Eben noch war man geneigt, diesen Diederich für einen komplett faschistischen Charakter zu halten. Denn der zeichnet sich durch seine völlige Unfähigkeit zum Mitgefühl aus. Das hat sich nicht geändert, bis heute nicht. Die Typen merken es nicht mal, wenn man es ihnen mit dem Klammerbeutel beibringt. Und Diederich? Von dem wissen wir ja, wie er so wurde.

Und es war kein außergewöhnliches Schicksal. Seine Eltern waren nicht schlimmer als andere Eltern damals, vielleicht auch nicht schlimmer, als völlig überforderte Eltern heute auch noch manchmal sind. Die Mutter mit ihrer seltsamen Art, sich nicht gegen den Vater zu wehren und den Sohn zum Komplizen ihrer Heimlichkeiten zu machen, der Vater ein rabiater Klotz, der seinen Sohn behandelte wie einen aufmüpfigen Rekruten.

Da hat er schon eine Portion dessen gelernt, was man so als „bürgerlichen Ehrenkodex“ bezeichnen könnte, er wurde, wie wir gesehen haben, zum Petzer in der Schule, zum Drückeberger und zum Opportunisten, der erst richtig glücklich wurde, als er sich bei den Neuteutonen ohne Nachdenken in das seltsame Regelwerk aus Saufen und Hauen einordnen konnte.

Und erst mit Agnes erlebte er dann so etwas wie eine tiefere Verwirrung. Sein angelerntes Korsett des „richtigen Verhaltens“ passte nicht zu den Erwartungen, Wünschen und Gefühlen des Mädchens, das ihn umwarb – und das er dann, mit lauter faulen Ausreden, regelrecht abwimmelte.

Und nun denkt man, geht in Netzig so richtig die Post ab, nachdem die erste Wahlveranstaltung der Nationalen so deutlich alle Fronten aufgemacht hat. Sogar mit Dr. Heuteufel hat es sich Diederich verscherzt – oder doch nicht?

Immerhin ist es der einzige Arzt in Netzig, zu dem er gehen kann, nachdem ihm die Stimme wegblieb. Und der verdonnert ihn auch gleich noch zu einem Ausgehverbot. Diederich hat zu laut geschrien. Seine Stimme braucht Erholung. Und nun ist er mit seiner kleinen Familie allein und merkt, dass mit seiner Schwester Emmi etwas nicht stimmt. Sie hat sich sowieso schon seit Wochen eingeigelt und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.

Was Diederich bisher immer nur zu autoritärem Gehabe angespornt hat, denn er fühlt sich ja auch als männliches Oberhaupt der Familie. Eben hat er seine Schwester Magda unter die Haube gebracht. Oder auch nicht. Das ist das Seltsame an dieser Situation: Die Schwestern haben die Suche nach einem potenziellen Ehemann selbst in die Hand genommen. Es ist eine seltsame Zeit. Eigentlich sind Frauen ja auch vor dem Gesetz „dem Manne untertan“. Wenn sie nun aber einen Partner fürs Leben finden wollen, müssen sie selbst irgendwie erfinderisch werden.

Heinrich Mann erwähnt es nicht extra: Aber dazu, das sich die jungen Leute dennoch kennenlernen konnten, dienten damals Bälle diverser Art. Auch da gab es Regeln. Die ganze Stadt schaute zu. Und irgendwie erwartete man dann, dass die jungen Leute sich dann auch an die Regeln hielten und noch „bevor etwas passierte“ bei den jeweiligen Vormündern um die Zustimmung zur Verlobung baten.

Aber gleichzeitig lebten sie in einer Welt des Blendwerks, so, wie es auch Diederich erlebt hat: Es geht um Geld (Guste hat er ja wirklich nur des Geldes wegen geheiratet, und wenn er das nicht getan hätte, wäre er schon lange pleite), um Stand und Ehre. Nicht nur Diederich ist ja von jedem Deppen in Uniform beeindruckt. Er liebäugelt eigentlich auch damit, dass aus der vagen Ahnung, Emmi könnte etwas mit dem strammen Leutnant von Brietzen haben, eine glänzende Verheiratung wird, mit der er selbst auch prahlen kann.

Das würde ihn natürlich als stramm nationalen Bürger ehren. Wo er doch selbst sofort innerlich strammsteht, wenn ein Uniformierter ihn anspricht.

Aber irgendetwas ist da schiefgelaufen. Und Diederich schwant etwas. Und nicht nur das.

Denn das ist das Erstaunliche bei Heinrich Mann: Er verwirft seinen Helden nicht. Er lässt zu, dass seine Schale aufbricht. Denn sein Versuch, sich als nationaler Maulheld zu gerieren, ist für Diederich ja eine Rüstung, in der er sich versteckt hat, damit keiner merkt, dass er im Inneren eigentlich immer noch das „weiche Kind“ ist. Deswegen trügt der Schein, wenn man „dem faschistischen Typus“ generell unterstellt, er sei zu jeglicher Empathie unfähig. Die Typen gibt es trotzdem. Aber das ist nicht die Regel.

Der Grundmechanismus, der Menschen wie Diederich für Chauvinismus anfällig macht, ist ihre Verunsicherung. Sie sind keine ganzen, heilen und souveränen Menschen. Das haben sie nicht gelernt. Gelernt haben sie, ihre Gefühle zu verstecken, sich unangreifbar zu machen und sich widerspruchslos einzufügen in eine Erziehung, die den absoluten Gehorsam zum Prinzip erhoben hat. So wie im wilhelminischen Preußen-Deutschland, das einige Leute heute wieder so toll finden.

Der Untertan ist kein geborener Untertan, sondern ein Erziehungsprodukt.

Und nun als Oberhaupt der Familie glaubt Diederich erst recht, sich keine gefühlsmäßige Blöße geben zu dürfen. Mehrere Szenen, in denen er die leidende Emmi zusammengestaucht hatte (weil er ihre Abwehr als reine Renitenz empfand), haben wir ja schon gelesen. Dabei hatte er schon gemerkt, dass sie deprimiert war und sich mit einem Problem herumschlug, über das sie nicht sprechen konnte. Es kommt jetzt endlich zur Sprache.

Da ist Diederich ein bisschen forsch vorgegangen. Aber als er begreift, was der edle Leutnant von Brietzen getan hat, passiert etwas mit ihm, was man als Leser diesem Kaiserzujubler und Redenschwinger gar nicht mehr zugetraut hätte. Eben noch hätte er Emmi nur zu gern ihrer Schwester Magda nach Eschweiler nachgeschickt. Aber auf einmal fängt Emmi an, „leise und inständig zu bitten, daß sie dableiben dürfe. Diederich, dem, er wußte nicht was, ans Herz griff, ließ ratlos die Augen umhergehen, und dann zog er sich zurück.“

Was ihm da ans Herz griff, würde er bald merken.

Aber wir staunen jetzt erst einmal, weil wir das diesem Diederich nicht mehr zugetraut hätten. Es muss wohl wirklich erst direkt neben einem einschlagen, dass man endlich merkt, dass die Welt nicht aus lauter Kaisern, Feinden, Vaterländern und nationalen Deppereien besteht, sondern aus Menschen, richtigen Menschen, denen es richtig wehtut, wenn sie wie Dinge behandelt werden, die man einfach wegwerfen kann.

War da nicht was? Da war was.

Wir blättern um.

Das „Untertan-Projekt“.

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