Übertreibt Heinrich Mann da nicht ein bisschen? Dass er Gas geben will, um seinen Roman so richtig aufs Finale zuzutreiben, ist ja verständlich. Aber die Ereignisse überstürzen sich regelrecht. Eben noch hat er Guste Daimchen die Verlobung angetragen, schon ist die Hochzeit bestellt. Muss ja schnell gehen, Diederich steckt in lauter selbstverschuldeten finanziellen Nöten.
Unternehmerisch klug hat er sich von Anfang an nicht verhalten. Er hat die treuesten Kunden und Geschäftspartner vergrätzt mit seiner bellenden Art, den Nationalhund zu spielen, er hat eine viel zu teure Maschine bestellt und den Rat des erfahrenen Buchhalters Sötbier in den Wind geschlagen. Sein Geschäft geht den Bach runter. Und damit ist er erpressbar geworden, was der gewiefte Regierungsrat von Wulckow ja ausnutzt, ihn regelrecht dazu zu zwingen, sein Haus zu verkaufen – an dessen Junker-Kumpel von Quitzin.
Und der treibt es noch viel ärger: Am Tag der Hochzeit schickt er den Premierleutnant a. D. Karnauke zu Diederich, um ihn regelrecht dazu zu zwingen, noch am Hochzeitstag sein Haus weit unter Wert an den Landjunker zu verkaufen. Diederich ist längst in Schale für die Trauung. Welcher Bräutigam würde sich so eine Unverschämtheit gefallen lassen?
Bei Premierleutnant musste ich auch erst mal nachschauen: Ist das was Besonderes in der Armee, dass einer gleich strammstehen und gehorchen muss, wenn so ein alter Preußenoffizier ins Kontor kommt und den Besitzer anherrscht, als sei er auf dem Kasernenhof? – „Quatsch. Weiß Bescheid. Nur keine Fisimatenten. Höherer Befehl. Schnauze halten und verkaufen, sonst gnade Gott.“
Ein Premierleutnant ist aber auch nur ein Oberleutnant. Im Preußen Wilhelms II. war das kein einträglicher Rang. In der Regel reichte die Bezahlung nicht mal, um eine Familie zu gründen. Aber befehlen durfte man. Die Geschichte von Schuster Voigt, dem Hauptmann von Köpenick, erzählt ja davon. Die Uniform war alles. Sie verlieh Macht und Prestige. Und Diederich steht stramm und gehorcht, obwohl er weiß, dass es falsch ist. Den Hochzeitstag ruiniert er sich damit gründlich.
Was wohl auch Absicht ist. Deswegen hat Heinrich Mann Diederich und seine frisch erworbene Guste zuvor in den „Lohengrin“ geschickt und das Musikdrama durch die Augen der beiden lustvoll zerfetzt. Und es liegt nahe, dass er damit zwei Ziele verfolgte: Einerseits den blechtönernen Musikgeschmack der „neuen Zeit“ zu karikieren mit ihrer ganzen Wagner-Anhimmelung. Und zum zweiten den ach so ästhetischen Geschmack seines jüngeren Bruders Thomas auf die Schippe zu nehmen, der ein bekennender Wagner-Verehrer war und auf diese „Lohengrin“-Szene im „Untertan“ mit den Worten reagierte: „Was für ein liederliches Geschwätz gegen Wagner.“
Obwohl sich Thomas immer sehr genau um die richtige Wortwahl bemüht – hier merkt man, wie tief der Bruderzwist sitzt. Sie geben sich beide nichts. Aber man steht eigentlich die ganze Zeit auf Seiten des Älteren, von Heinrich Mann, der auf den hirnverbrannten Weltkrieg 1915 mit seinem „Zola-Essay“ reagierte, während der ach so kulturvolle Thomas dieses heldenhafte Schlachten auch noch begrüßt hatte.
Das ist wirklich hart, wenn brüderliche Konkurrenz tatsächlich auch noch von solchen politischen Dissonanzen belastet wird. Später wird Thomas Mann ja als der eigentliche deutsche Intellektuelle dastehen, der sich mit eindrucksvollen Worten via Radio an die Deutschen im Hitlerreich wandte, um sie zum Umkehren zu bewegen. Aber bis dahin war es ein verdammt langer Weg.
Und 1914 war eindeutig Heinrich der Klarsichtigere.
Und den „Lohengrin“ betrachtet er mit Guste (pralinenschmatzend) und Diederich (patriotisch aufgewühlt) wohl ganz ähnlich wie die meisten deutschen Kulturbürger das getan haben müssen, die sich damals in Wagner-Inszenierungen setzten. Und ganz zufällig hat Heinrich Mann auch dieses Jetzt-kommt-der-Retter-Drama von Wagner nicht ausgesucht. Denn in der „Lohengrin“-Rolle spiegelt sich ja auch das Märchenbild des jungen Wilhelm II. mit seinem esoterischen Gottesgnadentum.
Das ganze Drama dreht sich ja nur um den „rechtmäßigen Fürsten“, ist also echter Märchenstoff, wie man ihn aus unzähligen Grimm-Märchen und Hollywood-Verfilmungen kennt, wo einem zwar suggeriert wird, es brauche nur ein frischer, unverbrauchter junger Mann zu kommen und das Königreich werde gerettet. Aber meist entpuppt er sich als – welche Überraschung – heimlicher Prinz. Oder „heimliche Gräfin“ wie in dem Stück der Frau von Wulckow.
