Für FreikäuferLZ/Auszug aus Ausgabe 52Wenn man aus dem Februar 2018 auf Leipziger Zeitungsberichte aus dem Jahresbeginn 1933 zurückblickt, ist eine gewisse Gewöhnung an die schwankenden Regierungsverhältnisse in der Reichsregierung zu spüren. Die Wirtschaftslage ist schlecht, von „19 Krisenjahren“ ist die Rede. „Das Reich kennt die Notlage Sachsens an“, heißt es im Januar 1933 in den „Leipziger Neusten Nachrichten“ (LNN). „Im 135 Millionen Reichsmark schweren Arbeitsbeschaffungsprogramm wird der Freistaat nun doch mit mehr als 6,3 Millionen bedacht. Verhandlungen haben eine Erhöhung auf 7,5 Millionen erbracht. Konkret fließt das Geld in Bau-Investitionen.“
Außerdem soll Sachsen einen großen Reichskredit zur Beseitigung der Not bekommen, nur mit Mühe kann die Stadt Leipzig einen Jahreshaushalt aufstellen. Was den Zeitgenossen der LNN fehlt, ist eine Ahnung, was da wirklich mit der NSDAP vor der Tür steht. Man sehnt sich nach Ruhe und Ordnung im Reich, denkt nationalistisch, hadert mit den wirtschaftlichen Verhältnissen und den unausgesetzten, oft tödlichen Auseinandersetzungen zwischen KPD und NSDAP sowie SA auf den Straßen.
Im Leipziger Stadtrat ist zum Jahresstart 1933 die eigentliche politische Situation so, dass Kommunisten und Sozialdemokraten 41 Sitze und somit sieben Sitze über der Mehrheit haben. Woran es hapert, ist auch vier Wochen vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler auf Reichsebene der Wille zusammenzuarbeiten. Und bei den „bürgerlichen Parteien“ sieht es logischerweise nicht viel besser aus.
Die LNN berichtet also am 4. Januar 1933, dass es eine „ziemliche starke Zumutung“ sei, „von einem bürgerlichen Stadtverordneten“ zum Beispiel bei der Wahl des neuen Stadtpräsidiums zu verlangen, „er solle das Amt des Stadtverordnetenvorstehers ausgerechnet dem Vertreter einer Partei übertragen, die bedingungslosen Kampf gegen alle bürgerlichen Wirtschafts- und Kulturgüter auf ihre Fahnen geschrieben hat.“ Gemeint sind hier aber nicht die Nationalsozialisten. Vielmehr, so die LNN weiter, sollte „für alle bürgerlichen Mitglieder des Stadtparlaments nur die Wahl eines Vertreters der stärksten nichtmarxistischen Partei infrage kommen, also ein Vertreter der Nationalsozialisten.“
Man glaubt in der Redaktion der Zeitung fest daran, dass es für die Bürgerlichen wichtig sei, „den Nationalsozialisten den Weg zu politischer Mitarbeit zu ebnen und die Grundlage für künftige Zusammenarbeit zu schaffen. Und der erste Schritt dazu ist die Wahl eines nationalsozialistischen Stadtverordnetenvorstehers.“
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Mit Beschluss des Ältestenrats des Reichstags wird dieser erst am 24. Januar 1933 wieder zusammentreten. Es ist genug Zeit, sich in Stellung zu bringen. Adolf Hitler ist nach seiner Nachwahl-Verstimmung wieder voller Tatendrang. Seine Partei lag am Jahresende 1932 in tiefer Depression, die Bewegung schien trotz großem Aufwand in den November-Wahlen das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben.
Doch es laufen Gespräche. Am 4. Januar treffen Papen und Hitler in der Villa des Kölner Bankiers von Schroeder zusammen. Und auch die Presse hat Wind bekommen.
Die LNN titeln am 6. Januar 1933: „Kulissenspiel in Köln und Berlin: Hitler bei Papen, Gregor Strasser bei Schleicher“. Der aktuelle Reichskanzler versucht, die nationalsozialistische Depression für sich zu nutzen und den linken Parteiflügel der NSDAP zur Übernahme von Regierungsverantwortung zu übernehmen. Er kommt zu spät, die „Strasser-Krise“, also der Machtkampf innerhalb der NSDAP zwischen rechts und links ist schon vorbei. Jetzt spinnen Papen und Hitler die Fäden für die letzte Intrige der Weimarer Republik vor den Augen der Öffentlichkeit.
Papen erklärte hierzu: „Anläßlich meiner Reise nach Düsseldorf zu meiner Mutter habe ich mit Herrn Hitler eine politische Aussprache in Köln gehabt. … Die Aussprache hat sich ausschließlich um die Lösung der Frage gedreht, der schon die Arbeit des letzten Halbjahres gewidmet war, der Frage der Eingliederung der NSDAP in eine nationale Konzentration.“
Die Nazis sprechen von einer „zwanglosen Unterhaltung über die politischen Fragen der letzten Wochen.“
Der Chefredakteur der LNN glaubt jedenfalls nicht daran, dass hier Hitlers Kanzlerschaft vorbereitet wird. „Das Berliner Blatt, das die Nachricht von der Unterredung Papen-Hitler in Köln brachte, hat zwar den neckischen Einfall gehabt, anzudeuten: ‚offenbar sei da zwischen den alten Todfeinden der Sturz Schleichers abgekartet.‘ So filmmäßig verlaufen die Dinge selbst im Deutschland von heute wohl noch nicht. Und man wird der Wahrheit vermutlich näherkommen, wenn man annimmt, Papen habe Hitler, im besten Einvernehmen mit Schleicher, gut zugeredet.“
Was dieser Mann über seine Fehldeutungen wohl vier Wochen später dachte?
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Adolf Hitlers Machtübernahme ist noch drei Wochen hin, da legt der Chefredakteur der LNN ein weiteres Zeugnis dafür ab, welch guter Boden der NSDAP durch die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre bereitet wurde. Im Leitartikel heißt es: „Im Laufe dieser Woche jährt sich zum zehnten Male der Tag, an dem die Franzosen den längst bestehenden Vorsatz ins deutsche Ruhrgebiet einzubrechen, in die Tat umzusetzen begannen. Frühjahr und Sommer werden angefüllt sein von Erinnerungen an die schmähliche, allem Völkerrecht hohnsprechende Gewaltherrschaft, die der französische und der belgische Uebermilitarismus auf dem Boden des entwaffneten Deutschlands ungestört einrichten durfte.“
Schuld an den Entwicklungen des Jahres 1932 ist, na klar, das „erste falsche Ja von Weimar“: „,Unannehmbar, weil unausführbar‘, hatte Scheidemann das Versailler Diktat zunächst von Berlin aus abgelehnt. Dann war man in Weimar unter Führung von Erzberger und unter dem Druck der Unabhängigen Sozialdemokraten umgefallen und hatte sich durch Unterschrift feierlich verpflichtet, das Unerfüllbare erfüllen zu wollen. Man hatte Ja gesagt, indem man sich selbst einredete: Es wird schon so schlimm nicht werden!“
Einmal in Rage geschrieben, bekommen auch die linken Parteien in Deutschland ihr Fett weg. „Die deutsche Entwaffnung, von deutschen Parteien der Linken heimlich begrüßt und gefördert, hat erst die Voraussetzung für den Ruhreinbruch geschaffen.“
Wie viele damals wohl am Frühstückstisch „Bravo“ gerufen haben werden?
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Am 23. Januar 1933, eine Woche vor Hitler, vermelden die LNN, dass am Vortage die SA Horst Wessel gedachte, auch wenn die Kommunisten noch zuvor bei einer Kundgebung auf dem Volkmarsdorfer Markt erklären, sie würden “es nicht zulassen, daß die Nationalsozialisten nach dem ‚roten Westen‘ kämen.“ Doch so kommt es. Laut LNN waren 3.000 SA-Leute unterwegs, die durch Lindenau, Leutzsch, Großzschocher und Plagwitz bis zur Bismarckstraße ziehen, bevor es auf der Karl-Heine-Straße knallt.
„Vor einem Lichtspielhaus gerieten SA-Leute und Kommunisten ins Handgemenge und benutzten von Plakaten abgerissene Latten als Schlaginstrumente. Die Polizei brachte die Kämpfenden auseinander.“ Beide Seiten haben übrigens Sanitäter in ihren Reihen.
In Dresden und Berlin demonstrieren vier Tage vor Hitlers Machtübernahme Sympathisanten der KPD. Während in Berlin 30.000 Kommunisten ihren Stiefel problemlos durchziehen, gibt es in Dresden neun Tote. 2.000 Mann hatten sich zur Demonstration versammelt, die von der Johannstadt aus loszog. Als sich die Versammlung aufgelöst hatte, zogen noch 600 Mann weiter zum Versammlungslokal „Keglerheim“, wo die Lage schnell Feuer fing. Der Redner, Oberleutnant a. D. Frädrich, hat in „gefährlicher Weise zu Straftaten aufgerufen“. Als die Polizei eingreift, eröffnen einige Demonstranten das Feuer. Die Polizei tötet neun Angreifer und verletzt elf Personen schwer.
