Ist die Staudte-Verfilmung des „Untertan“ von 1951 tatsächlich so gut, wie stets behauptet wird? Warum gibt es keine neue? Ist den Regisseuren dieser Typus des Anbeters der Macht so fremd geworden? Oder sind sie dafür blind geworden, weil die alten Bilder mit dem angebeteten Kaiser und der ganz preußischen Subalternität jedem Popanz von Uniform gegenüber so nicht mehr da sind?
Sind sie das wirklich nicht? Die nächsten Seiten im Buch sind gespickt mit Szenen, in denen Heinrich Mann seinen Diederich in immer peinlicheren Situationen zeigt. Denn eine Wirkung hat seine strenge Erziehung ja erreicht: Er hat das preußische Kastensystem verinnerlicht. Da kann einer zwar – indem er sich in die Uniformen der Burschenschaft zwängt und den Korpsgeist verinnerlicht – eine starre, scheinbar feuerfeste Hülle besorgen und sich endlich auf gleicher Höhe mit einem uniformierten Straßenbahnschaffner fühlen.
Aber tief drinnen im Kern ist Diederich noch immer der verunsicherte Sohn eines rabiaten Unteroffiziers. Da kann ihn dann die Korpsehre dazu bringen, einen etwas turbulenten Vorfall bei einem Tanzvergnügen (man erinnert sich an Diederichs Ausspruch, er gehe nur zu Konzerten, „bei denen man auch Bier trinken kann“) dazu zu nutzen, den Übeltäter zur Rede stellen zu wollen. Aber der Bursche flieht. Und Diederich und sein Kumpel Gottfried jagen ihm nach und harren dann stundenlang vor dem Haus aus, in dem der Missetäter, der sich so frech an „ihrem“ Mädchen vergriffen hat, verschwunden ist.
Ist der Kerl überhaupt satisfaktionsfähig?
Und dann kommt der Bursche in Leutnantsuniform wieder raus, will sich verleugnen, aber sein ebenso uniformierter Begleiter hat die Standesehre verinnerlicht. Oh ja, wir sind in Preußen. Und Diederich liest nicht nur den Adelstitel auf der überreichten Visitenkarte: „Da nahm er sich nicht mehr die Zeit, auch die andere zu lesen, sondern begann kleine, eifrige Verbeugungen zu vollführen.“
Sage keiner, diese Buckelei gebe es heute nicht mehr. Man schaue sich nur auf jedem pompösen Empfang um, wenn die politische Amtswalterschaft einmarschiert, egal ob Staatssekretär oder Amtsstellenleiter, wie das Anscharwenzeln beginnt. Uniformen schaffen das heute nicht mehr. Aber Titel und Ränge. Und wer kein so biegsames Rückgrat hat, der kriegt Kreuzschmerzen schon beim Zuschauen.
Und Diederich? Er sammelt weiter Erniedrigungen. 100 Mark hat sich der dreiste Mahlmann von ihm geborgt. Von Korpsgeist gestählt will Diederich, der ja nun kein junger Fuchs mehr ist, sie sich holen, geht zu Mahlmann ins Büro, nennt ihn einen Schwindler und Betrüger – und wird von dessen Packer Friedrich aus dem Haus expediert. Man könnte beinah überlesen, wie beeindruckt Diederich davon ist, dass Mahlmann ihn zum wiederholten Mal wie Dreck behandelt.
„Diederich war gekränkt im Namen sämtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, daß Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder beträchtlich aufgefrischt hatte. ‚Ein ganz gemeiner Hund‘, dachte Diederich. ‚Aber so muß man sein …‘“
Haben Sie jüngst einen Mahlmann getroffen? Sie laufen noch immer herum. Genauso wie die Diederiche. Sie gehören zusammen wie ein paar alte Latschen: der, der weiß, wie er mit Unverschämtheiten Eindruck schindet und Geschäfte macht, und der, der sich von Unverschämtheit beeindrucken lässt.
Damit ist Diederich eigentlich reif fürs Militär. Vorher stirbt sein Vater. Was uns daran erinnert, dass Diederich auch noch ein spätes und ein Einzelkind war. Und dass sein Vater lange brauchte, um seine kleine Papierfabrik aufzubauen. Woran Diederich erst einmal vom alten Buchhalter Sötbier erinnert wird, als er sich über den scheinbar viel zu geringen Gewinn der Fabrik ärgert. Immerhin ist er jetzt der Ernährer der Familie, muss seine Mutter und – hoppla, wo kommen die denn her? – seine beiden Schwestern mit ernähren. Als aber seine Mutter ihm nahelegt, lieber nicht zu heiraten und so das Erbe seines Vaters zu bewahren, rastet Diederich aus: „,Vater war nicht so krankhaft sentimental wie du‘, schrie er. ,Und er log auch nicht.‘ Frau Heßling glaubte den Seligen zu hören und duckte sich.“
Was muss das für eine Ehe gewesen sein?
Aber der Jähzorn des Vaters hat sich, wie man sieht, direktemang vererbt. Man ist mittendrin in einer kleinstbürgerlichen Welt, in der alle fortwährend damit beschäftigt sind, ihre kleine, schäbige Machtposition in einem als starr gedachten Gefüge zu verteidigen. Diederich ist jetzt in den Rang seines Vaters aufgestiegen. Und könnte es dabei belassen, wäre da nicht der Korpsgeist. Wer nicht gedient hat, ist kein „richtiger Mann“. Verkatert und „ganz nackt ausgezogen“ steht Diederich vor dem Stabsarzt und erlebt, wie preußische Erniedrigung aussieht. Und wie findet er das? Er findet es toll.
