Geschichte passiert ständig. Direkt vor unserer Nase, auch wenn wir es nicht merken und meinen, dazu brauche es ordentliche Schlachten, Regierungspaläste, Könige oder Revolutionen wie 1989. Aber dass man direkt dabei war bei jeder Menge „anderer“ Geschichte, das merkt man meist erst, wenn man alt wird und den Enkeln versucht zu erzählen, wie es früher in der eigenen Straße aussah. Und Werner Franke in Großzschocher hat jede Menge zu erzählen.
Auch weil er schon vor Jahren das kleine Museum „Heimatblick“ einrichtete, wo er alles sammelt, was er zur Geschichte von Großzschocher-Windorf finden oder bekommen kann. Er bittet ja seine Nachbarn und Mitbürger schon regelmäßig, alte Erinnerungsstücke nicht einfach wegzuwerfen, wenn man fortzieht oder wenn ein Haushalt aufgelöst wird. Denn diese Erinnerungstücke erzählen genau von all den Dingen, die Menschen dort, wo sie aufwuchsen, erlebt haben. Oft genug von längst Verschwundenem, von dem man nur noch erzählen kann, wenn sich jemand daran erinnert, es festhält und aufschreibt.
Aber den großen Historikern sind kleine Dörfer oder gar Ortsteile in der Regel suspekt. Das ist ja keine „große Geschichte“. Obwohl die Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“, die sich vor 15 Jahren zusammentat, das Gegenteil bewiesen hat. Die Gruppe emsiger Ortseilforscher aus Großzschocher wollte eigentlich nur eine neue Chronik für ihren Ortsteil schreiben, ein modernes Pendant zu den alten Pfarrerschroniken. Aber das neugierige Dutzend merkte schnell, dass auch so ein kleiner Ortsteil mehr Geschichte zu bieten hat, als in ein Buch passt. Die Chronik wurde zu fünf großen, reich bebilderten Bänden.
Und auch danach traf sich die Gruppe weiter, fand immer neue Themen, erkundete immer neue Ortsgeschichten. Etliches davon fließt dann in die großen Bildvorträge ein, die Werner Franke entweder im „Heimatblick“ oder auch in der nahen Apostelkirche zeigt. In hunderten Bildern wird Gewerbe, Vereinsleben, Gastlichkeit und Alltag der vergangenen 100 Jahre lebendig, für die es meist noch viele Fotos und Erinnerungen gibt.
Und jedes Jahr stellt er auch einen ganz speziellen Kalender für Großzschocher zusammen, bemüht, dafür auch jedes Mal ein spannendes Thema zu finden. Und man findet es, wenn man nur neugierig durch die Straßen geht und nicht nur auf seine Füße schaut, sondern auch mal hoch zu den liebevoll sanierten Fassaden der Häuser. Auch Großzschocher wurde in den letzten Jahren fast komplett durchsaniert. Dabei wurden auch hier viele zuvor im Altersgrau verschwundene Details wieder sichtbar, kleine Skulpturen, künstlerische Elemente, mit denen die Bauherren damals ihren Häusern einen ganz persönlichen Stempel aufdrückten.
Werner Franke gab seinen Fotos der schmuck sanierten Gebäude und der Schmuckelemente zwar den großen Rahmen „Gründerzeit“. Aber Großzschocher kam – für Leipziger Verhältnisse – doch relativ spät in den Sog der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums. Die meisten neuen Gebäude an den Hauptstraßen entstanden erst nach 1900, eher um 1910. Und das ist ihnen auch künstlerisch abzulesen.
Das Eckgebäude gleich an der Dieskaustraße, in dem heute die Sparkasse zu finden ist, gehört unter den Neubauten schon zu den älteren, wurde 1898 erbaut und war die Arztpraxis von Dr. Erich Freund. Gleich unter dem Erker kann man seine Initialen lesen: „E.F. 1896“. Aber wer schaut beim Spazierengehen schon nach oben und entdeckt so etwas? Kaum jemand. Und auch die Zschocherschen, die jedes Jahr schon fiebernd auf den neuen Kalender warten, werden zum Teil überrascht sein, was es über Kopfhöhe so alles zu sehen gibt. Der Kalender macht zumindest auf die markantesten dieser Hauszeichen aufmerksam. Das Gebäude Dieskaustraße 112 ist gleich das erste im Kalender, das Januar-Motiv.
