Man macht ja so Entdeckungen, wenn man herumläuft und schon mal den Tatort eines kommenden kleinen Festaktes beäugt, der am Mittwoch, 30. Oktober, um 11 Uhr in der Schorlemmerstraße in Gohlis stattfinden soll. Dort soll – im Kontext des 100-jährigen Jubiläums des Bauhauses und der Ausstellung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek – der Typograf und Buchgestalter Jan Tschichold mit der Anbringung einer Gedenktafel an seinem einstigen Wohnhaus geehrt werden.

Die Tafel für den Leipziger Gutenberg-Preisträger wird von Kulturamtsleiterin Susanne Kucharski-Huniat gemeinsam mit der Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums, Stephanie Jacobs, am kommenden Mittwoch, 30. Oktober, um 11 Uhr, enthüllt. Interessierte Bürgerinnen und Bürger sind dazu herzlich eingeladen.

Obwohl selbst nie am Bauhaus tätig gewesen, gilt der in Leipzig geborene Typograf und Buchgestalter Jan Tschichold als einer der wichtigsten Vertreter der neuen Typografie. Seine Entwürfe sind Klassiker des Grafik-Designs und begeistern nicht nur die internationale Fachwelt bis heute. 1925 veröffentlichte er die Schrift „Elementare Typographie“, welche als Schlüsseldokument der Neuen Typografie gilt. Trotz zahlreicher gestalterischer Brüche, unter anderem durch das erzwungene Schweizer Exil ab 1933, zählt Jan Tschichold durch sein Wirken zu den wichtigsten Typografen des 20. Jahrhunderts. Die aktuelle Ausstellung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum gewährt einen umfangreichen Blick in den künstlerischen Nachlass des Typografen Jan Tschichold.

Die Gestaltung der Gedenktafel übernahm der Typograf Maurice Göldner.

Der Text der Tafel lautet:

In diesem Haus wohnte
von 1922 bis 1924
der deutsch-schweizerische Typograph,
Schrift-, Plakat- und Buchgestalter

Jan Tschichold
(1902 Leipzig – 1974 Locarno)

Nach der Machtergreifung der
Nationalsozialisten emigrierte Tschichold,
Vertreter der „Neuen Typographie“,
1933 in die Schweiz.

1965 erhielt er den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig.

Stadt Leipzig 2019

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So weit die Stadt Leipzig. Die sich meist gar nicht interessiert dafür, wer da vielleicht noch so alles wohnte im Haus Fritzschestraße 8, denn so hieß die Straße damals, als Jan Tschichold dort wohnte, im Adressbuch als Jan Tzschichhold angegeben. Benannt war die Straße seit 1906 nach dem Kaufmann und Parfüm-Fabrikanten Hermann Traugott Fritzsche, der 1906 verstorben war, aber nicht so ganz unwichtig war, denn er war Inhaber der bekannten chemischen Fabrik Schimmel & Co und einer der Begründer der Industrie ätherischer Öle in Deutschland, wie uns die „Deutsche Biographie“ verrät. Das Unternehmen gibt es heute als Duft- und Aromakompositionen GmbH Miltitz im Besitz der amerikanischen Firma Bell, Flavors & Fragrances immer noch.

Da staunt man schon, warum sich die Stadt Leipzig da ausgerechnet 1968 genötigt sah, diese Straße umzubenennen nach dem Chemiker Carl Schorlemmer, der ganz sicher seine Verdienste hatte bei der Erforschung der Kohlenwasserstoffe. Nur mit Leipzig hatte er nichts zu tun. Außer dass er mit Karl Marx und Friedrich Engels enger bekannt war, die Leipzig ja zumindest mal besucht haben.

Wer nun aber im Adressbuch nach den direkten Nachbar von Jan Tschichold sucht, stolpert nicht nur über den Lokomotivführer Cyzorek und einige Kaufmänner und Direktoren. Er findet auch einen gewissen Geheimen Hofrat Prof. Dr. G. Steindorff. Das ist tatsächlich niemand anders als der berühmte Ägyptologe Georg Steindorff, nach dem die Universität Leipzig seit 2008 auch ihr Ägyptisches Museum benannt hat. Und just in der Zeit, als er im selben Haus wie Jan Tschichold wohnte, erlebte er auch als Rektor den Höhepunkt seiner universitären Karriere.

Mit Jan Tschichold gemein hat er, dass auch er vor der Judenverfolgung der Nazis emigrieren musste. Seine ägyptische Sammlung verkaufte er 1937 vor seiner Ausreise an die Universität Leipzig, was ja dann 1992 bis 2011 zu einem Streit über die Besitzrechte an diesen Sammlungsstücken nach sich zog. Nach einem Bericht in der F.A.Z. verzichtete die Jewish Claims Conference (JCC) 2011 auf ihren Restitutionsanspruch, sodass Steindorffs Sammlung in Leipzig bleiben konnte.

Steindorff wohnte in der zweiten Etage, Tschichold in der ersten. Da lohnt sich auch der Blick auf einen direkten Nachbarn, den uns das Adressbuch als Prof. Dr. A. Doren vorstellt. Auch der kein Unbekannter. 1923 war er auf das gerade frisch gegründete Extraordinariat für Wirtschaftsgeschichte der Universität Leipzig berufen worden. Studiert hatte er u.a. bei Karl Lambrecht und war ausgewiesener Spezialist für italienische Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Aber auch ihn vergraulten die Nazis wegen seiner Abstammung von der Universität. Er starb – gerade 65 Jahre alt – schon 1934.

„Er hat nicht eine konkrete historische Person, die er in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, sondern einen ganz bestimmten Typus des ,Renaissancemenschen‘, den Kaufmann“, schreibt Wikipedia zu Dorens Arbeit. „In gewisser Weise ist seine Wirtschaftsgeschichte der italienischen Renaissance, die sehr vom Einfluss Jacob Burckhardts und seinen Vorstellungen von der italienischen Gesellschaft der Renaissance geprägt ist, eher eine Kulturgeschichte der Wirtschaft.

Doren vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass die Renaissance eine genuine Leistung der Italiener sei, wenn er auch den Einfluss anderer Kulturen anerkannte. Italien wurde gleichsam von ihm zum Ursprungsland des Kapitalismus gemacht. Das und sein Kapitalismusbegriff, der sich von dem von Karl Marx deutlich unterschied, stieß vielfach auf Kritik.“

Woran nicht Karl Marx schuld ist, sondern vor allem die Tatsache, dass die Nazis einen Großteil der damals in Deutschland wirksamen Mediävisten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft zur Ausreise zwangen. So geriet die Tatsache, dass das moderne Bankwesen in Italien seinen Ursprung hat, regelrecht aus dem Fokus – man konzentrierte sich lieber auf den Kapitalismus der angelsächsischen Prägung.

„In Deutschland hingegen war für eine Erinnerung an Doren insgesamt nur wenig Raum vorhanden und Interesse, was zur Bedeutung seines Werkes im starken Kontrast steht“, stellt Wikipedia fest.

An das Haus Schorlemmerstraße 8 gehören also noch zwei Gedenktafeln, die dann – im Verein mit der Tafel für Jan Tschichold – davon erzählen, was für eine Verwüstung die Nationalsozialisten in der deutschen Forschung und Wissenschaft angerichtet haben.

 

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