Am morgigen Freitag, 29. November, verlegt der Kรถlner Kรผnstler Gunter Demnig in Leipzig 16 neue Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Das Projekt Stolpersteine erinnert und vergegenwรคrtigt das Leid von jรผdischen Mitmenschen, aber auch von Kindern und Erwachsenen, die den nationalsozialistischen โNormenโ nicht entsprachen, darunter Menschen mit Behinderungen, Sinti und Roma, Homosexuelle sowie politisch Andersdenkende.
Und auch allen anderen von der Ideologie des Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten. Ein hochaktuelles Thema in einer Zeit, in der menschenfeindliche Haltungen am rechten Rand des politischen Spektrums wieder forciert werden. Als hรคtten die Vertreter dieser Haltungen nichts gelernt. Haben sie wohl auch nicht. Sie wissen genau, wie man eine lebendige und weltoffene Gesellschaft zerstรถrt, indem man immer neue Minderheiten und Auรenseiter definiert. In der NS-Zeit gipfelte das dann in Verfolgung, Verhaftung, Vertreibung und Massenmord.
Dass das nie wieder passiert, auch daran sollen die Stolpersteine erinnern.
Seit mehr als zehn Jahren werden diese Erinnerungsmale in Leipzig verlegt. Am heutigen 29. November folgen weitere 16 Steine, die in der Nรคhe der einstigen Wohnhรคuser der Opfer in den Gehweg eingelassen werden.
Der Woll- und Seidenhรคndler aus der Fockestraรe
Die Verlegung neuer Stolpersteine beginnt um 13 Uhr in der Oeserstraรe 23. Dort lebten die Eheleute Jenny und Siegmund Adler gemeinsam mit Jennys Mutter Clementine Spiegl. Siegmund Adler gehรถrte zu den vielen jรผdischen Mรคnnern, die am 10. November 1938 verhaftet wurden. Fรผr mehrere Wochen war er im KZ Buchenwald inhaftiert. 1940 mussten alle drei in eines der sogenannten โJudenhรคuserโ ziehen. Am 19. September 1942 wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Im dortigen Ghetto kam Mutter Clementine Spiegl kurze Zeit spรคter um. Zwei Jahre spรคter, am 28. September 1944, wurden die damals 51-jรคhrige Jenny und der 53-jรคhrige Siegmund Adler nach Auschwitz verlegt und ermordet.
Um 13:30 Uhr wird in der Fockestraรe 8b dem Schicksal der vierkรถpfigen jรผdischen Familie Sonder gedacht. Diese besaร ein Geschรคft fรผr Seiden-, Woll-, und Baumwollstoffe, Gardinen und Teppiche. Ihr Geschรคft รผberstand die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929 und die ersten Boykottaktionen der Nationalsozialisten ab 1933 noch relativ unbeschadet, doch im Frรผhjahr 1935 begannen die gezielten Angriffe der Nationalsozialisten auf die Firma, um den jรผdischen Geschรคftsmann Arthur Sonder zu enteignen.
Unter Anklage, entweder ein hohes Buรgeld zahlen oder fรผnf Monate Gefรคngnisstrafe ableisten zu mรผssen, beugte er sich dem Druck. Ende 1935 wurde die Firma an das NSDAP-Mitglied Curt Hentschel zwangsverkauft. Die Familie floh im Sommer 1936 nach England. Zwei Jahre spรคter wurde ihr die deutsche Staatsbรผrgerschaft aberkannt und ihr zurรผckgelassenes Vermรถgen konfisziert.
Danach wird um 14:15 Uhr an Werner Kรคhler erinnert, der zuletzt in der frรผheren Turnerstraรe 9, heute Ecke Bauhofstraรe/Turnhalle, wohnte. Aufgrund seiner Homosexualitรคt wurde er seit 1935 immer wieder verhaftet und als โBerufsverbrecherโ stigmatisiert. Nachdem er bei einer Razzia am 22. Juni 1940 in der Gaststรคtte Burgkeller mit seinem Partner Erhard Otto Hartmann von der Gestapo festgenommen wurde, setzte sich die Tortur fort: Zuerst kam er ins Untersuchungsgefรคngnis, dann in das Zuchthaus in Bautzen und zur Geheimen Staatspolizei Leipzig, schlieรlich in die KZs Buchenwald, Ravensbrรผck und Sachsenhausen.
Er รผberlebte und konnte 1945 aus Sachsenhausen befreit werden. Sein Partner Hartmann war am Ende ebenfalls im KZ Sachsenhausen. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.
Keine Rettung in Polen und Frankreich
Um 15:00 Uhr wird ein weiterer Stolperstein in der Thomasiusstraรe 7 verlegt. Hier lebte der jรผdisch glรคubige Moritz Neger mit seiner Frau Rosa Berl und den vier Kindern. Die Familie hatte aufgrund der Herkunft von Moritz die polnische Staatszugehรถrigkeit, wodurch sie unter die Abschiebepraxis der Nationalsozialisten fielen. Wรคhrend die รคlteste Tochter, Chana, die mit einem Schweizer verheiratet war und bereits in Basel lebte und so unterdessen die Familie bis auf den Vater zu sich holen konnte, wurde Vater Moritz Neger am Tag der sogenannten โPolenaktionโ am 28. Oktober 1938 aus Deutschland abgeschoben. Eine Rรผckkehr fรผr ihn war schwierig. Was mit ihm geschah bleibt unbekannt. Vermutungen zufolge soll er nach 1942 in Auschwitz ermordet worden sein.
