Für FreikäuferLZ/Auszug aus Ausgabe 54Die Zeitreise macht einen Sprung. Seit der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten sind über fünf Jahre vergangen, die deutsche Olympiade 1936 hat Nazi-Deutschland enormes Renommee verschafft. Parallel wurden Presseorgane aufgelöst oder auf Linie gebracht, die von der SPD gegründete LVZ gibt es nicht mehr, aber die ohnehin reaktionären „Leipziger Neuesten Nachrichten“. Andere Parteien als die NSDAP sind seit dem Frühjahr 1933 von den Nazis verboten worden oder haben sich auf Druck der Nazis lieber aufgelöst. Nationalsozialistischer Alltag ist – soweit man davon sprechen kann – eingekehrt.
Lag der Fokus in den ersten Jahren vorwiegend auf der Innenpolitik, so hat sich Hitler seit 1936 vermehrt der Außenpolitik zugewandt. Die Revision des Versailler Vertrags steht oben auf der Agenda. Die Wehrpflicht wurde bereits wieder eingeführt, das entmilitarisierte Rheinland militarisiert. 1938 geht es auch um die Expansion gen Osten, um den Deutschen mehr Lebensraum zu geben. Es ist die sogenannte Lüge vom Lebensraum. Österreich ist seit März 1938 Teil des Deutschen Reichs. Die Spannungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich sind bereits da, aber noch bleibt das Sudentenland tschechisch.
Wie lebt es sich in Leipzig?
Die Hochburg der Sozialdemokraten hat, schneller als viele dachten, die Farbe von rot zu braun gewechselt, wie schnell, wird in Mark Lehmstedts Buch „Leipzig wird braun“ beeindruckend beschrieben.
Der 1. Mai 1938 ist ein guter Tag, um sich diesem nationalsozialistischen Alltag durch eine Zeitungslektüre zu nähern. Eine Zeitreise, bei der man lesen kann, wie die Propaganda in den Botschaften funktionierte.
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Schon die Titelseite der „LNN“ ist eine Reise in eine vergangene, aber nie vergessene Zeit. Die Leipziger Neuesten Nachrichten (LNN) bringen zwei großgewachsene, blonde, athletische Männer auf das Titelbild. Sie zeigen den Hitlergruß und schauen bestimmt nach vorn. Männer in Arbeitskleidung und Arbeitsgerät. Darunter ein halbiertes Zahnrad in dem groß steht „1. Mai“. Bisher waren Bilder auf der Titelseite der LNN rar. An diesem Sonntag gibt es auch keine wirkliche Überschrift. Die kernigen Burschen sind Botschaft genug.
Dass sich die Zeiten geändert haben, liest man auch in den ersten Zeilen des Leitartikels mit der Überschrift: „Volk am Werk. LNN zum Nationalen Feiertag“. Dort heißt es: „Die Arbeit sei ein Fluch – das ist orientalische Auffassung. Auf das Dogma vom Fluche der Arbeit aber gründete Karl Marx sein System des internationalen, um nicht zu sagen antinationalen Sozialismus. Arbeit ist Glück! Das ist die deutsche Auffassung.“
Schon die ersten vier Zeilen triefen vor Antimarxismus und Nationalismus. Aus heutiger Sicht wird ohne Not der Vergleich mit anderen gesucht und Karl Marx diffamiert. Aber Ideologie und Propaganda gehen Hand in Hand und die Zeitung ist neben dem Radio das Medium, mit dem man die meisten erreichen und indoktrinieren kann. Anschließend wird es geradezu poetisch.
„In der Blütezeit des Marxismus lag sie nur verschüttet unter einem Wust von hohlen Schlagworten und hetzerischen Phrasen. Wer aber den Blick dafür hatte, der konnte ihn schon damals entdecken: den Arbeiter, der seine Arbeit liebgewonnen hatte, und der die Liebe zur Arbeit auf das Werkzeug übertrug, das ihm zur Arbeit notwendig war. Ob es nun ein Musiker war, der mit zärtlicher Hand über seine Geige strich, oder ein Mann hinter dem Schraubstock und an der Drehbank, der nach getaner Arbeit sein Handwerkszeug so sauber putzte wie Messer und Gabel. Wer die Arbeit gefunden hat, zu der er berufen war, dem erwächst daraus vielleicht das stillste, sicher aber auch das beständigste Glück seines Lebens.“
Und weil die LNN den neuen Arbeiter so liebt, widmet sie diese Sonntagsausgabe dem „Volk am Werk“.
