Wenn man in der Schule den „Untertan“ liest (wenn das heute überhaupt noch passiert), dann denkt man nicht daran, was diese Geschichte aus den fernen 1890er Jahren eigentlich mit der Gegenwart zu tu hat. Das ist ja nun wirklich alles schon Geschichte. Und in diesem Jahr feiern wir ja auch irgendwie den Untergang des Wilhelminischen Reiches. Obwohl keiner feiert. Irgendwie ist den Deutschen dieses Jahr 1918 ein bisschen peinlich.
Die Revolution war nicht so richtig eine, die man vorzeigen kann. Eher eine eilige Verantwortungsabgabe der Herren Generalfeldmarschälle an die eifrigen Sozialdemokraten, die irgendwie immer brav bereitstehen, wenn der Laden mal wieder gerettet werden muss. Es ist sozusagen die deutsche Staatsrettungspartei, wenn die Nationalisten und Stiefelhosenträger mal wieder alles verkorkst und vergeigt haben.
Wovon so um 1895 herum, wo dieser Roman handelt, noch niemand spricht, denn das Deutsche Reich, 1871 von Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen in Versailles als neues deutsches Kunstprodukt geschaffen und inszeniert, war auf dem Gipfel seines Erfolges, hatte Kolonien bekommen, verdiente sich mit Exporten dumm und dämlich, seine Städte wuchsen in einem Wahnsinnstempo zu Großstädten und Wilhelm II. war erst so kurz an der Macht, dass er noch keinen wirklich großen Unfug anrichten konnte. Seine berühmte „Hunnenrede“ würde er erst 1900 halten. Aber mit opernhaft prahlerischen Reden war er schon mehrfach aufgefallen. Das parodiert ja Diederich Heßling immer dann, wenn er eigentlich mit seinem menschlichen Latein am Ende ist.
Dann haut er einen kraftmeierischen Spruch à la Kaiser raus, blitzt die Anwesenden scharf an mit den Augen und nimmt eine drohende Haltung an. Und er droht wirklich. So wie er jetzt mal wieder den Bürgermeister Scheffelweis einzuschüchtern versucht (was keine große Kunst ist), wenn er donnert: „Ich habe Sie schon damals darauf vorbereitet, daß ein neuer Geist in die Stadt einziehen werde. Die schlappe demokratische Gesinnung hat abgewirtschaftet! Stramm national muß man heute sein! Sie waren gewarnt!“
So agieren sie. Immer wieder. Sie verachten das, was Demokratie wirklich lebendig macht: Respekt, Toleranz, Humanität. „Schlapp“ nennen sie das. Das hat sich nicht geändert.
Und auch die Art und Weise, eine Gesellschaft aufzumischen. Denn der Vorteil an dieser Art, Position zu beziehen, ist: Man muss nicht nachdenken, sondern reiht sich ein. Man muss nicht verhandeln und zuhören, sondern stellt Ultimaten. Man muss auch niemanden respektieren, sondern schnoddert seine Verachtung für andere Menschen mit breiter Brust hinaus. Das wirkt wie eine klare Meinung und Haltung, auch wenn nichts dahintersteckt als ein hochgeschnürtes Korsett aus Angst.
Was wir ja bei Diederich immer wieder gesehen haben. Der leichteste Protest bringt ihn ins Schwimmen, lässt ihn bleich oder knallrot werden. Und bevor er mit Scheffelweis spricht, hat er mehrere peinliche Szenen zu erleben an diesem Abend. Denn Frau von Wulckow hat ja eingeladen ins alte Harmoniehaus, wo ihr neuestes Stück aufgeführt wird – ein richtiges Pfennigroman-Stück um eine unerkannte Gräfin. So eine sauber erfundene Schmonzette, wie sie in der Operette gern gespielt wird oder im deutschen Unterhaltungsfernsehen.
Aber das ist nicht das Wichtigste an diesem Abend, an dem sich die Netziger richtig in Unkosten gestürzt haben, um mit Kleidern Eindruck zu schinden. Denn das ist der Abend, an dem man sich zeigt, justiert, fixiert und bewertet. Und die Gerüchteküche kocht.
Wir haben ja Diederich zugeschaut, wie er das üble Gerücht über den alten Buck gestreut hat – und jetzt haben wir zumindest unser moralisches Problem mit Napoleon Fischer, dem Sozi, der in Diederichs Fabrik Maschinenmeister ist und den Chef des Öfteren einfach durch einen grimmigen Blick in Schrecken versetzt.
Das möchte man mal erleben heutzutage, dass der grimmige Blick eines Sozis genügt, einen Burschen wie Diederich in Schrecken zu versetzen. So weich, wie unsere Sozialdemokraten heute geworden sind. Man wagt sie ja kaum noch zu berühren.
