So ein bisschen ist Heinrich Mann in diesem Buch ja auch der Verteidiger des menschlichen Anstands. Darum geht es ja die ganze Zeit, wenn Diederich Heßling von göttlichem Sendungsbewusstsein schwadroniert und höhere Mächte dafür aufruft, dass er sich den friedlichsten Mitmenschen gegenüber schäbig verhält. Bislang konnten wir ja davon ausgehen, dass in ihm noch so ein bisschen Gewissen nagt. Aber dieser Gerichtsprozess scheint ihn endgültig in eine andere Laufbahn zu katapultieren.

Denn er hat ja Verbündete gefunden. Die Macht ist mit ihm, zwar penetrant nach Kot an den Stiefeln riechend – aber nichts anderes hat sich Diederich ja gewünscht, als endlich von der großen, unfassbaren Macht gesehen und für voll genommen zu werden. Und der Regierungsrat von Wulckow ist ja in Netzig so etwas wie der lange Arm des Kaisers.

Keine zurückhaltende oder nur still kontrollierende Staatsgewalt, sondern eine, die auch über all das hinwegzuwalzen bereit ist, was man in der großen neuen patriotischen Denkweise als humanitär, liberal und – schrecklich – demokratisch empfindet. Die neue Zeit ist eine stählerne und ihre Handlanger sind rücksichtslose Niederwalzer. Genau nach dem von Wilhelm II. selbst verkündeten Motto: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“

So verwandeln sich Menschen, die nicht untertängist buckeln, per definitionem in Feinde.

Und Diederich ist mittenmang. Oder ab jetzt wohl besser: vorneweg.

Und da erstaunt, dass Wolfgang Buck als Verteidiger des armen Lauer noch einmal zu richtigem anwaltlichem Mut aufläuft und den öffentlich brandmarkt, den er für diesen fiesen Majestätsbeleidungsprozess zuvorderst für verantwortlich hält: Diederich.

„Ich werde also nicht vom Fürsten sprechen“, sagt Buck in seinem Abschlussplädoyer, mit dem er den stammelnden Jadassohn als Ankläger deutlich in den Schatten stellt, „sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm II., sondern vom Zeugen Heßling. Sie haben ihn gesehen! Ein Durchschnittsmensch mit gewöhnlichem Verstand, abhängig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht für ihn standen, und von großem Selbstbewußtsein, sobald sie sich gewendet hatten.“

Genauso haben wir Diederich im Prozess erlebt. Ein Fähnchen im Wind. Und nun, wo der allgegenwärtige Kotgeruch alles gewendet hat, obenauf: prahlerisch, rücksichtslos, gnadenlos.

Aber es kommt noch schöner. Es ist, als steckte Heinrich Mann selbst in der Robe des Verteidigers, der genau in dem Moment zum Ankläger wird, als für seinen Mandanten schon alles entschieden scheint.

„Wie er waren zu jener Zeit viele Tausende, die ihr Geschäft versahen und eine politische Meinung hatten. Was hinzukommt und ihn zu einem neuen Typus macht, ist einzig die Geste: das Prahlerische des Auftretens, die Kampfstimmung einer vorgeblichen Persönlichkeit, das Wirkenwollen um jeden Preis, wäre er auch von anderen zu bezahlen.“

Man denkt die ganze Zeit an eine bestimmte Partei. Und ahnt dabei, wie tief der Abgrund der Geschichte ist: 130 Jahre.

Aber das war’s noch lange nicht: Wolfgang Buck hat zu Diederich nicht umsonst von der Schauspielerei geredet. Und wenn Diederich tausendmal glaubt, Buck rede von seiner eigenen Liebesaffäre. Der Schauspieler ist ein anderer.

„Die Andersdenkenden sollen Feinde der Nation heißen, und wären sie zwei Drittel der Nation.“

Wie ist das heute mit unseren Drittel-Patrioten? Genauso verhalten sie sich doch. Oder etwa nicht?

„Klasseninteressen, mag sein, aber umgelogen durch Romantik. Eine romantische Prostration vor einem Herrn, der seinem Untertan von seiner Macht das Nötige leihen soll, um die noch Kleineren niederzuhalten. Und da es in Wirklichkeit und Gesetz weder den Herrn noch den Untertan gibt, erhält das öffentliche Leben einen Anstrich schlechten Komödiantentums. Die Gesinnung trägt Kostüm, Reden fallen, wie von Kreuzrittern, indes man Blech erzeugt oder Papier; und das Pappschwert wird gezogen für einen Begriff wie den der Majestät, den doch kein Mensch mehr, außer in Märchenbüchern, ernsthaft erlebt.“

Aber genau diese romantische Märchentünche überzieht das ganze Wilhelminische Reich. Die sogenannte „Gründerzeit“ zeigt genau das – lauter Märchenfiguren: Ritter, Prinzen, Jungfrauen, Engelchen … und bis vor kurzem wirkte das alles wirklich wie lange her, abgetaucht in eine verklärte Vergangenheit und überlebt, genauso wie das ganze Heimatgedöns und – noch eine Ecke schärfer – dieses kindische Gerede von einem „christlichen Abendland“, hinter dem die ganze verkitschte Mönchs- und Jungfrauen-Romantik des 19. Jahrhunderts steckt.

Das prägt das Bild dieser Kaiserzeit. In den Museen dominierten die romantischen Heimat- und Seelenschinken, historische Inszenierungen, in denen alles wie Theater aussieht. Manches davon ist noch in den Malereien in aufgemotzten Burgen, Schlössern und Ratssälen zu sehen.

Buck sagt noch einen sehr treffenden Satz: „Erlogene Ideale ziehen unlautere Sitten nach sich, dem politischen Schwindel folgt der bürgerliche.“

Ob Buck tatsächlich übertreibt, wenn er den angeklagten Lauer zu sehr verteidigt? Wie will man das wissen? Der Richter verurteilt ihn trotzdem, obwohl klar war, dass Diederich der eigentliche Provokateur war, zu einem halben Jahr Gefängnis. Und damit wahrscheinlich zum Ruin. Und jetzt, wo mit Lauer einer der wichtigsten Bürger aus der liberalen Gruppe verurteilt ist und auch der gewiefte Redakteur Nothgroschen über dessen viel zu menschliche Art, mit der Belegschaft umzugehen, moralisch urteilt, schichten sich auch die Beziehungen hinter den Kulissen um. Der alte Klüsing, der Anteile an der „Netziger Zeitung“ hält, bietet Diederich Geschäfte an. Wer zum richtigen politischen Klüngel gehört, bekommt auch die Happen vom Geschäft. Politische Gschäftlhuberei münzt sich in Geld um.

Aber noch schöner wird’s, als der bissige Major Kunze Diederich auffordern muss, Mitglied im Kriegerverein zu werden. Auch daran hat von Wulckow gedreht. Und Diederich genießt die Rache und lässt sich eine formidable Huldigungsrede fertigen, die zu seinem Eintritt in den Verein verlesen wird. Da ist alles, was Buck attestiert hat: großes, protziges Theater. Über das man so nur schreibt, wenn man dieses Bedürfnis nach gekaufter Bewunderung nicht hat.

Sage keiner, das sei nicht modern, in einer Zeit, in der sich Leute allein für ihr Bekanntsein feiern und bezahlen lassen und der Politikzirkus zu einer ganzen Aufschneiderei, Prahlerei und Säbelrasselei wird. Diederich jedenfalls ist nichts mehr peinlich: „Aus einem unter den größten persönlichen Opfern geführten Kampf sei Diederich als lauterer, echt deutscher Charakter hervorgegangen“, preist er sich selbst, als er die Herren Kunze und Kühnchen in sein Kontor bestellt.

Jetzt ist er völlig losgelassen. Wir befürchten das Allerpeinlichste.

Aber das gibt’s dann erst in Kapitel V.

Das „Untertan-Projekt“.

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