Doch das „Volk am Werk“ beschäftigt sich auch im Nationalsozialismus nicht nur mit der Volksgemeinschaft oder der Arbeit. In der LNN-Leserschaft wird vielmehr diskutiert, ob der Handkuss noch zeitgemäß sei. „Auf deutschem Boden ist diese Grußform jedenfalls nicht gewachsen“, erläutert ein Dr. Sch. und führt genau das als Hauptargument an. Eine Frau Hilde bekennt: „ Es gibt gerade auch heute, wo das Verhältnis der jungen Leute beiderlei Geschlechts zueinander so erfreulich unromantisch und kameradschaftlich geworden ist, Situationen, wo man mit einem noch so warmen, herzlichen Händedruck nicht auskommt.“
Ein Herr Walter philosophiert gar darüber, ob überhaupt Küsse in der Öffentlichkeit schicklich sind. „Man sei doch da nicht allzu prüde. Gewiß gehören Küsse eigentlich nicht in eine größere Öffentlichkeit. Aber es gibt eben auch Ausnahmen […]. Ernsthaft wird doch wohl niemand Anstoß daran nehmen, wenn sich zwei Menschen auf dem Bahnhof mit einem Kuß voneinander verabschieden oder sich in überquellender Wiedersehensfreude mit einem Kuß begrüßen“.
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„Möchten Sie Straßenkehrer sein?“, fragen die LNN ihre Leser. Hintergrund dieser Frage ist, dass ein Redakteur einen Straßenkehrer begleitet hat und mit den Vorurteilen aufräumen will. „Wir leben in einer Zeit, in der solche Vorurteile gänzlich unangebracht sind, die, wenn sie ernstlich erhoben werden, sogar schwer gegen den Sinn der Volksgemeinschaft verstoßen und glücklicherweise heute auch vollkommen überwunden sind.“
Dabei listet der Redakteur selbst in seinem Text genügend auf, erklärt aber auch diese Arbeit, die uns heute nicht mehr so geläufig ist. „In seiner achtstündigen Arbeitszeit legt dieser Mann eine Strecke von mehr als 40 Kilometer täglich zurück. Und dabei muß er noch kehren! Muß viele Strecken vor- und zurücklaufen und darf sich weder durch Regen, Sturm, Schnee oder Hitze abhalten lassen, seine Arbeit zu verrichten.“
Bei der Reportage über die Arbeit der Leipziger Straßenkehrer wird deutlich: Neben der Herangehensweise an Themen hat sich in den letzten fünf Jahren auch die Sprache deutlich verändert. „Es war zwar weder kalt, noch regnete oder schneite es, als ich mich in die Front der Leipziger Straßenkehrer einreihen ließ“, heißt es da. Auf der Titelseite war sogar von „Soldaten der Arbeit“ die Rede. Nun ist auch der LNN-Redakteur ein wirklicher „Fußsoldat“, lässt sich im Reudnitzer Rathaus, dem zweiten Straßenreinigungsbezirk, melden und macht allerhand Entdeckungen auf Reudnitzer Straßen.
„Man sieht eigentlich, wenn man diese Arbeit selbst verrichtet, daß die Leipziger noch längst nicht zur Sauberhaltung der Straße so erzogen sind, wie das eigentlich der Fall sein müßte. Es liegen noch viel zuviel Papier, leere Zigarettenschachteln und Obstreste umher“. Einem Besuch im Clara-Park im Sommer 2017 hätte des Mannes Herz sicher nicht standgehalten. Wobei: Er erlebt so einiges. Ein 13-Jähriger räumt den Straßenpapierkorb leer auf der Suche nach einer Zigarette, ein Hausmädchen lässt den Kot des Hundes auf der Straße liegen.
„Ja, die Arbeit des Straßenkehrers ist vielseitiger als man annimmt! Um ein Bild zu geben, welche Mengen von Straßenkehricht allein zu beseitigen sind, sei erwähnt, daß in Leipzig zurzeit etwa 40.000 Kubikmeter anfallen. Mit dieser Menge könnte man den Marktplatz in Leipzig etwa 10 Meter hoch auffüllen. Die wichtigsten Verkehrsstraßen werden jede Nacht einmal mit Maschinen und zweimal durch Handarbeit gereinigt.“ Leider verrät der Redakteur nicht, wie viele Straßenkehrer in Leipzig beschäftigt sind, aber er hat die Größe der Leipziger Straßenfläche parat. 8.881.000 Quadratmeter werden täglich gereinigt, davon über 7.000.000 am Tag. Die Gesamtlänge der Straßen beträgt 634 Kilometer. „Das ist die Luftlinie Leipzig-Königsberg.“
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Am Tag der Arbeit versammeln sich 72.000 Leipziger auf dem Augustusplatz, insgesamt elf staatlich vorbereitete Kundgebungen finden statt. Der Bericht davon lautet wie folgt: „Klingendens Spiel morgens 6 Uhr in den Vororten des Leipziger Westens. Das Musikkorps der II. Flak 13 marschiert mit militärischer Begleitung durch die Straßen und gibt dem Nationalfeiertag des deutschen Volkes den rechten Auftakt.“
Ob der Wortwitz so gewollt war?