Und augenscheinlich hat Fischer wahr gemacht, was er Diederich verkündet hat: Er hat das Gerücht in ganz Netzig verbreitet – sozusagen als klassenkämpferisches Mittel gegen den alten bürgerlichen Buck. Und an diesem Abend in der Harmonie zeigt das Gerücht Wirkung. Die Netziger beginnen den alten und den jungen Buck zu schneiden. Und natürlich wird Diederich beinah ertappt. Er weiß ja, wer das üble Gerücht in Umlauf gesetzt hat. Und als Guste Daimchen (die durch das Gerücht ja geradezu zu einer illegitimen Tochter des alten Buck gemacht wird) ihn anspricht, ist er dicht davor, sich gründlich zu blamieren.
Sein Glück: Es schwirrt noch ein zweites Gerücht herum – diesmal über den watteweichen Bürgermeister Scheffelweis und seine Schwiegermutter.
Diederich kann sein Glück kaum fassen. Denn damit ist er obenauf. Das boshaftere Gerücht wird ihm nicht zugeschrieben. Da haben „Buck und Genossen“ ganze Arbeit geleistet. Und diese neuere Anrüchigkeit aus dem Netziger Privatleben gibt ihm auch noch moralische Macht über den zutiefst verunsicherten Scheffelweis.
Und man liest es und stutzt: Funktionieren Fakenews heute nicht genauso?
Sie sind ja nicht deshalb so brandgefährlich, weil sie falsch sind, sondern weil sie die Wirklichkeit ganz bewusst verdrehen – so wie die schäbigen Gerüchte in Netzig. Und sie haben ein Ziel: Sie sollen Menschen diskreditieren.
Und sie sorgen für eine Atmosphäre des zunehmenden Misstrauens. Denn auf einmal glauben alle Leute in diesem kleinen Kaff zu wissen, wie es die Bucks und die Scheffelweis’ so treiben. Auch wenn das alles nur Mutmaßungen sind.
Diederich hat ja vorgemacht, wie man solche Gerüchte gezielt in die Welt setzt und damit das Klima in einer kleinen Stadt vergiftet und gleichzeitig den politischen Gegner diskreditiert. Und zwar ohne selbst als Urheber erkenntlich zu werden. Der Angriff kommt direkt aus dem Hinterhalt. Und die Netziger glauben unbesehen, was erzählt wird. Und reagieren prompt und ziehen sich vom alten Buck zurück, als hätte er die Pest.
Da hat dieser alte Demokrat, der nun seit über 40 Jahren im Magistrat für die Netziger rackert, noch vor wenigen Tagen seine Hoffnung auf Diederich als neues politisches Talent gesetzt, und der dankt es ihm, indem er ihn und seine Freunde gesellschaftlich zu vernichten versucht. Was ist das für eine politische Haltung? Natürlich: Ganz der Kaiser, der öffentlich alle zu seinen Feinden erklärt hat, die „wider mich sind“.
Aber die Folgen sind finster. Die geben gesellschaftliche Kräfte frei, die sich forsch und kaisertreu radikalisieren, kein Pardon geben (siehe „Hunnen-Rede“) und meinen, sie müssten jedes „schlappe demokratische“ Denken zertreten, bloß weil es nicht auf ihrer Linie ist. Das ist Diederichs „neuer Geist“. Ein boshafter Geist mit einer zweifelhaften Moral. Eine Art Rüstung, die Diederich sich übergestülpt hat und mit der er jedes Mal rasselt und scheppert, wenn er sich am unsichersten fühlt.
Ganz der Kaiser, würde Tucholsky an dieser Stelle schreiben.
Und da ist man bei der psychologischen Dimension von Geschichte, die in unseren Geschichtsbüchern fast nie vorkommt. Die Diederich- und Wilhelm-Typen bedenken nie, was sie mit ihrem Schwadronieren, Drohen und Verleumden anrichten. Die menschlichen Verletzungen sind es erst recht. Sie sind klassische Narzissten, die ihre tiefsitzende Verunsicherung hinter rabiatem Machtgehabe verstecken. Und damit beeindrucken sie natürlich all jene, die genauso verunsichert sind und dann, wenn es knistert in der Luft, eiligst die Seiten wechseln und damit die Atmosphäre einer ganzen Stadt zum Kippen bringen.
Netzig ist überall. Und seit dem Prozess ist Diederich obenauf. Und jetzt weiß er auch, wie herrlich sich Fakenews eignen, die ganze Stadt in Misstrauen zu versetzen und völlig irre Diskussionen anzuzetteln. Genau so, wie Fakenews auch heute funktionieren. Man riecht es regelrecht. Herr von Wulckow sitzt wieder im Reichs-, sorry: Bundestag.
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