Da hat man sich nun ein Kapitel lang daran gewöhnt, dass sich ein Bursche wie Diederich Heßling an einem durchzechten Tag gnadenlos radikalisieren kann und am nächsten Tag das kleine Netzig eigentlich glühen müsste in nationalem Größenwahn – aber Heinrich Mann hat mit diesem „Stammtischagitator, Fabrikbesitzer, Kontrahent des Proletariats, Beherrscher der Familie, lokalpolitischen Intriganten und Verehrer des deutschen Kaisers Wilhelm II.“, wie ihn Wikipedia nennt, ganz und gar keine eindimensionale Gestalt geschaffen.

Was einem erst so richtig bewusst wird, wenn man daran denkt, wie statisch und unveränderlich die meisten Trauerklöße der neueren deutschen Romanliteratur gezeichnet sind. Beim Umblättern in dieses vierte Kapitel merkt man erst, mit welcher Lust auch Heinrich Mann die Statik seines eigenen Helden immer wieder unterläuft. Ist das nur Ironie? Oder schon die feine, fast liebevolle Rache eines Autors, der weiß, dass er die Kriegshasardeure in der Wirklichkeit nicht bremsen kann, in seinem Roman aber als das ausmalen kann, was sie sind: Marionetten von Stimmungen und Meinungen, von Vorurteilen und Standesdünkel?

Wikipedia suggeriert ja, dass dieser schwadronierende Diederich der Held seines eigenen Handelns ist. Aber selbst in seinem nationalistischen Gegröle mitten in der Nacht war er nur Marionette. Einer, der sich in der neuen Gang, in der er nun glaubt, ein anerkanntes Mitglied zu sein, trotzdem einkauft – denn nicht nur das Telegramm an den Kaiser hat er honorig bezahlt, am Morgen, der fast schon Mittag ist, wird ihm auch noch die Rechnung aus dem Ratskeller offeriert. Der nächste Bettelgang zu Sötbier ist fällig – und saftiger Ärger mit seiner Mutter und den Schwestern, die er von den Einnahmen der kleinen Fabrik mitversorgen muss.

Wer weiß, wie gefährdet so ein kleines Unternehmen ist, wenn man auch nur eine falsche Entscheidung trifft, dem bricht an der Stelle schon stellvertretend der Schweiß aus: Will dieser Kerl denn alles auf einmal zerstören, weil er alles besser zu wissen glaubt?

Aber es kommt ja noch dicker an diesem Tag, denn Assessor Jadassohn, der schon glaubt, wie der Staatsanwalt selbst agieren zu können, hat den Fabrikanten Lauer wegen kaiserlicher Beleidigung angezeigt – und ausgerechnet Diederich hat er als Hauptzeugen angegeben. Und während Diederich bis Mittag seinen Rausch ausschlief, ging die Nachricht schon herum in Netzig. Und wohin Diederich jetzt auch kommt: Er bekommt es unter die Nase gerieben und erlebt – das kennen wir ja noch aus Berlin – lauter peinliche Momente.

Momente, in denen sich ein anständiger Mensch wirklich in Grund und Boden geschämt hätte. Die ganze Fassade fällt in Klump – erst beim Doktor Heuteufel, der sich nun einmal zur liberalen Partei zählt, und bei dem Diederich nun seinen peinlichen Brief zurückfordert, mit dem er seinerzeit um eine ärztliche Freistellungsbescheinigung fürs Militär gebettelt hat. Auf einmal ist dieser Heuteufel, den er verachtet, ein Mitwisser. Und er lässt es Diederich spüren, dass ihm seine Not schnurzpiepegal ist. Dass es ihm sogar schnurzpiepegal ist, dass Diederich anfängt zu drohen und ihn anzublitzen, als könnte er den einzigen Arzt in Netzig mit so etwas beeindrucken.

Noch am Vortag durfte auch der Leser glauben, dass Diederich und seine neuen Freunde jetzt nur noch drohend durchs Städtchen laufen müssten und alle ziehen erschrocken die Köpfe ein – und nun hat Heuteufel seinen Spaß dabei, dass ihm Diederich gar nichts kann. Den Brief bekommt er eh nicht zurück. Aber zum Rachenauspinseln muss er zu Heuteufel. Dieses Machtverhältnis ist also doch irgendwie andersherum. Da hilft auch kein aufgeplusterter Schneid.

Und ganz Ähnliches erlebt – Tage später – Diederich mit dem pensionierten Major Kunze, der gar nicht lange braucht, um Diederichs zusammengeschwindelte Ich-war-beim-Militär-Geschichte zu zerfetzen – preußisch knapp. Denn als alter Offizier hat er einen Blick dafür, ob einer wirklich gedient hat oder nur die große Klappe hat. Aber am meisten verübelt ihm Kunze, dass er sich als Zeuge gegen den Fabrikanten Lauer hat aufstellen lassen.

