Wie umgehen mit dieser DDR-Geschichte? Das ist auch in Leipzig eine Frage. Eine Frage, die auch Roland Mey umtreibt, der 1990 als Stadtrat fรผr die SPD gewรคhlt wurde, im Ruhestand aber รผberhaupt nicht ruhen will. Und dass der einstige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur bis heute immer wieder als Held der Friedlichen Revolution gepriesen wird, findet er inakzeptabel. Seine kleine Broschรผre โKurt Masur entzaubertโ ist im Lauf der Jahre also immer seitenreicher geworden.
Er ist zwar kein Musikhistoriker. Um das Leben von Kurt Masur wirklich in allen Aspekten einordnen zu kรถnnen und zumindest einmal von den รผblichen glattgestriegelten Biografien wegzukommen, mรผsste sich natรผrlich ein ausgebildeter Historiker in die Archive knien, Dokumente befragen, die Zeitbedingungen beschreiben und das Leben des 1927 geborenen Leipziger Ehrenbรผrgers im Wechselspiel mit der Zeitgeschichte einordnen. Ein Wechselspiel, das auch die Staatsnรคhe mit einschlieรt. Ein Thema, auf das in der jetzt vorliegenden Ausgabe von โKurt Masur entzaubertโ Dr. Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universitรคt Berlin in seinem Vorwort eingeht.
Denn berรผhmte Dirigenten sind auch immer Aushรคngeschild fรผr den Staat, in dem sie wirken. Als markantes Beispiel nennt Staadt den Dirigenten Wilhelm Furtwรคngler. Und er geht auf die Symbiose der โkulturellen Eliteโ und ihrer Dirigentenstars ein, die manchmal seltsame Kapriolen schlรคgt. Bis in die Zeitungen der Zeit hinein, wie Staadt schreibt: โDie Berliner Zeitung โDer Morgenโ schrieb, das untergegangene NS-Regime habe mit dieser โuntadeligen Kรผnstlernaturโ einen frivolen Missbrauch getrieben. Angesichts des โunwรผrdigen peinlichen Schauspielsโ bei seiner โRehabilitierungโ sei ein โmachtvolles Beifallsrauschenโ ertรถnt, als der Meister die Bรผhne betrat.โ Das war 1947.
Und Staadts kleiner Ausflug zeigt, wie sehr Hochkultur einerseits nicht nur zur Legitimation diverser Diktaturen dient. Die jeweiligen Machthaber beweisen ihre Kunstsinnigkeit ja in der Regel dadurch, dass sie bei solchen Konzerten in der ersten Reihe sitzen. Die Flucht in eine scheinbar unpolitische Kulturkonsumtion verschafft auch der kulturellen Elite eines Landes einen Raum der scheinbaren Nichtbetroffenheit und Rechtfertigung.
Vielleicht ist es das, was Roland Mey so aufregt an der undifferenzierten Kurt-Masur-Pflege, die vรถllig ausblendet, dass auch der Maestro groรe Zugestรคndnisse an die Staats- und Parteifรผhrung der DDR machen musste, um รผberhaupt in die Rolle der musikalischen und gesellschaftlichen Autoritรคt gelangen zu kรถnnen, die ihm 1989 ermรถglichte, zum anerkannten Sprecher der Leipziger Sechs zu werden, dessen Stimme auch den Leipzigern bekannt war.
Auf jeden Fall nervt ihn der vรถllig distanzlose Rummel um den langjรคhrigen Gewandhauskapellmeister, dessen Biografie auf jeden Fall eine Menge Ecken und Kanten hat und eine Menge Fragen aufwirft. Fragen, die durchaus auch den Leiter des Gewandhausarchivs Claudius Bรถhm beschรคftigen, der im Interview mit dem Deutschlandfunk die Argumente Roland Meys durchaus ernst nahm, Kurt Masur aber nicht als Opportunisten bezeichnen wรผrde. Das Interview findet man auch in der Broschรผre. Auch weil Bรถhm genauso wie Leipzigs Kulturbรผrgermeisterin Skadi Jennicke sehr wohl Forschungsbedarf zur Person Kurt Masur sehen.