„Der Untertan“ ist auch gleichzeitig das Porträt einer ganzen Gesellschaft, die sich über die eigene märchenhafte Auserwähltheit nach Strich und Faden in die Tasche lügt. Und im „Lohengrin“ ist es ja so, dass man sich mit Wagners Volk auf der Bühne die ganze Zeit wundert, wer denn dieser komische Schwanenritter ist, den jetzt alle anhimmeln und der sich die ganze Zeit beklagt, dass andere an ihm zweifeln. Quasi der Schwanenritter in der Opferinszenierung. Die neumodische AfD lässt grüßen. Das Gejammer kennen wir schon. Nur dass sich der Opferschwan diesmal nicht als Schwanenritter entpuppen wird wie im „Lohengrin“ auf der Bühne.
„Denn jetzt gab er sich zu erkennen. Die Nennung seines Namens rief bei der ganzen Versammlung, die noch nie von ihm gehört hatte, eine ungeheure Bewegung hervor. Die Mannen konnten sich gar nicht beruhigen; alles andere schienen sie erwartet zu haben, nur nicht, daß er Lohengrin hieß.“
Da wollte also einer regieren, ohne seinen Namen preiszugeben. „Niemals sollst du ihn erraten!“ Und dann ist er schwerst beleidigt, weil er ihn nun nennen musste – und dankt ab. Binnen dreier Tage bekommt das Volk den dritten Herrscher. Denn Lohengrin ist mit einer weißen Taube entfleucht. Aber Diederich entdeckt darin das Prinzip der gottgewollten Macht, „der Allerhöchste Herr ist nächst Gott nur seinem Gewissen verantwortlich. Na und wir wieder ihm.“
Und „wenn das Interesse Seiner Majestät in Betracht kommt“, dann, so deutet Diederich an, ist auch Gustes Leben nichts mehr wert.
Die natürlich wie ein Mensch reagiert: „Das ist ja Mord! Wie komm ich dazu, daß ich muß draufgehen, weil Lohengrin ein temperamentloser Hammel ist. Nicht einmal in der Hochzeitsnacht hat Elsa von ihm was gemerkt.“
Wikipedia glaubt in der Geschichte noch immer Wagners kühne Revolutionserwartungen von 1842 zu sehen: „Elsas bzw. Lohengrins Scheitern nimmt das Scheitern der politischen Utopien von 1848/49 voraus.“
Aber es ist allerfetteste Romantik, was Wagner hier inszeniert. Und vielen Leute geht es mit diesem Lohengrin so, wie es Guste mit ihm geht. Und Diederich auf seine Art. Denn hier wird sein Verständnis von dem, was er (und alle seine Nachkommen) wirklich unter Volk versteht, sichtbar: „,Das ist deutsche Kunst!‘ Denn hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt. Empörung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum der höchste Wert gelegt, und das Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren.“
Und selbst Björn Höcke mit seinem 130 Jahre alten Frauenbild kommt drin vor. Denn genau so denkt Diederich an dieser Stelle: „Auch wirkte es bekannt und sympathisch, daß in dieser Schöpfung der schönere und geliebtere Teil der Mann war. (…) So war denn die Musik an ihrem Teil der männlichen Wonne voll, war heldisch, wenn sie üppig war, und kaisertreu noch in der Brunst.“
Nachher erfahren wir noch, dass Diederich ganz und gar keine Marschmusik braucht, um mit Gustchen im Bett so richtig atemlos zu werden. Aber der Verdacht bleibt: Hier wollte der ältere Heinrich seinem ästhetisierenden Bruder Thomas mal so richtig zeigen, was er von Wagner hielt, so im Allgemeinen, und von diesem temperamentlosen Lohengrin im Speziellen erst recht.
Was ihn nicht daran hindert, seinem Helden Diederich die Hochzeitsfreude durch den schnarrenen Premierleutnant a.D. Karnauke so richtig vermiesen zu lassen. Die mächtigen Herren im Leben des verängstigten Diederich Heßling kennen wir ja. Wenn sie befehlen, springt er, auch wenn er weiß, dass er damit erst so richtig hineingerät in die Probleme. Und damit er nicht ganz wegzittert an der Hochzeitstafel vor lauter Verzweiflung, übereicht ihm Karnauke vor versammelter Gesellschaft den Kronenorden 4. Klasse. Quasi der 5-Groschenlohn für seine Bereitschaft, sein Elternhaus für einen Appel und ein Ei zu verkaufen.
Den Königlichen Kronen-Orden gab es in Preußen tatsächlich, 1861 gestiftet zur Verherrlichung des preußischen Gottesgnadentums. Und auch die vier Klassen, in denen er vergeben wurde. Und dann schaut man in die 4. Klasse und sieht: Von 1869 bis 1916 wurde sie 28.341 Mal verliehen, übrigens genauso oft wie die 3. Klasse.
Aber Diederich ist wieder glücklich und fühlt sich gleich wieder gerettet und obenauf. Die Macht ist ja mit ihm.
Also kann er jetzt mit Guste auf Hochzeitsreise gehen, um den Sinn seiner Hochzeit zu erfüllen. Falls es die Patrioten unter uns vergessen haben sollten – das hier ist er: „Denn die Sache hat den höheren Zweck, daß wir Seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.“
„Oh“, machte Guste. „Bist – du – das – Diederich?“
Wir blättern um.
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