Menschen leben, wie es aussieht, immer in einer Blase. Und dadurch sind sie manipulierbar. Denn was wir mit diesem „gereiften“ Diederich erleben, ist im Grunde die Karriere eines Hochstaplers. Das Thema muss in der Familie gelegen haben. Oder die beiden konkurrierenden Brüder Heinrich und Thomas Mann beschäftigten sich eben doch fast gleichzeitig mit einem ähnlichen Typus. Denn während Heinrich ab 1906 am „Untertan“-Stoff arbeitete, begann Thomas 1905 mit der Konzeption für den Hochstaplerroman, der erst ein halbes Jahrhundert später fertig werden sollte: „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“.
Es sind zwei völlig unterschiedliche Perspektiven. Aber im Kern sind sich dieser Felix Krull und dieser Diederich Heßling zum Mitleidhaben ähnlich. Wikipedia zu Felix Krulls Gesellschaftsverständnis: „Krulls Haltung gegenüber der Mitwelt pendelt zwischen ‚Allsympathie‘ und Erwähltheitsdünkel. Wenngleich Krull die Welt in all ihrer Vielfalt zu lieben vorgibt, lässt er keinen Zweifel daran, dass er an eine natürliche Hierarchie glaubt, dass er von der Ungleichwertigkeit der Menschen überzeugt ist. Thomas Mann hat diese Gesinnung als aristokratisch bezeichnet. Hier hat er sie dem Sohn eines leichtlebigen, Konkurs gegangenen Schaumweinfabrikanten mitgegeben.“
Da hätte statt Krull auch Heßling stehen können. Nur dass Diederich der Sohn eines Papierfabrikanten ist und selbst kurz vorm Konkurs steht. Ansonsten ähneln sich die beiden erstaunlich.
Wobei man nicht so recht entscheiden kann, ob Diederich tatsächlich an all den Blödsinn glaubt, den er erzählt. Aber er hat ja gelernt, dass das funktioniert und wie er ganze Säle damit auf seine Seite bringt und sogar Gerichtsprozesse zum Kippen bringt – eben noch völlig verunsichert und verschüchtert, weil er weiß, dass er im Unrecht ist, und dann steht er auf, zittert, fängt sich und verwandelt sich auf einmal in einen Redner, der keine Unsicherheit mehr kennt, alles niederwalzt und sich regelrecht hineinsteigert in eine Darstellung der Wirklichkeit, von der er eigentlich weiß, dass sie falsch ist.
Und das Verblüffende ist: Ab da scheint er selbst regelrecht überzeugt zu sein davon, dass das die einzig richtige Sicht ist. Und das wirkt. Das hat im Prozess gegen den Fabrikanten Lauer funktioniert, das hat bei den Wahlkampfauftritten gewirkt, und jetzt wirkt es wieder, wo er wieder als Zeuge geladen ist im Prozess des alten Buck gegen die sozialdemokratische „Volksstimme“. Und während alle andere Zeugen entweder in Vergesslichkeit fallen oder nichts gehört und gesehen haben wollen, spielt Diederich den Generösen und behauptet frank und frei, dass er niemals behauptet hätte, dass Buck selbst mit dem alten Klüsing über ein Grundstück für ein Säuglingsheim gesprochen hätte.
Eigentlich ist das selbst nicht einmal ein zwielichtiger Fall, selbst das weiß Diederich, denn dass sich zwei Stadträte aufmachen und mit einem Grundstückseigentümer darüber reden, ob er das Grundstück der Stadt für einen gemeinnützigen Zweck zur Verfügung stellt, ist auch in einem Nest wie Netzig nicht strafwürdig. Aber Diederich hat es ja fertiggebracht, Buck dastehen zu lassen wie einen Mann, der sein Mandat immer nur zum persönlichen Vorteil missbraucht.
Ganz in der Trumpschen Manier: Man versucht den politischen Gegner einfach mit Dreck zu beschmeißen. Und wenn man das geschafft hat und was hängen bleibt, stellt man sich doof und tut so, als hätte man mit dieser Schlammschlacht überhaupt nichts zu tun. Diederich jetzt als Zeuge: „Ich stelle fest, daß ich, was alle Zeugen bestätigen, niemals öffentlich den Namen des Herrn Buck genannt habe. Mein Interesse in der Sache war einzig das der Stadt, die nicht durch einzelne geschädigt werden sollte. Ich bin für die politische Moral eingetreten. Persönliche Gehässigkeit liegt mir fern, und es würde mir leid tun, wenn der Herr Kläger aus dieser Verhandlung nicht ganz vorwurfsfrei hervorgehen sollte.“
Indem er sich als edler Bürger gibt, bringt er es sogar noch fertig, mitten im Gerichtssaal noch einen nachzutreten.
