Alles wird immer schlimmer? Es braucht Große Männer, um „die Sache“ zu retten? Ein wenig melancholisch mutet schon an, wie Heinrich Mann nun das Ende seines Romans vorbereitet. Er hat einfach mal die Tonart gewechselt. „Der Untertan“ ist eigentlich eine Symphonie. Oder so etwas Ähnliches wie später Brechts „Dreigroschenoper“. Mit Huren, Helden, Lügnern, Patrioten und einem Helden, der auch zum Dreigroschen-Johnny taugt. Aber wie passen die beiden Bucks da rein?

Dass sie wie aus einer anderen, anständigeren, ehrlicheren Welt stammen, das haben wir ja schon gesehen. Wenn die Fakenews-Politiker kommen, haben sie wenig Chancen, gegenzuhalten. Ehrlichkeit wird als Schwäche ausgelegt, genauso wie Ideale von Gerechtigkeit und Freiheit. Auf welcher Seite Heinrich Mann da steht, das wissen wir. Das Buch über den Helden des Wilhelminischen Zeitalters konnte er nur als Persiflage schreiben, als bittere Satire über einen Menschen, der das Rollenspielen früh gelernt hat.

Aber irgendetwas ist da. Für die Reden, die der nun als Rechtsanwalt nach Netzig zurückgekehrte Wolfgang Buck schwingt, als wäre er lebensmüde, hätte Diederich den einstigen Nebenbuhler ebenso vor Gericht bringen können wie nun augenscheinlich schon eine ganze Reihe unbekümmerter Netziger, die noch nicht gelernt haben, in seiner Gegenwart einfach den Mund zu halten.

Er ist ein falscher Fuffziger – und trotzdem fasziniert ihn etwas an diesem ungekrümmten Wolfgang Buck, so sehr, dass er ihn sogar in sein Haus einlädt, nur um dann festzustellen, dass ausgerechnet Wolfgang Buck und seine aufmüpfige Schwester Emmi zueinander finden. Da wöllte er wohl dreinschlagen – verlässt aber, zu seiner eigenen Überraschung, das Zimmer und lässt die beiden turteln.

Was einen nach all den falschen Verbandelungen in diesem Buch beinahe glücklich macht. Denn da finden augenscheinlich tatsächlich zwei zueinander, die sich wesensverwandt sind. Das, was sich so viele im Leben erträumen und doch nie wagen, weil dann doch immer das Pragmatische, Sichere und Rechnerische zählt. Deswegen sind die meisten Ehen wohl eher so wie zwischen Diederich und Guste …

Und Diederich geht noch weiter, denn das Haus des alten Buck ist ja mit Hypotheken überlastet, die der Alte nie und nimmer abarbeiten kann. Generös übernimmt Diederich das Haus und lässt den einstigen politischen „Feind“ drin wohnen …

Denn es geht ihm mit dem alten Buck eigentlich ganz ähnlich wie mit Wolfgang. Der Alte schleicht zwar gebeugt und kurzatmig durch Netzig – aber er ist seinen Überzeugungen treu geblieben.

Wir sind unverhofft schon ins Jahr 1897 gelangt. Und Netzig hat noch immer kein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Zum 100. Geburtstag von Wilhelm I. am 22. März 1897 hatte Diederich es eigentlich stehen sehen wollen. Aber bei Kaiserdenkmälern sprechen auch Höhere Kreise mit. Ein „Fußgänger“-Kaiser war höheren Ortes unerwünscht, der große Wilhelm sollte unbedingt auf einem Pferd sitzen.

Was dazu führt, dass das Denkmal viel größer und teurer wurde. Und natürlich nicht rechtzeitig fertig, sodass Wolfgang Buck und sein alter Vater etwas zu besichtigen haben und dabei Lästerliches von sich geben. Eigentlich auch das allerhöchst justiziabel. Nur dass es lediglich einen Zuhörer gibt: den heimlich lauschenden Diederich. Und eigentlich ist er diesmal nicht auf Jagd nach Majestätsbeleidigern. Viel mehr ist er fasziniert.

