Da haben wir nun gerade erlebt, wie Guste ihren redenschwingenden Diederich mit einem herrischen Fingerzeig zur Raison gebracht hat – da entfleucht er. Und er entpuppt sich als das, was die meisten ehrbaren Herren Bürger seines Standes sind: als ein Heuchler, ein verlogener Moralapostel. Immer deutlicher wird, dass dieses Nest Netzig im Grunde für ganz Deutschland steht, das ganze Wilhelminische Reich. Hinter den geforderten „Werten“ steckt nichts als Heuchelei.

Im Schlafzimmer kann Guste ihre Macht beweisen – aber beim Geld ist Diederich der Herr. Selbst die Millionen, die Guste mit in die Ehe gebracht hat, verwaltet er. Guste ist darauf angewiesen, dass er gnädig ihre Haushaltsrechnungen akzeptiert, und „wehe, wenn Gustes Rechnung nicht glatt aufging“.

Man muss sich tatsächlich erst einmal einen Knoten in den Kopf lesen, um zu verstehen, wie diese seltsame Liaison überhaupt funktioniert. Fast wünscht man sich, Heinrich Mann hätte auch Gustes Geschichte geschrieben, Guste, die wir ja damals im Zug als selbstbewusst und eigenständig kennengelernt hatten – und jetzt lässt sie sich von diesem Knicker das Haushaltsgeld vorrechnen.

Diesem feigen Würstchen, das über das Geld seine Macht über Guste ausübt, denn dass Guste im Schlafzimmer die Entscheidungsgewalt wieder an sich genommen hat, hält er für „Machtdünkel“. „Autorität und Sitte triumphierten wieder. Auch sonst war dafür gesorgt, daß die ehelichen Beziehungen nicht allzusehr zum Vorteil Gustes ausschlugen, denn jeden zweiten, dritten Abend, manchmal noch öfter, ging Diederich fort zum Stammtisch in den Ratskeller, wie er sagte, aber das stimmte nicht immer …“

Beiläufig erinnert man sich daran, dass diese rigide Vormundschaft des Ehemannes 1896 auch im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert wurde und bis weit in die Zeit der Bundesrepublik hinein genau so galt.

Manchmal landet Diederich wirklich im Ratskeller, wo die Netziger irgendwie versuchen, doch noch irgendwie – „ideologiefrei“ – im Gespräch zu bleiben. Obwohl es hier trotzdem hochpolitisch wird. Aber man lebt ja unter einem Kaiser, der das parlamentarische System zutiefst verachtet und deswegen auch regelmäßig solchen Quark von sich gibt wie: „Ich kenne nur zwei Parteien …“

Wer gegen ihn und seine friseurlich gelockten Attitüden ist, macht sich – aus dieser Warte – zum Paria. Und das Verblüffende an diesem Wilhelminismus ist: Das funktionierte sogar. Es baute einen enormen Druck auf, der selbst die bei Heinrich Mann so wild skizzierten Sozialdemokraten zu braven Schafen und Nützlichkeits-Monarchisten machte. Nur so war 1914 die Burgfriedens-Politik denkbar und die schafsmäßige Bereitwilligkeit der SPD, dem Kaiser sämtliche Kriegskredite zu bewilligen.

Und mit Diederich Heßling sind wir ja in der Frühzeit dieser Tragödie gelandet, als der Reichstag ja auch mehrmals aufgelöst wurde, weil sich die Mehrheit dort gegen die opulenten Rüstungsvorlagen aussprach. Was ja von Diederich und den Herren Cohn, Heuteufel, Zillich und Jadassohn alles im Ratskeller debattiert wird. Denn was Kaiser Wilhelm II. mit dem Geld aus dem Boden stampfen wollte, war ja eine gigantische Flotte, mit der er seinen Lieblingsfeind England zerschmettern wollte.

Etliche Historiker haben zwar in den letzten Jahren den Beginn des Ersten Weltkriegs als „Sprung ins Dunkle“, als Panik von Traumwandlern und eher ein unglückliches Entzünden des Pulverfasses geschildert, was beim völlig überforderten Regierungspersonal gerade in Deutschland und Österreich natürlich in gewisser Weise auch zutrifft.

Aber überfordert war dieses Personal auch schon 1896, und wie das immer so ist mit Männern, die ihre Fähigkeiten völlig überschätzen, trotzdem völlig verunsichert sind wie Wilhelm, „der junge Kaiser“: Sie bauen ein martialisches Außenbild auf. Und das wird, wenn sie die Ressourcen eines ganzen Reiches zur Verfügung haben, zur Katastrophe. Dann machen sie aus ihren ganz persönlichen und familiären Animositäten auf einmal künstliche Staatsdramen und lösen Prozesse aus, die sie weder begreifen noch beherrschen.