Buck jedenfalls merkt, was Diederich hier spielt und verwahrt sich gegen dessen moralische Belehrungen. Aber er weiß, dass Diederich sein Ziel erreicht hat. Eigentlich ist er nach der Verhandlung ein gebrochener Mann.
Auch wenn er nicht erfährt, welches Spiel Diederich hinter den Kulissen wirklich gespielt hat.
Denn längst gehen ja die Gerüchte um in Netzig, „ungünstige Gerüchte“. Die Aktien der Papierfabrik Gausenfeld fallen. Wer welche gekauft hat, macht jetzt Verlust. Und Buck hat ja gekauft – mit dem von Diederich Heßling geliehenen Geld. Und während des Prozesses weiß es Diederich schon, von dem man nur vermuten kann, dass er den Sommer genutzt hat, eifrig selbst ein paar Gerüchte zu verbreiten. Das kann er ja, das haben wir ja gelesen.
Und noch bevor an diesem Mittag die „Netziger Zeitung“ erscheint, weiß er, dass er ein gemachter Mann ist, „Heßling, Großaktionär von Gausenfeld, war als Generaldirektor berufen worden …“
Der Bursche triumphiert. Die Leute grüßen ihn beim Abgang. „Die Grüße drücken Achtung in dem Grade aus, wo sie in Unterwürfigkeit übergeht. Die Hereingefallenen grüßten den Erfolg.“ So haben es die Vaterländler und Selbstermächtigungspatrioten am liebsten: bewundert zu werden für ihre Heimtücke und ihre edle Nachtreterei.
Was entsteht, ist ein geschlossenes Bild. Denn wer mit dieser patriotischen Partei ist, muss sich anpassen. Der muss zum braven Mitläufer werden, denn diese Partei ist unduldsam und gnadenlos. Hat ja Diederichs Kaiser immer wieder gesagt: „Wer nicht mit mir ist …“
So macht man Volk und Gefolgschaften. Mit Einschüchterung, Prahlerei und Angstmachen.
Und den anderen, den Demokraten, werden die Instrumente gezeigt. Und der Umsturz wird ihnen unterstellt. Wenn schon die Mutmaßung genügt, dass die anderen heimliche Pläne haben könnten, ist bald jedes staatliche Mittel recht, sie zu schikanieren und zu malträtieren. Und auch gern mal umfassend abzuhören.
Sie könnten ja (Un-)Heimliches vorhaben. In Diederichs Kopf sieht das dann so aus: „Und Bucks Politik? Eine internationale Gesinnung, immer nur Opfer fordern für demagogische Zwecke, aber wie Hund und Katz mit der Regierung, was dann wieder auf die Geschäfte zurückwirkte: das war die Politik eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat und dem es an gutbürgerlicher Mündelsicherheit gebricht.“
Man erkennt den alten Buck nicht wieder. Er hat diesem Diederich wirklich nichts getan, nicht einmal hat er ihn unfreundlich behandelt, nicht einmal kritisiert. Und trotzdem macht ihn Diederich zum gefährlichen Feindbild, lässt über die „Netziger Zeitung“, auf die er ja nun mächtigen Einfluss hat, auch gleich noch die heimtückische Frage streuen, ob so ein Mann als Stadtrat noch tragbar ist. Und natürlich muss der dienstwillige Redakteur die Frage verneinen. Und die Netziger Ratsherren setzen tatsächlich eine Versammlung an, um genau darüber zu beraten.
Logisch, dass Buck da lieber gleich sein Amt niederlegt.
Und es kommt noch schlimmer. Denn die Netziger strafen den Alten jetzt öffentlich mit Verachtung, obwohl er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Ein öffentlicher Verruf genügt und sie wenden sich ab, grüßen ihn nicht mehr. Auch die nicht, die durch Buck Stellung und Gewinn erlangt haben.
Diederich hat es geschafft, binnen eines Jahres den Ruf des Mannes völlig zu zerstören. Und selbst den Kindern wird beigebracht, dass so ein Mensch aussieht, „der Schande gemacht hat“.
Obwohl wir wissen, dass Buck nichts dergleichen getan hat.
Die Hoffnung legt Heinrich Mann ganz und gar auf die Schulkinder, denen der militaristische Kühnchen und der frömmelnde Pastor Zillich augenscheinlich gewaltig auf den Keks gehen. Heimlich grüßen sie den alten Mann, entblößen sogar den Kopf, denn die Schüler trugen ja damals Mütze zur Schuluniform. „Unwillkürlich hielt er dann den Schritt an und sah in die zukunftsträchtigen Gesichter, noch einmal voll der Hoffnung, mit der er sein Leben lang in alle Menschengesichter gesehen hatte.“
Das, was unser Diederich schon lange nicht mehr kann, da steigt nämlich die Schamesröte in sein Gesicht, er fängt an zu stammeln und er rettet sich in patriotische Phrasen.
Aber durch den Rest des Buches müssen wir noch durch. Es hilft alles nichts. Wir haben es versprochen.
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