weit weg. Das Netz aus SED, Gewerkschaftsbund und Massenorganisationen sagt lรคngst nichts mehr รผber Einstellungen seiner Mitglieder. Selbst innerhalb der Stasi staut sich der Frust. Die Geheimpolizei von Erich Mielke gibt ungeschรถnte Stimmungsbilder an die SED weiter. Die reagiert nicht.

International hatte sich die Konfrontation seit den ausgehenden siebziger Jahren mit der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen in Osteuropa und dem NATO-Doppelbeschluss verschรคrft. Die USA planen unter Ronald Reagan den Krieg im Weltall, die Sowjetunion marschiert 1979 in Afghanistan ein und die polnische Regierung bekรคmpft die Gewerkschaft โ€žSolidarnoล›ฤ‡โ€œ per Kriegsrecht.

Auch auf dem deutsch-deutschen Parkett wird der Ton rauer. 1980 stellt Honecker Forderungen Richtung Bonn, etwa die Anerkennung der DDR-Staatsbรผrgerschaft und die Aufwertung der BRD-Vertretungen in der DDR zu regulรคren Botschaften. Er agiert taktisch, um die Sorge der Sowjets vor dem Westflirt ihres Vorpostens zu mindern. Dennoch lรคsst sein harsches Gebaren eine Wiedervereinigung der deutschen Staaten nicht in greifbarer Nรคhe scheinen.

Moskau und Ost-Berlin auf Distanz

Nach dem Amtsantritt des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow im Mรคrz 1985 entspannt sich die internationale Lage. Die Politik des neuen Machthabers bringt die SED in Erklรคrungsnot. Mit โ€žGlasnostโ€œ (Offenheit) und โ€žPerestroikaโ€œ (Umbau) versucht Gorbatschow, die Probleme in der Gesellschaft zu benennen und im Rahmen des kommunistischen Systems zu lรถsen.

Die DDR-Gesellschaft nimmt den rasenden Stillstand der achtziger Jahre im Spiegel der sowjetischen Reformdiskussion nun nicht nur als Stagnation wahr, sondern als Rรผckschritt. Die SED geht auf Distanz zu dem Land, von dem es bis vor kurzem noch galt, โ€ždas Siegen zu lernen.โ€œ Eine durchaus rationale Furcht vor dem Kontrollverlust durch die Reformdebatten des โ€žgroรŸen Brudersโ€œ รคngstigt die Clique um Honecker wie kaum etwas anderes. โ€žWir haben schon zur Sowjetunion gehalten, da lief man dort noch in Bastschuhen!โ€œ, giftet der ostdeutsche Parteichef im kleinen Kreis.

Als sein Chefideologe Kurt Hager 1987 in einem Interview mit dem westdeutschen โ€žSternโ€œ die Frage nach Gorbatschow barsch abbรผrstet, man mรผsse seine Wohnung nicht neu tapezieren, nur weil der Nachbar es tut, reicht das Entsetzen bis in die SED. Solange โ€žDieโ€œ das Sagen haben, รคndert sich in diesem Land nichts โ€“ so die Erkenntnis.

Dynamik der Ereignisse

In einem Punkt behรคlt โ€žTapeten-Kutteโ€œ, wie Hager nun spรถttisch genannt wird, sogar recht. Denn auch Gorbatschow will keineswegs die Pfeiler des Systems beseitigen, sondern ihnen eine neue Fassade verpassen. Doch zweieinhalb Jahre spรคter stellt sich die Frage nach dem Tapezieren nicht mehr. Vielmehr werden 1989/90 die Fundamente des Systems in einem atemberaubenden Tempo abgerissen.

Zeichen der Krise mehren sich schon vorher. Das Debakel der Wirtschaft und die drohende Zahlungsunfรคhigkeit der hochverschuldeten DDR bewegen selbst Wirtschaftssekretรคr Gรผnter Mittag im Herbst 1988 zur Erkenntnis, man sei an einem Punkt, wo โ€ždie Sache umkippen kann.โ€œ

Jahre danach zeigt sich, dass die DDR im engeren Sinne 1989 noch nicht โ€žpleiteโ€œ war. Massive Exportbemรผhungen und heimliche Geschรคfte abseits der offiziellen Bilanz waren nicht ganz ohne Resultat geblieben. Doch konnten die Erlรถse nur Lรถcher stopfen, die anderswo wieder aufrissen. Von einem monetรคren Bankrott kann eher nicht gesprochen werden, aber mit guten Grรผnden von einem moralischen.

Im Zuge der gefรคlschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 treten die Oppositionsgruppen selbstbewusst auf und prangern die Manipulationen an. Die auf ihr Ansehen fixierte DDR-Fรผhrung will sich offene Gewalt im Auge der westlichen ร–ffentlichkeit nicht leisten.

Schon im Februar 1989 sorgt die ErschieรŸung des 20-jรคhrigen Chris Gueffroy bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer fรผr einen Aufschrei. Im Sturm internationaler Proteste hebt die SED den stets bestrittenen SchieรŸbefehl an der Grenze auf. Gueffroy ist das letzte von hunderten Opfern, das durch Kugeln an der Mauer zu Tode kommt.

Auch subtile Methoden der Einschรผchterung Oppositioneller durch die Stasi verfangen nicht mehr. Immer offener treten einzelne Gruppen fรผr eine demokratische Umgestaltung ein. Sogar die SED ist in weiten Teilen gelรคhmt, zumal sie erkennt, dass sie anders als beim Juni-Aufstand 1953 keine Hilfe aus Moskau zu erwarten hat.

Das Ende der DDR

Zwei Tage nach den grotesk anmutenden Feierlichkeiten zum 40. DDR-Jahrestag am 7. Oktober 1989 gehen allein in Leipzig 70.000 Menschen auf die StraรŸe. Die Stimmung steht auf Messers Schneide. Doch das befรผrchtete Blutbad bleibt aus. Tage spรคter lรถst Egon Krenz den scheinbar allmรคchtigen Honecker als Generalsekretรคr ab.

Mit dem Fall der Berliner Mauer in der Nacht zum 10. November 1989 verliert die SED ihren letzten Trumpf fรผr Verhandlungen mit der Bundesrepublik. Die erste freie DDR-Parlamentswahl am 18. Mรคrz 1990 bildet einen wichtigen Markstein fรผr den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, der am 3. Oktober 1990 stattfindet. Wenige Tage vor seinem 41. Geburtstag verschwindet das kleine Land endgรผltig im Orkus der Geschichte.

Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Westlich von Leipzig 1891

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jรผdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Der I. Weltkrieg โ€“ Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918

Leipzig in den โ€žGoldenen 20ernโ€œ

Leipzig im Jahr 1932

Alle Zeitreisen auf einen Blick

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