Am 4. Dezember jährt sich die Zerstörung des Graphischen Viertels in Leipzig zum 75. Mal. Damals wurde das Zentrum des deutschen Buchgewerbes in knapp zwei Stunden (Fliegeralarm: 3:39 Uhr; Entwarnung: 5:32 Uhr) von Spreng- und Brandbomben in Schutt und Asche gelegt. Mehr als 1.800 Menschen starben in dieser Nacht, 114.000 Leipzigerinnen und Leipziger wurden obdachlos, 15.000 Gebäude wurden getroffen.
Die größten Verlagshäuser – unter ihnen der F. A. Brockhaus Verlag, der Verlag Philipp Reclam jun. und Breitkopf & Härtel, der älteste Musikverlag der Welt – brannten aus und mit ihnen geschätzt 50 Millionen Bücher. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum (DBSM), ältestes Buchmuseum der Welt, war eine Ruine, der Sitz des Börsenvereins der deutschen Buchhändler zerstört, die Deutsche Bücherei schwer getroffen: Leipzig büßte mit dem alliierten Bombenangriff seinen jahrhundertealten Ruf als „Buchstadt“, den bereits der Erste Weltkrieg gründlich erschüttert hatte, endgültig ein.
Arthur Luther, Literaturwissenschaftler, Überlebender des Bombenangriffs und Abteilungsleiter in der Deutschen Bücherei, schrieb am 4. Dezember 1943 in sein Tagebuch: „Fliegergeräusch… Da stürzt mit furchtbarem Krach die Decke ein, ich falle auf den Rücken… Brille weg, Hut weg… Endlich hört das Krachen und Schießen auf. Wir wagen uns hinaus. Erster Eindruck: Flammen überall und schreiende Menschen. Ich gehe in die Bücherei. Der Ostflügel stark mitgenommen. Alle Fenster zertrümmert.
Aus dem Kellergeschoß steigt Rauch auf. Die Fensterrahmen im Ostflügel nach dem Deutschen Platz zu ausgebrannt. Der große Lesesaal voller Scherben, Schutt und Trümmer. Die Wandgemälde von L. Hofmann nicht mehr vorhanden. Da kein Fenster heil, eisige Kälte im ganzen Gebäude. Postamt, Museum, Universität, Oper in Flammen oder in Trümmern. Der Brühl vernichtet, das Alte Theater eine Ruine… Vor allem aber das ganze Buchhändlerviertel ‚wegrasiert‘: alle großen Verlage, alle Großdruckereien, Buchhändlerhaus, Buchmuseum usw.“
Dieses „Buchmuseum“, das heutige Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, hatte seine Räume im repräsentativen Buchhändlerhaus, in denen das Museum drei Jahre zuvor den 400. Geburtstag des „deutschen Helden“ Johannes Gutenberg gefeiert und ideologisch instrumentalisiert hatte. Das Museum verlor in der Nacht zum 4. Dezember neun Zehntel seiner Bestände. Die kostbarsten Stücke konnten kurz zuvor ins Erzgebirge ausgelagert werden, überdauerten dort den Krieg und wurden in den ersten Nachkriegsmonaten von der sowjetischen Armee nach Moskau verbracht, wo sie noch heute liegen.
Den 75. Jahrestag der Bombardierung des Graphischen Viertels nimmt das DBSM zum Anlass, mit zwei Projekten an die Zerstörung zu erinnern:
Zum einen stellt das Museum eines der wenigen Objekte, die Anfang Dezember 1943 mit Schmauchspuren aus der Asche des Buchhändlerhauses geborgen werden konnten, ins Zentrum einer Installation: Es handelt sich um einen mehrere hundert Kilogramm schweren Granitstein mit etwa 3.000 Jahre alten chinesischen Schriftzeichen.
Die sogenannte Steintrommel, deren Absplitterungen und Brandspuren noch heute von der Zerstörung zeugen, steht Anfang Dezember dieses Jahres im Fokus der „GNDCon“ in Frankfurt am Main – einem Kongress, der auf das Prinzip offener, kooperativ erarbeiteter und vernetzter Normdaten als Orientierungspunkte im Internet zielt und die Zusammenarbeit mit Online-Communities, Museen, Archiven, Verlagen und Hochschulen fördern möchte – ein Stück Zukunft für die kooperative Erschließung auch des musealen Kulturerbes.
Die Steintrommel steht in diesem Kontext für ein herausragendes Beispiel einer überaus reichen, interdisziplinären Wissenswelt, die sich im Brennglas eines einzigen Objektes bündelt. Ab Anfang 2019 steht das Exponat wieder in der Dauerausstellung des DBSM in Leipzig – angereichert und präsentiert in einer Wolke aus interdisziplinären Metadaten, die das vielschichtige Objekt erläutern und kontextualisieren.
Das zweite Projekt beschäftigt sich mit einem Rückblick auf Leipzig als der „Hauptstadt des Buches“ am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dazu wurden 2.200 Firmenstandorte des Graphischen Viertels aus dem Leipziger Adressbuch von 1913 in eine Datenbank übertragen. In Kooperation mit dem Amt für Geoinformation und Bodenordnung, Abteilung Digitale Kartographie der Stadt Leipzig sind diese Daten für die Darstellung auf einer digitalen Karte aufbereitet worden.
Zum Jahrestag der Zerstörung des Buchhändlerviertels wird die Karte auf www.leipzig.de freigeschaltet und Anfang Dezember auf dem 2. Digital Humanities Day des Forums für Digital Humanities Leipzig und der Akademie der Wissenschaften zu Leipzig vorgestellt.
Noch heute sind im ehemaligen Leipziger Buchhändlerviertel Spuren des Krieges sichtbar: Große Brachflächen und verfallene Häuserruinen erinnern an die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Vor allem aber begegnen dem heutigen Besucher zahlreiche neue Bauprojekte, zum Teil unter Einbeziehung historischer Gebäudereste – wie beim Wiederaufbau des ehemaligen Buchgewerbehauses.
Die wahre Geschichte der Deutschen Bücherei in der NS-Zeit
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