„Die letzten Fahnen werden herausgesteckt, und für die Jungen und Mädel wird es Zeit, nun aus dem Bett zu springen, denn ihr Aufmarsch soll um 8 Uhr bereits beendet sein. Da bekommen bald die Fähnchen und girlandengeschmückten Straßenbahnen den ersten Andrang. Auf dem Werderplatz im Norden, im Ausstellungsgelände im Süden, im Schönefelder Park im Osten und auf der Radrennbahn im Westen steht in straffen Reihen Deutschlands Zukunft. Die Fahnen und Wimpel wehen über ihr und hoch ragt der Maibaum mit seinem grünen Kranz und den bunten Bändern unter dem die Jugend erneut Bekenntnis zur Gemeinschaft und zum Führer ablegen will. Regenschauer können eine Jugend nicht stören, die sich der Führer hart wie Stahl wünscht, die weiß, daß nicht immer Sonnenschein sein kann, auch wenn man sich ihn zu diesem Tag sehnsüchtig gewünscht hat.“
Die Jugend hat schon fünf Jahre lang ihr Gepräge erhalten, der 2. Weltkrieg ist nur noch etwas mehr als ein Jahr entfernt, hier versammelt sich die spätere Kriegsgeneration. 8.000 Jungen und Mädel sind es an diesem 1. Mai allein im Schönefelder Park.
Natürlich lässt es sich das Reichspropagandaministerium nicht nehmen, am nächsten Tag die Feierlichkeiten in ihrem Sinne auszuschlachten und die Verbindung mit dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 zu suchen. „Fest der deutschen Volksgemeinschaft“ titeln die LNN am 2. Mai 1938.
Die Berliner Schriftleitung meldet: „Zum ersten Male seit der Gründung des nationalsozialistischen Deutschlands Adolf Hitlers und überhaupt zum ersten Male in der Geschichte des deutschen Volkes haben sich die 75 Millionen in allen Gauen des alten Reiches und in der neuen Ostmark vereinigt, um gemeinsam den 1. Mai als den Tag der Volksgemeinschaft und des nationalen Lebens- und Behauptungswillens festlich zu begehen. Der großdeutsche Frühling, der in den Märztagen des Jahres 1938 seine Knospen enthüllte, hat sich an diesem Tag der ersten Gemeinschaft im Großdeutschen Reich zu einer herrlichen Blüte entfaltet, auf deren Grund unsere schönsten, nationalen Hoffnungen ruhen.“
Adolf Hitler bereitet sich derweil auf seinen Staatsbesuch in Rom bei Benito Mussolini vor. Die LNN berichten schon seit Tagen in Vorbereitung auf den Besuch. Seine Rede im Berliner Lustgarten am 1. Mai drückt die Zeitung vollständig zum Nachlesen ab.
Der „Führer“ sagte unter anderem: „Es gab früher Menschen, die stets erklärten: ‚Nieder mit dem Kampf! Nie wieder Krieg!‘ Und dabei ließen sie den Krieg fortgesetzt im Inneren toben. Ich kenne diese Parole: Nie wieder Krieg. Sie ist auch die meine! Dazu nämlich machte ich Deutschland stark und fest und stellte es auf seine eigenen Füße! Allein, um so stark und fest zu sein, daß kein Unfriede von außen unser Volk bedrohen kann, ist es notwendig, jenen Kampf für immer auszurotten, der uns hindern würde, unsere Kraft nach außen jemals in Erscheinung treten zu lassen! Nicht nur ‚Nie wieder Krieg‘ muß die Parole heißen, sondern ‚Niemals wieder Bürgerkrieg. Niemals wieder Klassenkampf! Niemals wieder inneren Streit und Hader!‘“
Der Stenograph fügt hinzu: „Die Massen bekennen sich mit immer erneuter stürmischer Zustimmung zu dieser Parole.“ Ein Jahr später beginnt der Krieg der Kriege á la Volksdeutschland und wird die Welt in ein Schlachthaus verwandeln, welches inklusive Kriegsnachwirkungen geschätzt 80 Millionen Menschen das Leben kosten wird. Die Einwohnerzahl in Leipzig sinkt in dieser Zeit von über 700.000 auf 580.000.
Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Leipzig in den “Goldenen 20ern”
Alle Zeitreisen auf einen Blick
Leipziger Zeitung Nr. 54, seit Freitag, 27.04.2018 im Handel: Schärfere Polizeigesetze ersetzen keinen aufrechten Gang
Leipziger Zeitung Nr. 54: Schärfere Polizeigesetze ersetzen keinen aufrechten Gang
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