Denn es geht nun einmal nicht, jemanden, der so ganz offensichtlich Teil der staatlich gefรถrderten Hochkultur in der DDR war, nur unter den blankgewetzten Labeln eines Stardirigenten oder gar โBรผrgerrechtlersโ zu verkaufen, der Masur nicht war. Dass er im Herbst 1989 ein gewisses Format gezeigt hat, spricht fรผr ihn. Und ganz bestimmt wรคre er ein markantes Beispiel fรผr den Zwiespalt, in dem ein Musiker in der DDR leben und arbeiten musste, wenn er auf eine derart markante Position kommen wollte. Es wรคre eher seltsam, wenn das ausgerechnet bei Kurt Masur anders gewesen sein sollte.
Der Verweis auf Furtwรคngler zeigt nรคmlich auch, dass die westdeutsche Hochkultur nach 1945 von ganz รคhnlichen Brรผchen, รbergรคngen und erstaunlichen Neustarts zu erzรคhlen weiร. Das berรผhmteste Beispiel ist ja der โgottbegnadeteโ Schauspieler Gustav Grรผndgens, den Klaus Mann schon 1936 in seinem Roman โMephistoโ portrรคtierte.
Ist das vergleichbar, dieser (west-)deutsche Umgang mit der alten Kรผnstlerelite des NS-Reiches, die nun wieder von einem klatschenden Publikum begrรผรt wurde, und der Umgang mit der gehobenen Kรผnstlerelite der DDR nach 1989?
Eine nicht ganz einfache Frage. Und natรผrlich ein nicht ganz uninteressantes Forschungsthema, das gerade im 30. Jahr der Friedlichen Revolution hochaktuell ist.
Roland Mey โKurt Masur entzaubertโ, Selbstverlag, Leipzig 2019, 3 Euro.
Die Broschรผre wird sowohl von der Lehmann-Buchhandlung (2. Etage) in der Grimmaischen Straรe wie auch vom โLeipzig-Laden Nยฐ 1โ am Markt im Alten Rathaus angeboten.
Nachtrag von Roland Mey:
โIn meiner deutlich โerweiterten Streitschriftโ wird der Leser u. a. รผber eine seltsame Wahlfรคlschungsvariante informiert. Wรคhrend die โDDR-Wahlfรคlschung vorwรคrtsโ, die Schรถnung der Wahlergebnisse im Sinne der SED, heute hinreichend bekannt ist, wird in der Broschรผre รผber eine Art von โDDR-Wahlfรคlschung rรผckwรคrtsโ informiert, bei der Masur โFรคlschungsgegenstandโ war. Er stand am 7. Mai 1989 auf den Stimmzetteln im Leipziger Wahlkreis 93 und war folglich nach dem DDR-Wahlmodus zum Stadtverordneten gewรคhlt, wurde aber von der Leipziger Volkszeitung an den folgenden Tagen nicht auf der Liste der Gewรคhlten ausgewiesen.
Die SED war allmรคchtig fรผr jede Spielart von Fรคlschung und Masur ihr โSpielballโ. Vermutlich sind die fรผhrenden SED-Genossen erst nach der Wahl auf den Gedanken gekommen, dass der Maestro ohne Zugehรถrigkeit zu dieser kommunalen Abstimmungsmaschine die DDR รผberzeugender reprรคsentieren kann.
Kaum noch vorstellbar aber ist, dass Kurt Masur dem SED-Diktator Erich Honecker unmittelbar nach dessen vom Volk erzwungener Abdankung (18.10.1989) einen Dankesbrief geschrieben hat. Auch das war bisher allgemein unbekannt und dรผrfte jetzt das politische Ansehen, das dem Maestro in der Zeit der friedlichen Revolution 1989/90 zugeschrieben wurde, grundlegend korrigieren.(Vielleicht geschieht das auch erst spรคter, wenn die DDR durch die nachfolgende Generation nicht mehr bis ins Groteske verklรคrt wird.)โ
Wie Kurt Masur im Mai 1989 zum Leipziger Stadtverordneten gewรคhlt wurde
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