„Ja, Diederich fühlte wohl, daß alles hier, die Behandlung, die geläufigen Ausdrücke, die ganze militärische Tätigkeit vor allem darauf hinzielte, die persönliche Würde auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstmörderische Begeisterung.“
Das ist garantiert nicht das, was die anderen Dressierten erlebten, die auch nicht – wie Diederich – versuchten, ihre Verbindungen zu nutzen, sich vom Militärdienst freizuschwindeln. Es ist etwas anderes, was deutlicher wird, wenn Diederich vor Unteroffizier Vanselow in untertänigste Posen verfällt, wenn Vanselow den General spielt oder gar „ein Mitglied der königlichen Familie“, „dann war Diederichs Verhalten so, daß es dem Unteroffizier ein Lächeln des Größenwahns abnötigte.“
An der Stelle hat man fast vergessen, dass Vanselow die „Einjährig Freiwilligen”, von denen Diederich auch einer ist, verachtet. Denn das sind die „Gebildeten“, die sich in Vanselows Augen genauso miserabel benehmen wie die Muschkoten, die zum Militärdienst verpflichtet sind.
Und sogar im Privatgespräch in der Kantine mit Vanselow schwärmt Diederich vom „Aufgehen im großen Ganzen!“
Da ist es wieder, wonach er sich seit seiner Schulzeit sehnt.
Und was alle nationalen Bewegungen für die Diederiche so attraktiv macht: ein großes Ganzes, in dem sie ihre fest zugewiesene Rolle haben.
In Diederichs Kopf geht das eine seltsame Einheit ein: „die sachliche Begeisterung, zu der Diederich völlig bereit war“ und die „persönliche Not“, die ihn beim Exerzieren im Gelände verzweifeln lässt. Deswegen tut er alles, um dem Drill zu entfliehen und nutzt dazu die Drähte in seiner Burschenschaft.
Na, wer hat auch so ein trinkfestes Netzwerk mit Alten Herren irgendwo schön hoch oben im Apparat, die einem in der Not auch ein paar geschnörkelte Testate schreiben? „Teutonia sei’s Panier!“ Ist es nicht so, dass es schon lange wieder so ist, dass man nur im richtigen Netzwerk sein muss, dann passiert die Karriere von ganz allein? Und wer nicht drin ist, robbt draußen weiter durch den Schlamm und lässt sich von den Vanselows schikanieren.
Aber wir lernen auch: Dieser Typus steckt nicht nur im Diederich. Denn als der Oberstabsarzt den Stabsarzt, der den drückebergerischen Diederich vorher so zusammengeschissen hat, Kraft seiner Autorität darauf hinweist, dass dieser Heßling wohl tatsächlich ein kleines Problem mit dem Fuß hat und nicht diensttauglich sei, scharwenzelt sogar der Stabsarzt – vor Diederich. Denn wenn einer einen ganz oben kennt, dann färbt das ab. Dann hat man Teil an der fernen Macht. Und die Farce rundet sich für Diederich zur Wonne, wenn er jetzt wieder mit Blitzen in den Augen fragen darf: „Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?“
Das klingt wie Schwejk, ist aber nicht Schwejk.
„Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren“, sagt der Stabsarzt und macht kehrt. Wenigstens ihm ist das Ganze noch peinlich. Und Diederich hat, was er wollte: Er hat gedient und sich doch erfolgreich gedrückt. „Und dann war er ‚draußen‘.“
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Wenn ich das richtig verstanden habe, bestand die ‘Freiwilligkeit’ darin, nach Erwerb der mittleren Reife (2-jährig vorfristig, mit 16 Jahren) bzw. der Zulassung zur Obersekundarstufe (1-jährig vorfristig, mit 16/17 Jahren), der allgemeinen Wehrpflicht mit 17 bzw. 18 Jahren, durch eine militärische Ausbildung zum Reserve-Offizier zu entgehen.
Neben dem ‘Standesadel’ wurden damit auch Söhne bürgerlicher Bildungs- und Geldeliten, zur Offizierslaufbahn zugelassen, wenn auch zweitklassig.
Unterhalt, Unterbringung und Ausrüstung mussten selbst getragen werden, durch den Vater oder Vormund verbürgt, dessen Fähigkeit dazu amtlich bescheinigt werden musste.
Über die Jahre wurden die konkreten Ausführungen immer mal wieder geändert, Unterschiede bestanden auch in Kriegs- bzw. Friedenszeiten,
aber das Prinzip eines anerkannten ‘Militäradels’ und damit die Verankerung und Anerkennung des Militarismus in der Gesellschaft war dadurch immer gegeben.
Und studentische Burschenschaften mit ihren fördernden ‘Alten Herren’ bzw. eine Offizierslaufbahn mit ihren Vernetzungen sind auch heute noch für Politikerkarrieren hilfreich. Und die ‘unpolitischen’ Elite-Damen zur Partnerwahl sind in, auch studentischen, Charity-Vereinigungen vernetzt.
PS: Sehr gute Serie. Dankeschön für’s Erinnern und die nachdenkenswerten Gedanken, auch im aktuellen Zeit-Bezug.