Die Flotten und Armeen, die 1914 aufeinanderprallten, waren in den 20 Jahren davor aus dem Boden gestampft worden, genauso, wie die nationalistischen Blätter schon mal die nötigen Feindbilder gemacht hatten. Genau so, wie wir das im Kleinen in Netzig gesehen haben. Und nun sitzen all diese biederen Bürger im Ratskeller unter frauenfeindlichen Sprüchen im Gewölbe beisammen, und schwadronieren über die Vernichtung Englands und die beiläufige Bombardierung von Paris.

An früherer Stelle sind wir schon über Diederichs seltsame Aussprache von Kaffee gestolpert: Gafeh.

Wir rätseln ja schon die ganze Zeit: Wo liegt eigentlich dieses verflixte Netzig?

Und nun bestätigt auch Kühnchen, dieser blutlüsterne Gymnasiallehrer, dass wir Netzig irgendwo entweder in der preußischen Provinz Sachsen – und zwar deren südlichen, um Halle und Merseburg gelegen Teil – oder im Süden der Provinz Brandenburg suchen müssen, wo 1815 die vom Königreich Sachsen abgespalteten Teile gelandet sind. Denn auch Kühnchen hat unüberhörbar einen sächsischen Tonfall: „Die Saat, die wir dunnemals gesät haben, na nu geht se auf.“

Aber die Ratskeller-Abende sind ja nur Ablenkung. Denn Diederich macht es ja wie all die zu Hause „unter den Pantoffel“ geratenen, ach so sittenstrengen Männer: Er sucht eine verschwiegene Villa auf, ausgerechnet die Villa des einst so feige abgereisten Leutnant von Brietzen. Denn dort ist jetzt eine eindrucksvolle Dame eingezogen, die im Stadttheater durch gezückte Operngläser allgemeinste Aufmerksamkeit erweckt. „Natürlich wußte trotz der Aufmachung alle Welt, das war Käthchen Zillich, die, in Berlin für ihren Beruf vorgebildet, ihn in der Brietzenschen Villa nunmehr erfolgreich ausübte.“

Wobei Heinrich Mann auch andeutet, dass Käthchens neue Rolle „von höchster Stelle“ geduldet und erwünscht ist. Staatsmoral heißt das dann wohl.

Und da erleben wir dann auch ihren Vater, den nationalen Pastor Zillich, in Aktion. Ist ja nicht nur Diederich, der mit einer sehr durchscheuerten Moral durchs nächtliche Netzig spaziert.

„An der irdischen Gerechtigkeit nicht weniger als an der göttlichen zweifelnd, schwor der Vater, das Amt des Richters selbst zu übernehmen, und wirklich sollte er eines Nachmittags, als sie noch im Bette lag, die verlorene Tochter einer Züchtigung unterzogen haben. Nur der Mutter, die ihm, alles ahnend, gefolgt war, verdankte Käthchen ihr nacktes Leben, wie die Gemeinde behauptete.“

Das war Deutschland anno 1896. Und nachrichtlich auch nachlesbar in den Zeitschriften der Zeit bis in die graustichigen 1960er Jahre.

Peinlich genug, dass das in ein paar besonders schwarzen Ecken des Landes alles wieder glaubt triumphieren zu dürfen.

Und welche Rolle spielt Kätchen für Diederich? Das weiß er selber nicht. Deswegen holt er sich bei Jadassohn Rat und beklagt sich über „Käthchens unersättliche Ansprüche an seine Kasse“.

„Aber Jadassohn fragte nur: ‚Wozu haben Sie sie denn? Sie soll doch Geld kosten?‘“

Das hätte man dem einst so übereifrigen Assessor gar nicht zugetraut. Aber wie bürgerliche Scheinheiligkeit selbst Gefühle und Beziehungen immer in Geld aufwiegt, taxiert und gegeneinander aufrechnet, das hat er durchschaut. Und Diederich rechnet die Käthchen-Zillich-Besuche sowieso auf seinem Reklamekonto in der Firma ab.

Und so nebenbei reißt auch hier Heinrich Mann den Vorhang beiseite, mit dem in diesem ach so biederen Zeitalter die Prostitution immer verhängt war – als etwas Geheimnisvolles, besonders Verruchtes und Strafenswürdiges. Was alles nur aus reiner Männer-Paragraphen-Phantasie geboren wurde.

