Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 59In Leipzig ist er nicht flaniert. Da war der gebürtige Dresdner bestenfalls mal auf Stippvisite: Heinz Knobloch, der beliebteste Feuilletonist der DDR. Und sein einprägsamster Satz kommt vor allem in seinen Berliner Spaziergängen vor: „Misstraut den Grünflächen“.
Denn vieles, was im Bombenhagel des 2. Weltkrieges in Berlin vernichtet wurde, verschwand dann einfach unter grünem Rasen. Die Lücken in den Häuserzeilen blieben über Jahrzehnte erhalten. Und nur wer fragte oder – wie Knobloch – in alten Adressbüchern nachforschte, konnte ein Stück der verschwundenen Geschichte wieder sichtbar machen.
Darauf musste man in der DDR erst einmal kommen. Und dann wissen, wie man weitersuchte. Knobloch erforschte damit vor allem das einst vielfältige jüdische Berlin.
In Leipzig war es nicht anders. Grünflächen und Parkplätze verbargen für Jahrzehnte die Wunden des Krieges. Viele sind noch heute präsent. Autos parken, wo mal die Markthalle stand, ein ganzes Hausquartier liegt still unter dem Addis-Abeba-Platz, die Villen der alten Weststraße sind unter grünem Rasen verschwunden.
Und wo sich die alten Lücken in der Innenstadt so langsam wieder füllen, braucht es weiter draußen im 1922 eingemeindeten Großzschocher schon einen Kenner, der einem erzählen kann, was unter dem wildbewucherten Schuttberg am Eingang der Straße Zur Alten Bäckerei eigentlich liegt.
Zum größten Teil noch immer liegt. Denn vor zwei Jahren ging das Leipziger Amt für Stadtgrün und Gewässer daran, den Schuttberg auf Bomben untersuchen zu lassen und für eine Verwandlung vorzubereiten. Die Verwandlung ist in diesem Frühjahr geschehen. Da kamen die Bagger und räumten den Schuttberg ab. Nicht ganz komplett. Nur die oberste Schicht. Es war kein neues Haus, das hier entstehen sollte.
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Was das Amt für Stadtgrün und Gewässer am 30. Juni 2018 meldete:
Neuer Spielplatz für Leipzig-Großzschocher
In Großzschocher, „Zur Alten Bäckerei“, wurde heute von Rüdiger Dittmar, Leiter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer, ein neuer Spielplatz eröffnet. Auf einer ehemaligen Brache ist ein Spiel- und Kletterwäldchen entstanden. Mit dem Neubau an der Ecke Gerhard-Ellrodt-Straße/Seumestraße reagiert die Stadt auf den gestiegenen Bedarf an Spielplätzen durch den Bevölkerungszuwachs in Leipzig.
Zwischen März und Juni dieses Jahres wurden unter anderem zwei Zugänge von der Seitenstraße „Zur Alten Bäckerei“ angelegt, markiert durch neu gepflasterte Gehwegnasen. Neu sind zudem zwei Lümmelbänke, ein kleines Seil-Geländer und ein großer Kletterturm mit Seilen und Netzen in verschiedenen Ebenen zum Spielen sowie zwei Abfallbehälter, zwei Fahrradständer und eine Bank.
Des Weiteren gibt es nun neue Bäume (Spitzahorn, Bergahorn, Rosskastanie, Hainbuche, Esche, Zierreiche, Stieleiche) und Sträucher (Felsenbirne, Kornelkirsche, Gemeiner Hasel, Weißdorn, Kolkwitzie, Blasenspiere, Traubenkirsche, Johannisbeere, Himbeere, Schwarzer Holunder, Schneespiere).
Das 1.800 Quadratmeter große Gelände an der ehemaligen Mühle am Standort der Roten Villa mit kleinem Park war einst im Privatbesitz der Familie Zickmantel. Am Entwurf des insgesamt 245.000 Euro teuren, durch das Planungsbüro LAGO – Knut Goronzi Landschaftsarchitekten geplanten und die Firma Kupsch aus Wurzen umgesetzten Neubau waren auch Schüler der 56. Oberschule beteiligt.
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Die Rote Villa
Nicht jeder, der nicht in Großzschocher aufgewachsen ist, weiß, dass die hier erwähnte Familie Zickmantel die einstige Mühlenbesitzerfamilie der Zickmantelschen Mühle in Großzschocher war. Die Mühlengebäude liegen quasi vis-à-vis. Sie wurden in den letzten Jahren zu einer anspruchsvollen Wohnanlage umgewandelt. Es lebt sich ruhig in den alten Klinkergebäuden. Auch den alten Zickmantelschen Mühlbach gibt es noch. Hinter dem Gebäudeensemble fließt er zur Weißen Elster.