Und Werner Franke hat sich kurz gehalten mit der Bildunterschrift. Er könnte zu jedem Haus und seinen Bauherren eine Menge erzählen. Zum Beispiel, wie schnell es damals ging, so ein Haus zu bauen. 1897 stellte Dr. Erich Freund den Bauantrag, 1899 war das Haus fertig. Als das Haus gebaut wurde, stand es noch gar nicht an der Straßenecke. Der Durchbruch zur Huttenstraße erfolgte erst später.
Aber wo gab so ein Dorfarzt (Großzschocher-Windorf wurde ja erst 1922 nach Leipzig eingemeindet) so einen Bau in Auftrag? Natürlich direkt im Ort. Bei Bauunternehmer Anton Schmidt, der nicht nur Häuser baute, sondern sie auch plante. Deswegen wird er in den Bauunterlagen auch als Architekt geführt. Das Adressbuch von Großzschocher für das Jahr 1902 weist ihn für die Mühlenstrasse Nr. 8 aus. „Das ist gleich hier nebenan“, freut sich Werner Franke, der schon irgendsoetwas hat läuten hören. Aber gezielt nach Anton Schmidt im Adressbuch zu suchen, dazu hatte er noch keine Zeit.
Das Adressbuch von 1902 hat die sächsische Landesuniversitätsbibliothek noch nicht digitalisiert. Für Großzschocher-Windorf findet man aber das von 1908. Da wohnte der Baumeister Anton Schmidt noch immer in der Mühlenstraße 8. Und es steht auch Dr. med. Erich Freund drin als praktizierender Arzt, aber nicht in der Dieskaustraße 112, sondern in der Kirchstraße 11. Das ist die heutige Huttenstraße, die aber erst seit 1928 so heißt.
Und auch die anderen Gebäude, die Werner Franke in den Kalender aufgenommen hat, haben eine solche mit ganz konkreten Menschen verbundene Geschichte, von denen sich da und dort eben auch noch schriftliche Nachweise erhalten haben. So wie das Haus Friedrich-Schmidt-Straße 3, 5 und 7, dem man schon ansieht, dass es jünger ist, erbaut 1910/1911 im sogenannten Reformstil. Der nahm schon Abschied von der Opulenz der Gründerzeit. Aber er ist noch nah beim Jugendstil, der sich bei vielen Zschocherschen Wohnhäusern findet. Ein Obstkorb-Ornament macht es deutlich.
Mit der Jakobschen Villa in der Huttenstraße 12 zeigt Werner Franke im März einen echten Geheimtipp, denn um die Wohnhausvilla zu sehen, muss man eine kleine Sackgasse betreten. Erbaut 1911, das verrät auch eins der Ornamente, im Auftrag des Grundstückbesitzers Jakob. Denn die Bauern in Großzschocher waren ja ursprünglich die Eigentümer der Parzellen, die sie aufteilten und oft in Eigenregie bebauen ließen, um der wachsenden Bevölkerung neuen Wohnraum zu schaffen. Auch gern für gut betuchte Mieter, die in den neuen Fabriken leitende Funktionen innehatten oder im längst mit der Straßenbahn erreichbaren Leipzig arbeiteten.
Und gleichzeitig mauserte sich Großzschocher als Endpunkt der Straßenbahn auch zum beliebten Ausflugsziel. Deswegen gab es gleich mehrere bei Ausflüglern beliebte Gaststätten im Ort, darunter die „Froschburg“ in der Buttergasse 18, 1896 als Mietshaus erbaut, gleich mit Gaststätte, Turnhalle und der Froschskulptur in der Nische überm Eingang.
Der Kalender animiert also regelrecht dazu, ab und zu stehenzubleiben und nach oben zu schauen. Zum Beispiel auch bei den offiziellen Rundgängen von Leipzig Details, die durch Großzschocher führen und die im Kalender auch vermerkt sind.
Für 10 Euro bekommt man die informativen Kalender wieder in allen bekannten Verkaufsstellen in Großzschocher und natürlich bei Werner Franke in der Herberge „Zur alten Bäckerei“.
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