Um 15:30 Uhr wird in der Keilstraรe 18 Familie Goldfaden gedacht. Dort lebte Cilka Affenkraut nach dem Tod ihres Ehemannes, Chiel (Carl) Kalman Goldfaden, mit ihren drei Kindern in groรer Armut. Es gelang ihr, die beiden Mรคdchen mithilfe einer jรผdischen Hilfsorganisation nach Palรคstina zu bringen. Sohn Gerhard kam am 1. Mรคrz 1939 mit einem Kindertransport nach England und konnte 1948 nach Israel ausreisen. Mutter Cilka Goldfaden gelang die Flucht nicht. Ab 1941 wohnte sie in einem der sogenannten โJudenhรคuserโ. 1942 wurde sie ins Ghetto von Riga deportiert und kam 1944 als 57-Jรคhrige ins KZ Stutthof. Dort verliert sich ihre Spur.
Bei der letzten Verlegung um 16:00 Uhr in der Gohliser Straรe 2 wird an die jรผdisch glรคubigen Geschwister Anna und David Schanzer erinnert. Beide waren Verwandte von Moritz Neger (siehe Stolpersteinverlegung in der Thomasiusstraรe 7). David Schanzer war es durch das โGesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehreโ verboten, seine nichtjรผdische Partnerin Marie Kรถllner zu heiraten.
1939 flohen die Geschwister nach Frankreich. Nach dem deutschen รberfall misslang eine weitere Flucht in die Schweiz. Stattdessen wurden sie von den Schweizer Behรถrden an die franzรถsische Vichy-Regierung ausgeliefert. Im Oktober 1942 kamen sie in das Lager Drancy. David Schanzer (41 Jahre) wurde am 4. November 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet, Anna Schanzer (verheiratete Fuchs, 37 Jahre) zwei Tage spรคter.
Die Leipziger Stolpersteine
Seit 2006 erinnern insgesamt 549 Stolpersteine in Leipzig an Opfer der NS-Diktatur
In Leipzig begann das Projekt am 3. April 2006 mit der Verlegung von 11 Steinen durch den Kรถlner Bildhauer Gunter Demnig. Koordiniert werden seitdem sรคmtliche Verlegungen durch die Arbeitsgemeinschaft โStolpersteine in Leipzigโ, die von der Stadt Leipzig beauftragt ganz bewusst parteiรผbergreifend arbeitet. Die Arbeitsgruppe koordiniert nicht nur die Steinverlegungen, sondern steht fรผr die Betreuung interessierter Gruppen und deren Recherchen zur Verfรผgung, plant Termine rund um die Stolpersteine, kรผmmert sich um den medialen Auftritt der Projekte und hรคlt Kontakt zu Hinterbliebenen und Angehรถrigen.
Zur Arbeitsgruppe gehรถren das Archiv Bรผrgerbewegung Leipzig, die Gedenkstรคtte fรผr Zwangsarbeit in Leipzig, der Ev.-Luth. Kirchbezirk Leipzig und das Bรผrgerkomitee Leipzig e. V., Trรคger der Gedenkstรคtte Museum in der โRunden Eckeโ. Durch das Engagement und die investierte Arbeit dieser Einrichtungen konnten die STOLPERSTEINE Erinnerungen an die Schicksale der vielen Opfer im Nationalsozialismus schaffen und so einen wichtigen Teil zum kollektiven und auch individuellen Bewusstsein der Stadt beitragen.
Das Projekt Stolpersteine braucht Paten
Um die Geschichte weiterer individueller Schicksale aus Leipzig in Erinnerung zu rufen, braucht das Projekt Stolpersteine auch kรผnftig die Unterstรผtzung vieler Menschen. Fรผr jeden Stolperstein werden Paten gesucht: Privatpersonen oder Vereine, Stiftungen, Parteien etc. kรถnnen das fรผr die Herstellung und Verlegung nรถtige Geld (120 โฌ pro Stein) spenden (Konto der Stadt Leipzig: Ktnr. 1010001350, BLZ 86055592, Sparkasse Leipzig, Verwendungszweck/Zahlungsgrund โ unbedingt angeben VG 5.0451.000007.0).
Anliegen des Projekts ist es, im รถffentlichen Stadtraum, unmittelbar vor den frรผheren Wohnstรคtten von Opfern des Nationalsozialismus, auf deren Schicksal aufmerksam zu machen. Der Kรถlner Bildhauer Gunter Demnig, der รคhnliche Projekte in zahlreichen anderen Stรคdten betreut, fertigt dazu Betonsteine mit verankerter Messingplatte in einer Grรถรe von 10x10x10 Zentimetern und lรคsst diese in die Gehwege vor den ehemaligen Wohnhรคusern der Deportierten ein.
In die Messingtafel des Steins sind die Worte โHier wohnteโ und darunter Name, Jahrgang und Schicksal der betreffenden Person eingestanzt.
Rodig reflektiert: Das Grauen โGeh rein und tรถte allesโ + Video
Rodig reflektiert: Das Grauen โGeh rein und tรถte allesโ + Video
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