Da waren die Zeugenvernehmungen bekannt geworden, und Diederich scheint der Einzige gewesen zu sein, der gegen Lauer ausgesagt hatte. Das ging wohl wie ein Lauffeuer durch Netzig: „An dem Tage, an dem es bekannt ward, fand Diederich seinen Tisch im Ratskeller leer.“

Selbst der kühne Kühnchen flüchtet. Und mit Major Kunze erlebt Diederich, wie leicht er durchschaubar ist als Simulant und Drückeberger. Die ganze schöne Fassade ist hin. Und Kunze setzt noch einen drauf. Erst schaute er in den Ratskeller, in dem Diederich saß, und schnaubte: „Kein Mensch da!“ Und als er geht, nachdem Diedrich ihm fast schwanzwedelnd zu Füßen lag, wird daraus: „Sie sollten sich ihr Publikum genauer ansehen“, sagt er zum Ratskeller-Wirt Grützmacher. „Wegen eines Gastes, der mal zu viel da ist, ist nun der Herr Lauer beinahe verhaftet worden.“ Schließlich bezeichnet er den zurückbleibenden Diederich gar als Denunziant.

Man kommt aus dem Mitschämen nicht heraus. Eigentlich möchte man stellvertretend für Diederich im Boden versinken. Aus einer peinlichen Situation gerät er in die nächste, schwitzt Blut und Wasser. Andere Leute hätten sich nach so einer Blamage erst einmal im Keller versteckt und rundum entschuldigt. Aber mit seinem Berlinaufenthalt, dem Doktortitel und seiner geerbten Rolle als Fabrikbesitzer glaubt dieser kleine Fettklops tatsächlich, große Töne spucken zu dürfen und selbst bei Guste Daimchen aufzukreuzen, als wäre er der Prinz von Preußen.

Aber selbst beim Besuch bei Mutter und Tochter Daimchen latscht er großmäulig in jeden nur denkbaren Fettnapf, bloß weil er den alten Buck und seinen Nebenbuhler, den jungen Wolfgang Buck, schlechtmachen will. Als er dann gar die Bucks (immerhin ist Guste Daimchen ja mit Wolfgang verlobt) als Familie im Niedergang bezeichnet, hat er es mit Guste sofort verscherzt: „Bergab? Und mit Ihnen geht es wohl bergauf? Weil Sie sich im Ratskeller betrinken und dann den Leuten Krach machen?“

Die Geschichte war schnell herum.

In wenigen Seiten hat Heinrich Mann hier die ganze mystische Euphorie des Kneipabends im Ratskeller ins Gegenteil verkehrt. Nur Jadassohn bleibt eigentlich übrig – aber mit dem hat Diederich ein ganz seltsames Verhältnis, gemischt aus Angst, Verachtung und Gutgläubigkeit. Fast käme es zum Duell zwischen den beiden. Aber man merkt, dass es Jadassohn ist, der seinen Diederich hier austestet. Und wie zu erwarten, kneift der an der entscheidenden Stelle.

Es ist eigentlich ein Kabinettstückchen der Macht. So ähnlich wie die Szenen mit Mahlmann in Berlin. Tatsächlich hat Diederich keinen Mut und kein Rückgrat – und wird so zur Marionette. Er möchte etwas sein. In der Saufnacht schimmerte das durch, als er vor Nothgroschen posierte wie der Kaiser (oder später der Oberposierer Adolf), als er sich gar anmaßte, ihm ein fingiertes Telegramm des Kaisers unterzujubeln.

Man erfährt nicht, ob Nothgroschen dafür tatsächlich die Druckmaschinen angehalten hat. Aber am nächsten Tag steht’s tatsächlich in der „Netziger Zeitung“ – nebst lauter weiteren Kaisergeschichten und -anekdoten, die Nothgroschen einfach mal aus der „Nationalzeitung“ abgeschrieben hat, die der Kaiser persönlich liest. Und als Diederich hier die Geschichte mit dem Telegramm auch noch liest, bekommt er so ein leises mystisches Gefühl.

Ein ganz seltsames Gleichgewicht: Mal schüttelt ihn die Scham und es wird ihm so kalt, als befände er sich „in einer Verbrecherhöhle“, und dann lässt er sich von einem mystischen Gefühl umglühen. Wenn es Ironie ist, ist es eine fast mitleidende Ironie. Als verstünde Heinrich Mann diesen Halt- und Ratlosen nur zu gut und hielte ihm noch lauter kleine Rettungsstöckchen hin, an denen sich Diederich aus dem selbst gemachten Schlamassel ziehen könnte. Und irgendetwas in ihm treibt ihn dann doch immer wieder dazu, aufzuschneiden und loszudröhnen. Wie der Kaiser, meinte Tucholsky 1919, der in diesem oszillierenden Kleinbürger aus Netzig den ganzen Kaiser Wilhelm II. erkennen wollte. Er hatte ihn ja noch selbst erlebt.

Aber ist der Typus wirklich aus der Welt?

Ich fürchte: Nein.

Nur dass keiner der heute Lebenden mehr den alten Kaiser erlebt hat. Und kaum einer noch merkt, dass der nachfolgende Adolf in seinem Auftreten immerfort den Kaiser imitiert hat. So wie Diederich, das ist das Verblüffende. Als wäre der eine die komplette Parodie des anderen, der doch nur eine literarische Figur ist. Es steckt schon eine Menge Hitler in diesem Heßling – nur dass Diederich (bis jetzt) noch zu abgrundtiefer Scham fähig ist.

Aber wer weiß, was jetzt folgt.

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