Eigentlich ist man schon ziemlich angeschickert an dieser Stelle im Buch und wundert sich die ganze Zeit, wie das die Leute damals aushielten, derart lange zu feiern, ein elend langes Stück anzuschauen, danach noch zu tanzen und sich zu präsentieren und dann auch noch emsig am Buffet und an der Getränkekarte zu hängen. Denn Diederich, der ja nun schon eifrig für seine politische Karriere scharwenzelt hat, besäuft sich jetzt auch noch mit Wolfgang Buck.

Man staunt über diesen Buck, gegen den Diederich ja mit allen Kräften intrigiert. Obwohl Heinrich Mann hier etwas erwähnt, was man mit seinen Worten vom „weichen Kind“ nicht wirklich für voll genommen hat: Diederich hat ein Babyface. Eines jener arglos kindlichen Gesichter, denen man keine Bosheit zutraut, denen man sich einfach anvertraut, weil man glaubt, dass man hier ein freundschaftliches Gegenüber trifft. Nicht einmal die jungen Frauen, mit denen er ja nun wirklich schäbig umging, können ihm etwas verargen. Im Gegenteil: unübersehbar buhlen sie um ihn.

Es gibt diese Menschen, vom Aussehen her so begnadet, dass man ihnen nichts Schlimmes zutraut und nichts übel nehmen mag.

So ein bisschen wie in Patrick Süßkinds „Das Parfüm“.

Nur dass sich Diederich gar nicht anstrengen muss oder gar einen besonders schönen Geruch anlegen muss. Bei dem Lebenswandel, den er führt, muss er eigentlich sogar ziemlich unausstehlich riechen – er schwitzt ständig, er raucht, er säuft und bei irgendwelchen Reinigungsprozeduren erleben wir ihn auch nicht.

Dass er augenscheinlich allein schon durch sein nettes Babyface einen echten Vorteil hat bei allem, was er tut, hat selbst der grimmige Assessor Jadassohn mitgekriegt, der sich ja im Gericht und auf der Bühne nur so gewaltig anstrengt, den Bösewicht zu spielen, weil er um sein Manko weiß – seine riesigen Fledermausohren.

Es ist eine der vielen so klug gebauten Szenen, an denen man merkt, wie aufmerksam Heinrich Mann die neue Welt betrachtet hat, die er hier beschreibt. Denn auch wenn uns das alles wie lange her und längst imperial in Untergängen abgetaucht vorkommt, war das für Heinrich Mann die verblüffende Szenerie einer neuen Zeit, in der sich auch neue politische Bewegungen formten.

Nicht nur die Sozialdemokratie, auch der Nationalismus. Denn der ist etwas ganz Neues, geboren mit dem modernen Nationalstaat, der sich nicht mehr über ein Herrscherhaus definiert, sondern über ein Staatsgebiet und den Staatsbürger, die Staatsmacht und den künstlich ausstaffierten Patriotismus. Und deshalb begegnet auch Napoleon Fischer diesem nationalen Emporkömmling Heßling noch nicht mit Misstrauen. Die Nationalisten würden sich erst nach der Niederschrift dieses Buches gründlich desavouieren.

Aber in Diederich steckt schon alle Arroganz und Häme dieser Staatseifrigen. Und er lässt es auch Jadassohn spüren, dem er – heuchlerisch, wie Heinrich Mann betont – die Frage stellt: „Was ist denn? Ach so, die Präsidentin. Sie haben ihr nicht gefallen. Sie sollen auch nicht Staatsanwalt werden. Man sah ihre Ohren zu sehr.“

Da hat sich Jadassohn nun so eine Mühe gegeben, den Regierungspräsidenten (der mit den kotigen Stiefeln) und dessen dramenschreibende Gattin zu beeindrucken – und es nützt nichts. All sein nationales Getöse. Diederich nehmen sie es ab.

Und Jadassohn weiß auch den Grund. „Sie können lachen, mein Bester! Sie wissen nicht, was Sie an Ihrem Gesicht haben. Ihr Gesicht, nichts weiter, und in zehn Jahren bin ich Minister.“

Und noch einer hat es gemerkt, dass dieser „ideale Schwiegersohn“ auf seine Mitwelt so außergewöhnlich wirkt. Eigentlich müsste ja alles, was er tut, abstoßen: Er prahlt, er lästert, beleidigt die Frauen, liebedienert und redet den ganzen theatralischen Quark, mit dem der Kaiser seine Reden spickt. Vor Gericht hat er sich eigentlich schäbig benommen, das aber mit einer patriotischen Wortflut übertönt. Aber selbst Wolfgang Buck findet ihn faszinierend.

Am Buffet stolpert Diederich über den Rechtsanwalt, der sich von all dem Geschwätz nicht aufregen lässt. Er sitzt da und zeichnet die Netziger Weiblichkeit. Und er hätte auch Diederich nur zu gern gezeichnet. „Damals, vor Gericht, während Ihres großen Monologes, hätte ich Sie zeichnen mögen.“

Dieser Diederich ist für ihn augenscheinlich so etwas wie ein besonders exotisches Exemplar. „Das werden Sie doch zugeben, bester Heßling, so eingehend wie ich hat sich mit Ihnen überhaupt noch niemand beschäftigt … Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Ihre Rolle vor Gericht hat mich mehr interessiert als meine eigene. Später, zu Hause vor meinem Spiegel, habe ich sie Ihnen nachgespielt.“

Man liest die Stelle automatisch mit dem Wissen des Nachgeborenen und sieht den kleinen, noch fast unbekannten Saalredner der NSDAP vor sich, wie er vorm Spiegel steht und seine Rollen und Gesten einstudiert. Die Fotos seines späteren Hausfotografen Heinrich Hoffmann belegen es ja: Dieser neue Politikertyp nutzt alle Mittel der Theatralik, um im öffentlichen Auftritt Wirkung zu erzielen. Und er scheut dabei nicht mal Peinlichkeiten. Wirkung ist alles.