Und der alte Buck scheint längst gemerkt zu haben, dass da einer im Busche hockt und lauscht. Was jetzt folgt, ist also für diesen hochpatriotischen Diederich in seinem Siegesrausch gedacht. Es ist ein wenig so, als dürften das heute auch ein paar der sensiblen Urgesteine sagen, die es ja noch gibt in der heutigen Politik und die nur mit staunendem Entsetzen zuschauen können, wie die alten Patriotenknochen wieder glauben, triumphieren zu können mit der alten, krachledernen Gefühls- und Kulturlosigkeit.

„Kunst bleibt euch Kunst, und alles Ungestüm des Geistes rührt nie an euer Leben. (…) Sie sind sehr mächtig geworden; aber durch ihre Macht ist in die Welt weder mehr Geist noch mehr Güte gekommen. Also war es umsonst. Auch wir waren scheinbar umsonst da.“

Hört man da eine ganz heutige Verzagnis heraus? Die eilige Kapitulation der Demokraten vor den auftrumpfenden Nationalisten?

Das wäre fatal.

Und das weiß auch der alte Buck: „Dennoch dürft ihr ihnen nicht das Feld überlassen.“

Aber ist denn das Volk nicht gekauft, wendet Wolfgang Buck ein: „Ihre soziale Gesetzgebung baut vor und korrumpiert. Sie sättigt das Volk gerade so weit, daß es ihm nicht mehr verlohnt, ernstlich zu kämpfen, um Brot, geschweige Freiheit.“

Als hätten unsere heutigen Groß- und Kleinsultane eifrig den „Untertan“ gelesen. Was sie aber wohl eher nicht gemacht haben. Das Buch ist ja keine Handlungsanweisung für die Ruhigstellung des Großen Lümmels. Aber unsere heutigen Depressiven könnten durchaus was draus lernen. Denn Buck hat das, was bei Diederich nie zu spüren ist: ein Gefühl dafür, dass ein Menschenleben immer auf Zukunft gerichtet ist.

„Der würde nicht gelebt haben, der nur in der Gegenwart lebte.“

Das ist das Problem unserer heutigen Panikmacher. Sie kennen nur düstere Zukunftsbilder, Ereignisse, die über sie kommen, als wäre das alles nicht von ihnen gewollt, Deppen, die unfähig sind, Zukunft gestaltend zu denken, nur verbarrikadierend, einmauernd, voller Angst: Huch, der Schrecken steht vor der Tür!

Was für Narren. Was wollen die eigentlich in der Politik, diese Blindschleichen? Was wollen die da, wenn sie keine Vision haben, kein Wissen um Gestaltungsmöglichkeiten, keine Empathie und keinen Mut, Dinge zum Positiven zu drehen?

Was wollen die da?

Ich begreife es nicht.

Was aber wohl daran liegt, dass es an den alten Bucks mittlerweile fehlt, an Leuten mit echter Überzeugung und echten Visionen.

Und das begreift sogar der Kerl da im Busch, der das alles anhört. Denn doof ist dieser Diederich Heßling ja nicht.

„Diederich aber, der auf anderen Wegen enteilte, hatte das Gefühl, aus einem bösen, wenn auch größtenteils unbegreiflichen Traum zu kommen, worin an den Grundlagen gerüttelt worden war. Und trotz dem Unwirklichen, das alles Gehörte an sich hatte, schien hier tiefer gerüttelt worden zu sein, als je der ihm bekannte Umsturz rüttelte.“

Und was versetzt Diederich so in Schrecken?

Dass das, was der alte Buck da sagt, eben gilt. Es ist der eigentliche Maßstab. Und es wird nicht verschwinden, auch wenn der alte Buck bald stirbt.

Aber „Diederich fühlte, es wäre besser gewesen, sie hätten einen gesunden Lärm im Lande geschlagen, als daß sie hier im Dunkeln diese Dinge flüsterten, die doch nur von Geist und Zukunft handelten.“

Es geht eben schief, wenn man sich immer nur dem blinden Populus andient und versucht, dessen Stimmung hinterherzuhecheln, wie es unsere Möchtegernpatrioten wieder mal tun. Denn dann geraten sie alle nur in Panik und rennen wie wild in die Finsternis. Oder in den nächsten Krieg, denn etwas Besseres fällt diesen Krachmachern ja niemals ein. Sie können es nicht anders.

Rege ich mich jetzt auf?

Nein.

Die drei nächtlichen Spazierer sind ja im Dunkeln verschwunden. Wir blättern um.

Das „Untertan-Projekt“.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar