Fรผr FreikรคuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 45Im Vorfeld der Wahlen vom 31. Juli 1932 haben sich die beiden maรgeblichen Zeitungen in Leipzig spรผrbar verรคndert. Waren in den 20er Jahren noch vorrangig lokale Geschehnisse in den โLeipziger Neuesten Nachrichtenโ (LNN) enthalten, hat sich die Berichterstattung hier und in der LVZ nunmehr gedreht. Neben einem zunehmenden Blick auf die nationale Berichterstattung, Wahlkampf und Auรenpolitik finden sich nun im lokalen Teil vor allem Schilderungen von gewaltsamen Zusammenstรถรen politischer Gegner und Kommentare รผber das Weltgeschehen โ wenn es um Deutschland geht.
Es ist mal wieder heiรe Wahlkampfzeit, am 31. Juli 1932 soll gerade einmal zwei Jahre nach 1930 zum ersten Mal in diesem Jahr in Deutschland ein neuer Reichstag gewรคhlt werden. Noch vor den letzten Wahlen โ da nur noch mit der NSDAP โ im November 1933, gibt es ab Juli 1932 fast ununterbrochen Neuwahlen: im November 1932 und erneut im Mรคrz 1933.
Deutschland wird seit Juni 1932 mit Notverordnungen des Kabinett Papen regiert und auรenpolitisch geht es in Lausanne in der Schweiz um nichts weniger als die wirtschaftliche Lage des Landes. Eine weitere Zahlung von 3 Milliarden Reichsmark und die Ausklammerung jeder neuen politischen Wertung des 1918 geendeten 1. Weltkrieges lassen den schwachen โNotkanzlerโ Franz von Papen als innenpolitischen Verlierer vom Verhandlungstisch aufstehen. Die Sieger unterschรคtzen die Wirkung des Signals fรผr die Revanchisten rings um die NSDAP so kurz vor der Wahl im Juli 1932. Und die Worte Brรผnings verhallen: โDeutschland kann und wird keine Reparationen mehr zahlen.โ
Unterdessen schaffen es die demokratischen Krรคfte schon da nicht mehr, stabile Mehrheiten und Regierungen zu bilden. Die letzte parlamentarische Regierung unter dem SPD-Kanzler Hermann Mรผller und das Minderheiten-Kabinett von Zentrumspolitiker Heinrich Brรผning sind Geschichte. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Zeit der Nationalsozialisten in Deutschland.
Der 31. Juli 1932 markiert somit zwar nicht die letzte, aber wohl die entscheidende Wahl vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten, 12 Jahren Diktatur und Krieg. Denn war die SPD 1930 mit 24,5 Prozent noch vor der NSDAP (18,3) und der KPD (13,1), gefolgt vom Zentrum (11,8) und der DNVP (7,0) gelandet, gelingt der NSDAP nun mit 37,3 Prozent ein Erdrutschsieg. Der Weg dahin ist geprรคgt von einer zunehmenden Brutalisierung auf der Straรe, in welcher moderate Stimmen nahezu ungehรถrt verhallen.
Das Wort โBรผrgerkriegโ macht die Runde
Und so ist es wenig verwunderlich, dass die LNN am 5. Juli zur Wahlkampftour die moderaten Worte von Ex-Reichskanzler Dr. Brรผning vermeldet: โWir wollen nicht den Bรผrgerkrieg, sondern Frieden und Freiheit, wir wollen die Nation zusammenschweiรen durch unsere Arbeit und unser Beispiel, weil wir so dem Vaterland am besten dienen.โ Zudem werde das Zentrum auch โgegen die Bemรผhungen der Nationalsozialisten die Herrschaft einer Einzelpartei in Deutschland auszurichtenโ sein.
Dass er รผberhaupt in den Wahlkampf muss, ist fรผr die โStaatsparteiโ, liberal und mittig ein Skandal an sich, sie kritisiert die Ablรถsung der Regierung Brรผning scharf. โVerfassungsmรครig nicht zustรคndige Krรคfte haben die Regierung Brรผning zu Fall gebracht und die Auflรถsung des Reichstages herbeigefรผhrt. Aus den Vorarbeiten fรผr die Befreiung von den Reparationen und aus den Aufgaben zur Bewรคltigung der Sorgen des nรคchsten Winters wurde das Kabinett herausgerissen und an seine Stelle auf einem verfassungsmรครig nicht einwandfreien Wege ein Kabinett von Angehรถrigen des Adels und des Militรคrs gesetzt.โ
In der Rรผckschau eine ziemlich zutreffende Analyse, der letzte Rest an parlamentarischer Mitbestimmung ist eigentlich schon verspielt. Militรคrs und der Adel โ die โBaroneโ โ sind zurรผck an der Macht unter dem greisen Reichsprรคsidenten Paul von Hindenburg. Welcher nur ein Jahr spรคter Adolf Hitler nichts mehr entgegensetzen und ihn zum Kanzler in Notstandszeiten berufen wird.
