Es ist eigentlich die zentrale Szene in diesem Buch, wenn Diederich vor Gericht muss. Denn noch weiß er nicht, wie ihm seine Zeugenaussage bekommen wird. Die Netziger Bürgerschaft schneidet ihn. Auch die Herren, die ihn in der Saufnacht begleiteten, jetzt aber so tun, als hätten sie von seinem herausfordernden Gespräch mit dem Fabrikanten Lauer nichts mitbekommen. Auch im Zeugenstand stammelt Diederich erst einmal. Aber jetzt ist der Autor selbst sichtlich sauer.

Denn Heinrich Mann hat dieses Buch ja nicht ohne Anlass geschrieben. Er wollte zeigen, wie eine ganze Gesellschaft kippt, wenn die Anbeter der Macht das Sagen haben und die Institutionen des Staates missbrauchen, um ihre Parteiinteressen durchzusetzen. Und die patriotische Bewegung, der Diederich sich zugehörig fühlt, war in dieser Frühphase der Regierung Wilhelm II. noch genauso jung und morgenschön wie heute die AfD.

Sie konnten sich noch als junge, sogar moderne Bewegung gerieren und tun es auch. Politik ist zuallererst Psychologie. Sie lebt von Stimmungen und dem Gefühl der Menschen für Macht und Ohnmacht. Gerade dann, wenn ein Land wie das von Bismarck zusammengeschmiedete Deutschland gerade erst dabei ist, die ersten demokratischen Strukturen zu entwickeln.

Der alte Buck hat zwar an der Revolution von 1848 teilgenommen. Aber das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Er hat sich im kleinen Netzig den Ruf eines aufrechten Liberalen erarbeitet. Er steht für eine Politik, bei der sich die Bürger in die Augen sehen können, ohne zu erröten. Was Heinrich Mann in dieser Szene mehrmals als Stilmittel einsetzt. Als wäre er es selbst, der seinem Diederich so in die Augen schaut, ganz so, als würde er begreifen wollen, was für ein seltsames Geschöpf da im Flur des Gerichts steht. Denn Diederich versucht sich ja zu verstecken.

Es ist Wolfgang Buck, der ihn entdeckt und ihm seine Schwester Judith vorstellt. „Liebe Judith, ich weiß nicht, ob du schon unseren werten Feind kennst, den Herrn Doktor Heßling. Heute wird er uns vernichten.“

Da ist zumindest Buck noch zuversichtlich, dass er einen ordentlichen Prozess erleben wird, wie er das in seinem Studium gelernt hat.

„Aber Frau Lauer lachte nicht, sie erwiderte auch Diederichs Gruß nicht, sie sah ihn nur an mit rücksichtsloser Neugier. Es war schwer, diesen dunklen Blick auszuhalten und ward noch schwerer, weil sie so schön war.“

Später wird er von Lauer selbst so einen Blick ernten. Aber da wird der Prozess schon eine andere Wendung genommen haben. Aber dafür sorgt keine Zeugenaussage, sondern „Landgerichtsdirektor Sprezius, anzusehen wie ein alter wurmiger Geier“. Er untersagt Wolfgang Buck schlichtweg, die Zeugen selbst zu befragen, sondern alle Fragen erst einmal ihm, dem Vorsitzenden Richter vorzulegen, er entscheide dann, welche Frage gestellt werde.

Bestimmt haben wir Juristen unter uns, die sich auch mit dem damaligen Strafrecht auskennen. Aber so verdattert wie Buck reagiert, scheint das auch damals nicht üblich gewesen zu sein. Das Ergebnis: Buck sind alle Mittel genommen, seinen Mandanten zu verteidigen. Und der ehrenwerte Richter selbst sorgt dafür, dass der Prozess nur noch eine Richtung kennt, was selbst Diederich verblüfft zur Kenntnis nimmt. Denn auf einmal treten noch ganz andere Zeugen auf, die noch viel selbstsicherer bestätigen, dass Herr Lauer wohl irgendwie doch was gegen den Kaiser gesagt haben könnte.

Majestätsbeleidigung!

Dass sogar der Untersuchungsrichter Fritzsche in den Zeugenstand tritt und dafür sorgt, dass Diederichs harte Aussage voll zur Wirkung kommt, sieht ganz und gar nicht nach einem fairen Prozess aus. Und als dann gar der stockkonservative Regierungspräsident von Wulckow (vor dem der alte Buck Diederich gewarnt hatte) den Gerichtssaal betritt, „im Jagdanzug, mit großen, kotigen Stiefeln“, kippt die Stimmung völlig. Er ist der hiesige Vertreter der Macht. Und wenig später „roch es im Saal nach etwas anderem. Niemand wußte, woher es kam, auf der Tribüne mißtraute man einander und rückte, das Taschentuch vor der Nase, diskret vom Nachbarn ab.“

Nur um den in seinem schäbigen Jagdanzug vor sich hin müffelnden von Wulckow entsteht ein leerer Raum.