Nüchterner Kommentar des Redakteurs: „Von der Dresdner Polizei kann man stets sagen, daß sie äußerste Zurückhaltung übt und erst dann scharf zupackt, wenn es eben nicht anders geht.“
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Derweil machen Gerüchte in Berlin die Runde, Kanzler von Schleicher und sein Kabinett wären zurückgetreten und hätten darüber auch wichtige Wirtschaftsvertreter informiert. Doch an diesen Gerüchten sei erstmal nichts dran, weiß man in der Redaktion der LNN. Es ist der 27. Januar 1933.
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Am nächsten Tag weitere Vorboten: Das Verbot kommunistischer Demonstrationen in Leipzig. „Das Polizeipräsidium Leipzig teilt mit: Sämtliche von der Kommunistischen Partei Deutschlands, Unterbezirk Leipzig, und von den ihr angeschlossenen Organisationen bereits einberufenen oder noch geplanten Veranstaltungen unter freiem Himmel, insbesondere Straßenumzüge, werden mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres aufgrund von Artikel 123 Absatz 2 der Reichsverfassung verboten.“ Bei Zuwiderhandlungen droht Haft.
Schleicher ist unterdessen bei Hindenburg und man spekuliert über den Nachfolger. „In der engsten Umgebung des Reichspräsidenten scheint man am liebsten auf den Vorgänger Schleichers, Herrn von Papen, zurückreifen zu wollen. Obwohl die Nationalsozialisten bis zur Stunde noch an dem Führungsanspruch Hitlers festhalten, glaubt man aufgrund gewisser Abreden und auch schriftlicher Dokumente annehmen zu können, daß Hitler bereit ist, auf das Kanzleramt zu verzichten, falls seiner Partei das Reichsinnenministerium mit weitgehenden Vollmachten und das Reichswehrministerium übertragen werden. Andere Persönlichkeiten im Präsidentenhause halten eine Rückkehr Papens für untunlich und empfehlen einen Versuch mit Adolf Hitler auf parlamentarischer Grundlage.“
Soweit der Stand am 28. Januar 1933, dem letzten Sonnabend vor Hitler. Dann prangt es auf der LNN-Titelseite: „Kabinett von Schleicher gestürzt, Papen will Hitler als Kanzler vorschlagen“. Hitler reist nicht aus Berlin ab, hält sich für Gespräche bereit.
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Ein politisches Drama spielt sich dagegen in Berlin-Mitte ab. Reichspräsident Paul von Hindenburg, fast 86 Jahre alt, lässt sich doch noch davon überzeugen, es mal mit dem Herrn Hitler, dem „böhmischen Gefreiten“ zu probieren. Doch er irrt zweimal: Das Braunau aus dem Hitler kommt, liegt nicht, wie Hindenburg zeitlebens dachte, in Böhmen und Hitler wird keine gute Wahl sein. Als Hindenburg am 2. August 1934 stirbt, wird Hitler die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten auf sich vereinen.
Aber das kann am 30. Januar 1933 noch keiner ahnen. Franz von Papen, der präsidiale Unterhändler, wird Vizekanzler und äußert die wohl größte Fehlannahme in der deutschen Geschichte als er sagt, man werde „Hitler in die Ecke drücken bis er quietscht.“
Im Ausland ist man ob der Einsetzung Adolf Hitlers zweigeteilt. Rom feiert seine Ernennung als „Triumph des neuen Deutschlands“, in Frankreich ist man besorgt und der Manchester Guardian ist der Meinung, dass sich „die Wirkung des Regierungswechsels eher in der Innen- als in der Außenpolitik geltend machen und daß die deutsche Außenpolitik nicht ernstlich davon berührt werde.“
Und so träumte jeder in Europa für sich allein in diesem Februar 1933 einer Zeit entgegen, welche bis zum 8. Mai 1945 anhalten und eine finstere werden sollte.
Infos: Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Paul von Hindenburg vor nun 85 Jahren Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler. Eine Mehrheit hatte Hitler nur, weil er einer Koalitionsregierung von NSDAP und nationalkonservativen Verbündeten aus DNVP und Stahlhelm vorstand. Bereits am 1. Februar 1933 wurde der Reichstag aufgelöst und Hitler regierte mit sogenannten „Notverordnungen“.
Am 28. Februar folgte die „Reichstagsbrandverordnung“, welche nahezu alle Bürgerrechte der Weimarer Verfassung mit der Begründung „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ außer Kraft setzte. Mit dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 war der erste und entscheidende Schritt in Richtung NSDAP-Diktatur abgeschlossen.
Bislang erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Leipzig in den “Goldenen 20ern”
Alle Zeitreisen auf einen Blick
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