Für FreikäuferDie Verehrung von Roland Mey für den langjährigen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur (1927-2015) ist eine besonders innige. Und lange. Gewachsen ist sie mit dem Leipziger Revolutionskult um Kurt Masur, der seit 1990 regelrecht behängt wurde mit Preisen und Ehrungen für den Herbst 1989, in dem er durchaus eine Rolle spielte. Das mit dem Preisbehängen fing schon im Dezember 1989 an. Was Roland Mey seltsam fand. Da hat er nachgefragt.

Denn seine Ehrenbürgerwürde bekam Kurt Masur am 8. Dezember 1989 verliehen. Wie kann das sein, fragte sich Mey. Da gab es doch noch gar keine frei gewählte Ratsversammlung in Leipzig (der er später selbst angehören würde). Im Gegenteil: Da hatte Leipzig noch die im Mai 1989 gewählte Stadtverordnetenversammlung, die durch eine nachweislich gefälschte Wahl zustande gekommen war. Leipzigs OBM Bernd Seidel war zwar schon am 3.November zurückgetreten. Sein Stellvertreter Günter Hädrich (ebenfalls SED) verwaltete die Geschäfte bis zur ersten freien Wahl im Frühjahr 1990, als Hinrich Lehmann-Grube (SPD) der erste frei gewählte OBM wurde.

Aber seltsam kam Mey schon die Ausstellungsurkunde vor.

Denn den Vorschlag, Kurt Masur zum Ehrenbürger Leipzigs zu machen, hatte Hädrich erst am 27. November bei der Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) ins Mikro gerufen. Hatte gar der SED-Mann Hädrich den Kapellmeister quasi im Alleingang zum Ehrenbürger gemacht?

Mey war skeptisch und ließ sich auch Auskunft vom Stadtarchiv geben.

Was draus geworden ist, hat er in eine kleine Geschichte gepackt.

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Eine Story aus der historischen Kuriositätenkiste:

Wie Kurt Masur vor 28 Jahren zum Ehrenbürger der Stadt Leipzig wurde

Roland Mey

Vor der Montagsdemonstration am 27. November 1989 sprachen auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz der amtierende SED-OBM Günter Hädrich und als Gast Herbert Schmalstieg, der OBM aus der Partnerstadt Hannover. Während Herbert Schmalstieg mit viel Jubel begrüßt wurde, bekam Günter Hädrich immer wieder Buh-Rufe und Pfiffe. Es kann durchaus sein, dass er in einem emotionalen Moment der Schmähung im Sinne von „Anbiederung an das Volk“ die Absicht der Verleihung der Ehrenbürgerschaft für Kurt Masur spontan angekündigt hat. Das lässt sich heute nicht mehr historisch fundiert belegen.

Jedenfalls wurde Kurt Masur, der von der SED zum 9. Oktober 1989 als Redner für „freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“ ausgewählt wurde, auch von der SED zum Ehrenbürger der Stadt Leipzig ernannt. Seine Urkunde vom 8. Dezember 1989 (mit dem Aufdruck „Die Stadtverordneten und der Rat der Stadt Leipzig verleihen Herrn …“) ist vom amtierenden SED-OBM Hädrich unterschrieben. Bedankt dafür hat sich der Maestro aber mit einem Weihnachts- und Neujahrsbrief bei den aktuell neuen „Machthabenden“ mit den Worten „Liebe Leipziger! Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mich in Ihren Kreis aufgenommen haben.“ Die Leipziger Bürgerinnen und Bürger waren aber bezüglich dieser Ehrung nicht gefragt worden, denn die damalige Stadtverordnetenversammlung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht demokratisch legitimiert.

Der Maestro hat während seines Lebens immer wieder kleine und große gesellschaftspolitische Paradoxien geschaffen – sein allergrößter, peinlich grotesker Widerspruch war, als er den Satz formulierte „Ich habe immer so gehandelt, dass ich mich nicht schämen musste“ (Quelle: MDR aktuell, 19.12.2015), da hatte er insbesondere seine SED-Ehrenwache 1970 in der Leipziger Oper am aufgebahrten Leichnam von Paul Föhlich vergessen, einen unvergesslichen ekelhaften Staatsakt der Huldigung des meistgefürchteten Leipziger SED-Bezirkschefs, der am 17. Juni 1953 den Schießbefehl (mit 9-facher Todesfolge!) auf die Demonstranten erteilt hatte und 1968 für den barbarischen Abriss der Universitätskirche verantwortlich war. Ich frage mich: Wird das mit einem großen Festwochenende (3. bis 5. November 2017) im Mendelssohn-Haus Leipzig gegründete Internationale Kurt Masur Institut (IKMI) im eigenen Archiv (IKMA) irgendwann auch derartige Kuriositäten sammeln?

Vermutlich muss der deutsche Leser auch weiterhin bis nach Wien reisen, um dort in der Österreichischen Musikzeitschrift 03/2016 diese Fakten im Aufsatz „Kurt Masur – Dirigent und Revolutionär?“ nachlesen zu können.

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Ergänzung durch die Redaktion:

Zwischen dem 27. November und dem 8. Dezember gab es übrigens noch folgende Ereignisse: Am 3. Dezember traten das Politbüro und das ZK der SED zurück, am 4. Dezember wurde die Leipziger Stasi-Zentrale besetzt, am 6. Dezember trat Egon Krenz auch vom Posten des Staatsratsvorsitzenden zurück.

Am 8. Dezember traf sich die alte Stadtverordnetenversammlung zu ihrer 5. Tagung und hat dort augenscheinlich über die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Kurt Masur abgestimmt. In der Urkunde wird nicht nur sein Wirken als Gewandhauskapellmeister gewürdigt, sondern auch betont: „Schon heute ist es ein historisches Verdienst zu nennen, dass Professor Masur mit seiner Initiative für den Aufruf vom 9. Oktober 1989 zur Gewaltlosigkeit eine wesentliche Voraussetzung für den revolutionären, jedoch gewaltlosen Aufbruch des Landes mit dem Ausgangspunkt in Leipzig mitgeschaffen hat.“

So wurde der Maestro quasi im Nebensatz zum Mitinitiator des „revolutionären, jedoch gewaltlosen Aufbruch des Landes“ gemacht, als der er in den Folgejahren emsig mit Preisen behängt wurde.

Die damalige Stadtverordnetenversammlung löste sich übrigens am 26. Januar 1990 offiziell auf.

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