Die Wirklichkeit ist selbst für diesen fremdgehenden Diederich viel ernüchternder. Nicht die „Abenteuer“ mit Käthchen sind das, was Diederich in Spannung versetzt, denn die scheinen für ihn eher enttäuschend zu sein. Selbst seine Guste hält er für „leistungsfähiger“. Aber jedes Mal fühlt er sich schuldig.

Das kennen wir ja von ihm: Er tut Beschämendes, schämt sich aber nicht, sondern fühlt sich schuldig. Guste gegenüber. Die bürgerliche Moral rechnet ganz im alten katholischen Sinn: Gutes gegen Böses. Deswegen war Luthers Thesenanschlag ja so eine Wucht, weil er Papst und Co. zu lesen gab, dass man menschliche Taten nicht aufrechnen kann mit Gott. Glaube und Seelenfreuden sind keine Kontoführung beim Allerhöchsten.

Aber das haben sichtlich auch die eifrigen Bibelleser der Wilhelminischen Zeit noch nicht begriffen. Es steckt tief in ihnen, dieser buchhalterische Umgang mit dem eigenen Gewissen. Hernach also muss Diederich seiner Guste wieder irgendetwas Wertvolles schenken. Aber mit einer weiteren Schraubendrehung im Kopf: „Wenn es ihr nur nicht auffällt!“

Da feixt sich Jadassohn nur eins, denn über Diederichs Ausflüge zu Käthchen hat er „Frau Generaldirektor Heßling“ schon lange aufgeklärt.

Diederichs Sittenstrenge ist also eine mit einem dreifachen Boden. Eigentlich sogar vierfachen. Denn da ist ja noch seine seltsame Abhängigkeit von Guste, die Heinrich Mann gleich mal fast übergangslos wieder ins Spiel bringt, als er von Jadassohns neuerlichen Triumphen bei der Bekämpfung der um sich greifenden Unart der Majestätsbeleidigungen erzählt. Da sind die beiden ein Herz und eine Seele – Diederich spürt die Missetäter auf und Jadassohn liefert sie ans Messer. In diesem Netzig muss eigentlich schon lange eine seltsame Atmosphäre geherrscht haben.

„Nach dem Erscheinen des ‚Sanges an Ägir‘ gestaltete sich ihre Tätigkeit besonders fruchtbar. In Diederichs eigenem Hause nannte die Klavierlehrerin, die mit Guste übte, den ‚Sang an Ägir‘ einen -! In das, was sie gesagt hatte, flog sie selbst …“

Da suche mal einer ein Machwerk mit dem Titel „Sang an Ägir“. Im „Spiegel“ vom 24. Juni 1991 wird man fündig. Da kann man lesen: „Ständig inszenierte sich Wilhelm historisch. Weil sein großes Vorbild Friedrich II. Flötenkonzerte schrieb, komponierte der ehrgeizige Urenkel einen schauerlichen ‚Sang an Ägir‘ (Oh Ägir, Herr der Fluten, dem Nix und Nex sich beugt). Wenn es um seine Vorfahren ging, zeigte sich Wilhelm, wie sein Reichskanzler Bismarck schon früh erkannte, ‚in allem maßlos‘. So erklärte der vom Gottesgnadentum stets Überzeugte 1928, ‚daß man wohl auf Kant und Goethe verzichten könne; aber niemals auf Friedrich den Großen‘.“

Und es ist Wolfgang Buck, „der neuerdings wieder in Netzig weilte“, der am Stammtisch im Ratskeller erklärt, wie die große kaiserliche Scheinheiligkeit mit der kleinen Netzigschen Scheinheiligkeit aufs beste harmoniert. Denn die Anbetung der Macht ist immer auch sexuell konnotiert. Erstaunlich, dass Heinrich Mann sich das traute, so unverblümt hinzuschreiben.

„,Die Monarchie ist unter den politischen Regimen eben das, was in der Liebe die strengen und energischen Damen sind. Wer dementsprechend veranlagt ist, verlangt, daß etwas geschieht, und mit Milde ist ihm nicht gedient.‘ Hier errötete Diederich …“

Wir wissen ja warum. Aber die Stelle wirkt irgendwie neu. Als müsste man wirklich erst wieder in einer Zeit leben, in der diese so besorgten und verdrucksten Bürger wieder nach Hieben und Strenge schreien, um das zu sehen: Dass beides augenscheinlich zwingend zusammengehört – ein zumindest doch sehr sklavisches Liebesleben und eine fast wollüstige Anbetung der rücksichtslosen Macht.

Und bevor wir noch schnödere Worte für dieses lüstliche Verhältnis finden, blättern wir lieber um und lassen den erröteten Diederich erst einmal entglimmen.

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