Eigentlich ist dieser Diederich ja nur ein armes kleines Würstchen. Während er gerade mit aufgesetzter Blasiertheit dabei ist, die kleine Papierfabrik zu ruinieren, hat Wolfgang Buck in Berlin sein Examen gemacht und taucht in Netzig tatsächlich – wie versprochen – als Rechtsanwalt wieder auf. Und auch noch als Verteidiger des Fabrikanten Lauer, den Diederich als Kronzeuge belastet hat. Auf der Straße treffen sie sich. Könnten wir jetzt vielleicht einfach mal den Helden wechseln, sehr geehrter Heinrich Mann?

Denn während Diederich sich alles, was er sagt und in die Welt hinausposaunt, nur angelesen und von anderen übernommen hat, hat ihn dieser Buck ja schon in Berlin beeindruckt, weil er eigene Gedanken aussprach, in sich ruhend, furchtlos, weil er augenscheinlich davon ausging, mit Diederich nicht nur einen Altersgenossen, sondern auch einen zuhörenden Gesprächspartner zu finden. Oder wie er es jetzt in Netzig ausdrückt: „Wir haben doch Sympathie füreinander.“

Würde er Diederich wieder so freundlich begrüßen auf offener Straße, wenn er wüsste, wie Diederich ihn und seinen Vater in anderen Kreisen schlechtredet? Man weiß es nicht. Er ruht in sich und ihm scheint sogar recht egal, was so geredet wird. Er bringt es sogar fertig, Diederich zu bitten, sich um seine Verlobte Guste Daimchen zu kümmern. Seine Berliner Liebschaft scheint ihm wichtiger.

Obwohl sichtlich beleibt, kommt er einem in seiner Art regelrecht erfrischend vor, nachdem man Diederichs piefiges Familienleben gerade miterlebt hat: „Wir sind eine deutsche Familie. Wen wir in unser Haus aufgenommen haben, den nehmen wir auch in unsere Herzen auf“, sagt er, als Kienast wieder am Familientisch sitzt. Er hat mit Kienast tatsächlich um Magda gefeilscht, als wäre sie ein Rennpferd oder eine Investition. Rein rechtlich gehören ihr ja Anteile an der Fabrik. Aber ist sie nun 35.000 Mark wert oder 50.000?

Mein Buch ist an der Stelle heftig lädiert. Da hab ich es wohl beim ersten Lesen in die Ecke gepfeffert, weil man in meiner Welt mit Frauen und Schwestern so nicht umgeht. Da hilft auch nicht, sich zu vergewissern, wie das mit Selbstbestimmung und Emanzipation um 1895 in Deutschland noch aussah. Da können die Frauen selbstbewusst und voller Initiative sein – am Ende werden sie doch verkuhhandelt. Und Diederich vermengt das gleich ordentlich mit seinen geschäftlichen Problemen. Kienast hat ja gesehen, dass seine kleine Firma auf den Abgrund zufährt. Wo aber soll Diederich nun noch das Geld hernehmen, um Kienast, der schon nach einem Tag als Verlobter durch Netzig spaziert, Gustes Anteil auszuzahlen?

Vielleicht war es der Moment, dieses von Heinrich Mann mit böser Ironie Offengelegte: Dass Geld alle menschlichen Beziehungen zerstört, selbst Schwestern in blanke Ware verwandelt. Und dass das romantische Salbadern über die „deutsche Familie“ diesen in Wirklichkeit völlig herzlosen Zustand nur kaschiert. Dass all das Geröhre über deutsche Werte, deutsche Sitten, Vaterland und Heimat nichts anders ist als bunte Verpackung. Aufgeklebte Idylle, die mit großer Pose einen Zustand verkündet, von dem alle wissen, dass er gelogen ist.

Und ich bin mir sicher, dass sich daran bis heute nichts geändert hat, dass es genauso verlorene Seelen sind, die gar kein echtes Geliebtwerden mehr kennen, die nun versuchen ihre schäbige Auslegware von Werten, Heimat und nie erlebtem Christentum als politische Vision zu verkaufen. Sie haben es augenscheinlich bitter nötig. Und von Diederich wissen wir es ja: In sich selbst findet er keine Ruhe und keine Gewissheit. Er ist ein Windbeutel auf zwei Beinen. Und er steht mit offenem Mund daneben, wenn der alte und der junge Buck tatsächlich über das reden, was sie bewegt. Sie haben noch Leidenschaften, Gefühle und Überzeugungen. All das, was Diederich fehlt.

Mal schauen, wann das Wort Werte auftaucht. Es scheint ja direkt hinter der Ecke zu lauern.

Und wer es nicht glaubt, der lese selbst. Heinrich Mann hat genau diesen Widerspruch feinsinnig beschrieben, wenn er Wolfgang Buck geradezu freudestrahlend auf Diederich zulaufen und mit ihm über die seltsame Zeit, den Kaiser und die eigenen Zukunftshoffnungen reden lässt. Als würde dieser Buck Diederich in seiner Scheinheiligkeit gar nicht durchschauen, der ja immer dann, wenn er so richtig in der Bredouille steckt, anfängt, von großen Zeiten zu schwadronieren.