Nur dass Wolfgang Buck natürlich nicht für so eine Rolle übt. Er hat es ja Diederich beim letzten Treffen schon ins Gesicht gesagt, für was er den Kaiser und sein Zeitalter hält.

Und Diederich verwechselt es wieder. Oder will es verwechseln. Das bringt einen ja heute bei den ganzen sentimentalen Patrioten ebenso wieder in Verwirrung: Sie halten ihre Rolle für Überzeugung.

Diederich: „Meine Rolle? Sie wollen wohl sagen, meine Überzeugung. Freilich, für Sie ist der repräsentative Typus von heute der Schauspieler.“

Wir haben ja schon einmal vermutet, dass Heinrich Mann sich eigentlich in diesem freisinnigen, kunstliebenden, aber auch ein wenig sarkastischen Wolfgang Buck ins Buch eingezeichnet hat. Mit ihm beobachtet er stellvertretend seinen Helden Diederich, ist auf seltsame Weise fasziniert. So wie vom Kaiser. Denn hier hat er den perfekten Schauspieler vor sich, einen, der sogar selbst zu glauben scheint, dass sein Gerede von Deutschsein und nationaler Gesinnung eine echte Überzeugung ist. Obwohl es alles nur leere Worthülsen sind.

Aber diese Leere scheint Diederich gar nicht aufzufallen: „Ihre Skepsis und Ihre schlappe Gesinnung sind nicht zeitgemäß. Mit … mit Geist ist heute nichts zu machen. Die nationale Tat … hat die Zukunft.“

Das ist pure Oper. Schlechtes Theater. Ein Popanz. Der leider – gerade weil er sich so rabiat gibt – in die Katastrophe führen muss. Buck sieht es: „Die Zukunft? Das ist eben die Verwechslung. Die nationale Tat hat abgehaust, im Lauf von hundert Jahren. Was wir erleben und noch erleben sollen, sind ihre Zuckungen und ihr Leichengeruch. Es wird keine gute Luft sein.“

Und dann spitzt er das einfach zu auf den wirklichen Kern: „Dünkel und Haß der Nationen, das ist das Ziel. Darüber hinaus geht es nicht.“

Und was sagt Diederich? Kann er mit dieser bedrohlichen Vision etwas anfangen, die ja nun wirklich mit zwei finsteren Weltkriegen Wirklichkeit wurde?

„Wir leben in einer harten Zeit“, sagt er. Und dann erschreckt Buck ihn ein wenig mit den vaterlandslosen Gesellen, vor denen Diederich ja bekanntlich panische Angst hat. Aber Napoleon Fischer, der finstere Sozi, ist gar nicht im Saal. Dafür trägt der Rokoko-Bürgermeister auf der Wand eine dreifarbige Schleife: die französische Trikolore.

Wie aber endet dieser fast freundliche Schlagabtausch? Diederich befindet, Buck sei besoffen – und bestellt noch eine Flasche Sekt. Und weil er gerade in Schwung ist, singt er schon mal das Lied von 1914, auch wenn das schon außerhalb des Buches liegt: „Blut und Eisen bleibt die wirksamste Kur! Macht geht vor Recht!“

Und da er immer noch einen (erfundenen) Kaiserspruch draufsetzt, lässt sich auch Buck nicht lumpen. Buck sichtlich aufblühend in der Satire auf die martialischen Sprüche Wilhelms II., die Diederich so ernst nimmt.

„Eine hochverräterische Sache zu wehren!“ schrie Buck. „Eine Rotte von Menschen -„

Diederich fiel ein: „- ist es nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen!“

Und beide einstimmig: „Verwandte und Brüder niederschießen!“

Bei „Herrliche Tage!“ sind sie wohl beide stockbesoffen. Und auch Guste erschrickt, als sie auf einmal diesen entfesselten Diederich sieht. Zeit für den Abgang. Buck stützt den ganz in seiner Rolle rollenden Diederich (man ist ja wirklich geneigt, dass R zu rollen wie ein alter Schauspieler der Wiener Schule).

Gebieterisch dreht sich Diederich in der Tür noch einmal um: „Zerschmettere ich!“

Damit ist wenigstens dieser lange und dicht gepackte Abend zu Ende. Heinrich Mann gibt sichtlich Gas in seinem Roman und rafft die Zeit und die Entwicklung. Vielleicht, weil er gemerkt hat, dass er, wenn er zu detailliert weitermacht, so einen fetten Wälzer schreiben wird wie sein Bruder Thomas 1901 mit seinen „Buddenbrooks“. 800 Seiten! Das will er sichtlich vermeiden und gibt Tempo.

Wir blättern um.

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Wenn man in diesem Zusammenhang das aktuelle Schauspiel der AfD-Politiker beobachtet, sich als Partei der Mitte zu geben, um das dahinterstehende völkisch-nationale Gedankengut zu verstecken..

Monitor hat da schon im Jahr 2015 zwei eingeübte Schauspieler gegeneinander gestellt:
Björn Höcke, Reden in Erfurt und Magdeburg vom September/Oktober 2015; Goebbels-Rede im Bewegtbild vom 10.02.1933, alles andere: Rede im Sportpalast zum “Totalen Krieg” vom 18.02.1943.
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-hoeckes-reden–goebbels-sound-100.html

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