Die Mühlengebäude stammen fast alle aus der Umbauzeit von 1865 und 1866, als der neu eingetretene Mühlenteilhaber Anton Zickmantel hier aus einer alten Wassermühle (die bis ins Mittelalter nachgewiesen wurde) eine moderne Mühle mit Turbinenantrieb machte. 1869 konnte Zickmantel die gesamte Mühle für 108.000 Taler vom bisherigen Besitzer Julius Eberius kaufen, bekam mit Friedrich Schmidt einen neuen Partner und beide sorgten dafür, das die Zickmantelsche Mühle zur modernsten und leistungsfähigsten Mühle in der ganzen Region wurde.
Und sie investierten nicht nur in die Mühle. Aus dem alten Mühlpfad, der zur Brückenstraße führte (und zum Eselsplatz, wo die Mühlenesel getränkt wurden), machten sie eine befestigte Straße. An der Mühle hieß sie, bis sie vor einigen Jahren in „Zur Alten Bäckerei“ umbenannt wurde.
Und wer im Adressbuch von 1930 blättert, findet sie hier auch verzeichnet: die Kunstmühle Zickmantel & Schmidt, An der Mühle 4. Und etwas darunter auch den Mühlenbesitzer Max Zickmantel, Sohn von Anton Zickmantel: An der Mühle 3. Das ist die Rote Villa, die auch das Grünflächenamt erwähnte. So benannt, weil sie rot verklinkert war, und zur Unterscheidung von der Weißen Villa, die sich die große Mühlenbesitzerfamilie auf der anderen Straßenseite erbaut hatte.
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Werner Franke betreibt in Großzschocher das kleine Ortsteilmuseum „Heimatblick“, wo er alles sammelt, was er zur Geschichte des Ortes finden kann. Wer ihn fragt, findet bei ihm auch Bilder der Mühle und der Roten Villa. Gleich im ersten (dem roten) Band der „Chronik Großzschocher-Windorf“ berichtet er auch über „Die Mühle und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart“. Fast überliest man dabei, dass er einen kleinen Erinnerungstext mit eingebaut hat in das Kapitel, in dem Ingeborg Nörenberg über ihre Erlebnisse in der Mühle und in der Roten Villa berichtet.
1921 geboren, hat sie ihre Lehrzeit in der Zickmantelschen Mühle verbracht und auch einige Räume in der Roten Villa kennengelernt, die nicht nur das Wohnhaus von Frieda und Max Zickmantel und ihrer sechsköpfigen Kinderschar war, sondern auch gleichzeitig der Arbeitsort des Mühlenbesitzers.
Max – das klingt heute nach einem pfiffigen kleinen Jungen, der mit Begeisterung auf den Netzen und Seilen des kleinen Spielplatzes turnt.
Aber Ingeborg Nörenberg erinnerte sich anders: „Max Zickmantel, der Prinzipal, war ein sehr unnahbarer Typ. Er war ein sehr fleißiger Arbeiter, strömte aber wenig Wärme aus, schrieb eine altmodische und verschnörkelte Handschrift und gebrauchte beim Vorschreiben seiner Briefe einen Stil, der mich als Lehrling schockte. Auf alle Fälle passte er zur alten historischen ‚Comptoirseinrichtung‘.“
Die Weiße Villa stellte nur eine wunderschöne „Wohnvilla“ dar, schrieb Ingeborb Nörenberg. „Die ‚Rote Villa‘ hingegen war der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der gesamten Familie Zickmantel. Von hier aus wurde – wie man heute sagt – der gesamte Betriebsablauf ‚gemanaged‘, mit fester Hand – auch etwas autoritär – von Max Leberecht Zickmantel, der 1901 mit seiner jungen Frau Frieda, geb. Bartning, die Villa bezog.“
Ein paar Fotos erzählen noch von der Ausstattung der Villa. Und natürlich Ingeborg Nörenbergs Blick in das Haus, das sie als Lehrling erlebte: „Ich kannte das Haus überhaupt so einigermaßen, weil ich als Lehrling immer mal irgendwelche Postsachen usw. dorthin überbringen musste, wenn der Chef im ‚Comptoir‘ im Betriebsgelände nicht anwesend war. Die Eigenart von Max Zickmantel war auch, dass er immer furchtbar viele Schlüssel an einem großen Schlüsselring bei sich trug. Er hatte auch hinsichtlich des Haushaltes vieles unter Verschluss. Auch die Hausfrau selbst musste ihn um manche ‚Herausgabe‘ bitten.“
Was wüssten wir, wenn nicht betagte Menschen sich so erinnern würden? Wir würden nicht mal merken, wie sich unsere Welt verändert hat.
Und dabei sehen wir das alles mit den Augen einer jungen Frau aus Großzschocher, für die das Leben der Zickmantels selbst eine andere Welt war.