Und Wolfgang Buck? Der wird regelrecht lebhaft, als er genau das Gegenteil anpreist: „Worauf es für jeden persönlich ankommt, ist nicht, daß wir in der Welt wirklich viel verändern, sondern daß wir uns ein Lebensgefühl schaffen, als täten wir es.“

Dahinter steckt seine Verachtung für die ganze Aufschneiderei und Sensationsmacherei der Zeit, die gleichzeitig voller Genörgel steckt, weil sich all die kaisertreuen kleinen Bürger von irgendjemandem fortwährend gekränkt und nicht anerkannt fühlen. So wie Diederich, der ja nie gelernt hat, Menschen für sich zu gewinnen und Gefühle zu erwidern.

Menschen, die in ihrem kleinen Leben keine Bestätigung finden können, sind nur zu bereit, sich als Teil einer großen Oper zu empfinden, in der der strahlende Held voranreitet in glorreichere Zeiten.

Wolfgang Buck: „Neben den Ereignissen hergehen, die Entwicklung nicht beherrschen, sondern in ihr mit einbegriffen sein: ist das zu ertragen? … Im Innern unbeschränkt! – Und dabei außerstande, auch nur Haß zu erregen anders als durch Worte und Gesten. Denn woran halten sich die Nörgler? Was ist ernstlich geschehen?“

Gute Frage. Gültig noch immer. Und als er Diederich fragt, wen er wohl für den Typus der Zeit hält, sagt Diederich natürlich: „Den Kaiser!“

„Nein“, sagte Buck. „Den Schauspieler.“

Ohne Ausrufezeichen. Man merkt, wie genau Heinrich Mann diese Szenen ausarbeitet hat. Dieser Buck nimmt das Leben längst mit einer gewissen Abgebrühtheit. Er lässt sich von der ganzen brachialen Schauspielerei nicht mehr beeindrucken, auch wenn er genau weiß, wohin das führt. Einer wie Wilhelm II. kommt ja nicht heraus aus seiner Rolle. Er hat sich einen Beraterkreis aus lauter Ja-Sagern organisiert. Und nicht nur die „Netziger Zeitung“ pflegt einen Kaiserkult, der scheinbar ein ganzes Reich in strahlender Kaiser-Begeisterung baden lässt. Und die kleinen und großen Diederiche machen alle mit. Man kann regelrecht zuschauen, wie aus den prahlerischen (und historisch längst berüchtigten) Reden dieses Hohenzollern-Kaisers ganz zwangsläufig ein Krieg entstehen muss.

Alternativlos. Natürlich.

Kriege beginnen in den gloriosen Reden von kleinen Führern, die glauben, die Welt mit einfachen Freund-Feind-Bildern begreifen zu können. Und wenn ihr Prahlen verstärkt wird durch eifrige Anhänger und seine sensationslüsterne Presse eifrig mitmacht, dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Dann beginnt sich die Eskalationsspirale zu drehen. Und die Leute, die sich der Suggestion dieser Schauspielerei nicht entziehen können, glauben sehr bald, dass das alles so sein und so enden muss.

Welchen Anteil hat dieses Wilhelminische Feinde-Malen eigentlich für die grassierende Endzeitstimmung in Deutschland um 1900?

Kann es sein, dass Endzeitstimmungen genau daraus resultieren, dass zumindest die Noch-Sensiblen merken, dass sie die wildgewordenen Kriegsmacher nicht mehr bremsen können und alles tatsächlich auf eine Katastrophe zusteuert?

Eine Stimmungslage, die wir heute auch nur zu gut kennen. Es ist wieder genau dieselbe Pranzerei.

Wolfgang Buck: „Er selbst, den wir meinen, wäre am erstauntesten, glauben Sie es mir, wenn der Krieg, den er immerfort an die Wand malt, oder die Revolution, die er sich hundertmal vorgespielt hat, einmal wirklich ausbräche.“

Diederich: „Darauf werden Sie nicht lange zu warten brauchen! Und dann sollen Sie sehen, daß alle national Gesinnten treu und fest zu ihrem Kaiser stehen!“

Wie muss Wolfgang Buck eigentlich seine Verlobte Guste Daimchen verachten, wenn er jetzt gerade diesem kriegslüsternen Diederich vorschlägt, er solle sich mal so um sie kümmern, wie man einen Kochtopf umrührt?

Durchschaut er diesen Diederich nicht? Oder nimmt er ihn einfach nicht für voll, weil er ihm auch gleich mal ankündigt, dass er ihn im Zeugenstand ordentlich piesacken und nicht schonen werde.

Dabei weiß Diederich noch gar nicht, dass er morgen vor Gericht muss. Im Kopf erklärt er den jungen Buck zwar für moralisch verkommen. Aber Buck ist tatsächlich Rechtsanwalt und damit Teil der Macht, vor der Diederich sich eigentlich fürchtet wie ein kleines weiches Kind.

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