Wenn das nicht bildhaft ist. Die Macht ist mit einem mächtigen Geruch präsent und schaut dem Richter Sprezius, dem Staatsanwalt und der Verteidigung auf die Finger. Es ist, als wüssten die Zeugen jetzt, was sie zu sagen haben – auch Nothgroschen, den wir schon als Redakteur der „Netziger Zeitung“ kennengelernt haben. Auch er wird mutig und reitet Lauer so richtig rein. Und als noch Untersuchungsrichter Fritzsche ihn belastet, merkt Lauer, dass er mit einem gerechten Urteil hier nicht mehr rechnen kann. Da ist Diederichs großer Auftritt nur noch Zugabe. Hier wurde kein Delikt geklärt, sondern ein Machtverhältnis. Selbst die Entlastungszeugen werden vom Richter selbst denunziert. Und selbst dem Verteidiger Buck verpasst der Richter eine Geldstrafe, als der es wagt, seine Prozessführung zu kritisieren.

Hier wurden sichtlich Machtverhältnisse demonstriert. Wer die Macht hat, bestimmt, was Recht ist. Und selbst Heuteufel, der Arzt, vor dem Diederich in Angst bibberte, muss sich jetzt unterstellen lassen, er hätte „das Delikt der Majestätsbeleidigung“ unterstützt. So schnell wird aus einem Entlastungszeugen einer, der selbst mit Bestrafung rechnen muss. Das ist der neue Wind in Netzig. Etwas miefig, da helfen auch die aufgesperrten Fenster nichts.

Aus Diederichs letzter Zeugenaussage wird auf einmal eine regelrechte Rede. Jetzt, wo er riecht, dass er nichts mehr zu befürchten hat und die Fronten geklärt sind, da läuft er zur Hochform auf. Da wird er zum Redner und schlägt Töne an, die man von einem Burschen, der da etwas später nach dem WK 1 sein Rednertalent entdecken wird, bestens kennt. Denn von hier kommen sie her, die Sprüche von Gott und Vaterland – aus den Reden Kaiser Wilhelms, die Diederich verinnerlicht hat.

Hier steckt das opernhafte „Deutschland, erwache!“

Oder mit Diederichs Worten: „Mögen unsere Bürger endlich aus dem Schlummer erwachen, in dem sie sich so lange gewiegt haben, und nicht bloß dem Staat und seinen Organen die Bekämpfung der umwälzenden Elemente überlassen, sondern selbst mit Hand anlegen!“

Und da behauptet Diederich noch, er sei nicht nachtragend. Jetzt legt er erst richtig los: „Der Umsturz erhebt das Haupt, eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, die geheiligte Person des Monarchen in den Staub zu ziehen …“

Und dann kommen Töne, die einem heute noch viel vertrauter vorkommen, auch wenn sie Heinrich Mann nur indirekt wiedergibt: Hier in Netzig „verschloß man die Augen und Ohren vor der Gefahr, man verharrte in den veralteten Anschauungen einer spießbürgerlichen Demokratie und Humanität, die den vaterlandslosen Feinden der göttlichen Weltordnung den Weg ebneten. Eine forsche nationale Gesinnung, einen großzügigen Imperialismus begriff man hier noch nicht.“

Heute wird ja statt Humanität gern „Gutmenschentum“ gesagt, da merken es die Leute vielleicht nicht gleich, dass man mit dem Gerede von „Werten“ die eigentlichen Werte gerade entsorgen will. Und die „vaterlandslosen Feinde“, das sind heute irgendwie alle, die für ein offenes Deutschland eintreten, einem, in dem Recht gilt und nicht „nationale Gesinnung“. Neue Masken für einen hundert Jahre alten Geruch.

Der Angeklagte Lauer ist sichtlich schockiert. Aber von Wulckow ist zufrieden mit diesem neuen Mann in seinem Klüngel, mit dem er Netzig aufzumischen und umzukrempeln gedenkt. Er lobt Diederichs Gesinnung.

Und dann wird es noch einmal ganz plastisch: „Und er ging weiter auf seinen kotigen Stiefeln, schwenkte den Bauch in der verschwitzten Jagdhose und hinterließ, durchdringend wie je, diesen Geruch gewalttätiger Männlichkeit, der bei allem, was geschah, im Gerichtssaal gelagert hatte.“

Logisch, dass dieses Buch in Wilhelms Kaiserreich nicht wirklich erscheinen konnte. Es wäre nicht nur ein Skandal geworden, sondern ein Prozess wegen Majestätsbeleidigung. Wie muss der feinsinnige Heinrich Mann diesen vulgären Kaiser mit seiner Opernkostümierung verachtet haben – und alle seine Vasallen gleich mit. Man hat den Geruch regelrecht in der Nase und überlegt schon, ob man so einen Jäger in der näheren Bekanntschaft hat und was das bedeutet.

Das Gericht macht erst mal Pause.

Fenster öffnen, Luft holen.

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