„Im Untergeschoß des Hauses befanden sich die Wirtschaftsräume, die nur durch einen hinteren Eingang, gekennzeichnet mit ‚Nur für Personal‘ zu betreten waren. Da war eine große Küche mit Martha Funke, dem Koch- und Küchenwunder vom Lande. Dann ein Raum mit Zentrifuge zur Milchverarbeitung für Sahne, Butter, Quark, Magermilch, daneben eine Waschküche. Jeden Donnerstag wurde ‚gebuttert‘. Und ich bekam dann immer ein großes Glas frische Buttermilch mit kleinen Butterklümpchen und eine Schüssel Quark. Dieser unverfälschte Wohlgeschmack liegt mir noch heute auf der Zunge!“
Wie schmeckt eigentlich Ihre Erinnerung an eine Zeit voller unverfälschten Wohlgeschmacks? Erinnern Sie sich noch?
„Von der Diele aus führte eine geschwungene Treppe in die oberen Gemächer. Dort befanden sich Bügelzimmer, Nähstube, große Betttruhen sowie ein kleiner Wohnbereich für die Oma Bartning. Sie war die pflegebedürftige Mutter von Frau Frieda Zickmantel und wurde durch eine Diakonissin betreut. Ganz oben waren dann die Zimmer der Kinder, sicher auch Fremdenzimmer, denn es gab viele Besucher im Hause Zickmantel. Und wo befand sich das Schlafgemach des Ehepaar Zickmantel? Vielleicht irgendwo unten – ich weiß es nicht mehr.“
Heute ist von der Roten Ville nur noch wenig zu sehen. Wer es nicht weiß, übersieht auch die Überbleibsel, wenn er vor der Schwelle zum Spielplatz steht, hinter der der Weg leicht ansteigt. Die Schwelle gehörte einst zur Umfriedung des Grundstücks, genauso wie die Grundpfeiler der einstigen Pforte.
Die Villa selbst ging (genauso wie auf der anderen Straßenseite die Weiße Villa) in Trümmer. Sie wurde, als die Bomberverbände am 20. Februar 1944 in Großzschocher vor allem die großen Betriebe und damit auch die Zickmantelsche Mühle aufs Korn nahmen, von mehreren Brandbomben getroffen. Die Zickmantels wurden aber nicht nur „ausgebombt“, wie das damals hieß – sie wurden wenig später auch noch enteignet und vertrieben. Am 23. Dezember 1945 war das. Da war Max Zickmantel 72 Jahre alt. Zwei Jahre hatte er noch – schwerkrank – zu leben.
„Die sich außerhalb des Mühlengeländes befindende, sogenannte ‚Rote Villa‘, ehemals Wohnhaus der Familie Max Zickmantel, war nach dem Bombenangriff nicht mehr bewohnbar“, schrieb Ingeborg Nörenberg. „Hier hatten Phosphorbrandbomben gewütet und ganze Arbeit geleistet. Aus den Trümmern konnte doch noch einiges, das in den Kellerräumen aufbewahrt war, gerettet werden.“
Als nun im Frühjahr die Bagger kamen, war natürlich auch Werner Franke aufmerksamer Beobachter. Gab es noch Fundstücke, die er seiner Sammlung einverleiben konnte? Ein paar wenige Teile von alten Lampen und möglicherweise Zierrat von den Dächern. Nichts Aufsehenerregendes, aber genau das, was der Vergangenheit wieder etwas Greifbares gibt.
Dort, wo heute die phantasievollen Klettergerüste stehen, befand sich vor 100 Jahren der parkähnliche Garten hinter dem Haus. Die Zickmantels legten viel Wert auf liebevoll gestaltetes Grün. Daran erinnert ja auch noch heute der nahe gelegene Mühlenpark.
Und mit Kindern hatte das Gelände ja auch damals zu tun, wie Ingeborg Nörenberg sich 2005 für die „Chronik Großzschocher-Windorf“ erinnerte: „Hier kamen in der Zeit von 1901 bis 1914 acht Kinder auf die Welt, von denen die beiden Mädchen Margarethe und Dorothea nur knapp 1 Jahr alt wurden.“ Die drei Söhne erlernten übrigens auch den Beruf des Müllers.
Nur gemahlen wird in Großzschocher schon lange nicht mehr. Seit Anfang der 1990er Jahre war der Mühlenbetrieb komplett eingestellt. Aber es lohnt sich, an der Ecke Dieskaustraße/Brückenstraße nach oben zu schauen. Die Skulptur oben am Haus zeigt eine Frau mit zwei Kindern. Die Frau ist Dorothea Zickmantel, die Frau von Anton Zickmantel, mit zwei ihrer Kinder. Eines – „der Zartere“, wie Werner Franke meint – zeigt Max, den später so unnahbaren Prinzipal.
Lesetipp: Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“, „Großzschocher-Windorf. Aus der Geschichte eines Leipziger Ortsteils“, Pro Leipzig 2005
Ausflugstipp: Heimatblick, Herberge „Zur Alten Bäckerei“, Zur Alten Bäckerei 12
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