Die Leipziger Volkszeitung versucht es am 11. Juli 1932 mit ihrer Analyse. In der Ausgabe prangt auf der Titelseite des SPD-Organs ein farbiges Viereck รผber dem Wort โVolkโ mit dem Text โEiserne Front gegen Hitlerbaroneโ. Auf Seite 1 widmet sich das Blatt den Nationalsozialisten: โJe nรคher der Wahltermin heranrรผckt, desto mehr fรผhlen die Nationalsozialisten, daร die Aufklรคrungsarbeit der Eisernen Front รผber die Zusammenhรคnge zwischen der Regierung der Barone und Hitler sich auf breite Wรคhlerschichten auswirkt, die bisher auf den Schwindel vom โDritten Reichโ hingefallen waren. [โฆ]โ
Die LVZ zur Taktik der NSDAP: โHitler hat der Reichsregierung wohlwollende Neutralitรคt versprochen โ dafรผr hat ihm die Regierung u. a. folgendes gewรคhrt: Reichstagsauflรถsung, Freigabe des Rundfunks fรผr nationalsozialistische Propaganda, Aufhebung des SA-Verbots.โ
Auf der Straรe
In Leipzig hingegen gilt lรคngst das Faustrecht, es kรคmpft praktisch jeder gegen jeden und seit die SA seit 1932 wieder eine zugelassene Organisation ist, taucht auch diese vermehrt in den Schlagzeilen auf. Zu diesem Zeitpunkt noch als Opfer organisierter รberfรคlle seitens der damals linken Sozialdemokraten, welche sich mit dem Gewerkschafts- und dem deutschen Turn- und Sportbund zu einem Abwehrbรผndnis gegen die Nazis zusammenschlieรen.
โEin Trupp von etwa 30 Mann SA-Leuten wurde in der Nacht zum Dienstag in der Riebeckstraรe von etwa 50 Mann Reichsbannerleuten (SPD, Gewerkschaftsbund, d. Red.) รผberfallen. Diese gaben etwa 20-30 Schรผsse aus Trรคnengaspistolen auf die SA-Leute ab. Zwei Nationalsozialisten wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Beim Eintreffen der Polizei hatten sich die Reichsbannerleute bereits in ein Haus geflรผchtet, doch wurden ein Teil von ihnen und eine Anzahl Nationalsozialisten von der Polizei festgenommen.โ
Die Bilanz: Zwei Nationalsozialisten landen mit einer Stichverletzung in der Schulter und einer Hiebverletzung am Schรคdel im Krankenhaus. Doch nicht genug fรผr diesen Tag: โZu einer weiteren Schieรerei kam es in der Braustraรe, wo aber die Polizei sofort zur Stelle war und grรถรeres Unheil verhรผtete. Auch in der Zwenkauer Straรe fand eine Schlรคgerei zwischen Reichsbannerleuten und Nationalsozialisten statt. In allen drei Fรคllen handelt es sich offenbar um planmรครig vorbereitete รberfรคlle des Reichsbanners.โ
In jedem Fall entstehen hier die Mรคrtyrergeschichten und die Gewalt zieht weiter ihre Kreise. Genug fรผr einen Tag? Vielleicht ahnt man doch, was besonnene Zeitgenossen meinen, wenn sie heute von ruhigeren Zeiten als einst sprechen โ angesichts der weiteren Meldungen vom gleichen Tag in der LNN. Ein Beispiel unter vielen aus Leipzig: โGegen 8 Uhr wurde in der Zweinaundorfer Straรe ein Anhรคnger der SPD nach vorausgegangenem Wortwechsel von zwei Nationalsozialisten geschlagen und am Kopfe verletzt. Ihm kamen Anhรคnger seiner Partei zu Hilfe, von denen ein anderer Nationalsozialist geschlagen wurde. Von der hinzugekommenen Polizei wurden drei Beteiligte festgenommen und dem Polizeiprรคsidium zugefรผhrt.โ
Wegen โBarrikadenbausโ wird laut LNN gleichzeitig ein โKommunistโ in Berlin-Moabit รผbrigens zu einem Jahr Haft verurteilt. Die also sonst ebenfalls รผber ihren โRotfrontkรคmpferbundโ mitprรผgelnde KPD versucht es in diesen Tagen in Leipzig mal mit einer friedlichen Demonstration. Welche dennoch umgehend aufgelรถst wird. Die LNN zu einem Vorgang, den sich mancher 2017 wieder in โLaw and Orderโ-Sprech wรผnscht: โEin von den Kommunisten am Mittwochabend veranstalteter Demonstrationszug wurde in der Katzbachstraรe (heute Haferkornstraรe, Anm. d. Red.) von der Polizei aufgelรถst, da die Demonstranten verbotene Lieder sangen und die รผblichen hetzerischen Kampfrufe ausstieรen.โ
Man sieht, โgehetztโ wurde zu allen Zeiten. Was Hetze ist, wird stรคndig neu verhandelt. Dennoch haben die Kommunisten in Hagen am gleichen Tag einen Wald in Brand gesteckt, um eine Versammlung bei der Joseph Goebbels auftreten soll, zu verhindern. Die Veranstaltung konnte letztlich doch stattfinden, doch wurden zudem Teilnehmer und Polizei beim Abmarsch beschossen. Bilanz des Tages: 25 Verletzte.
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Stadtpolitik in Wahlkampfzeiten
Die reale Politik dieser Tage befasst sich mit etwas, was einem mit aufmerksamem Blick auf die vergangenen Jahre heutiger Zeiten seltsam vertraut vorkommt. Der Leipziger Stadtrat ist laut LNN eigentlich nur noch mit einem befasst.
โDas Bedรผrfnis, wenige Wochen vor der Reichstagswahl die Kunst der Agitation und Demagogie auf die Massen wirken zu lassen, ist deshalb auch in diesem Saal besonders groร. Und was ist ein dankbarerer Agitationsstoff als das entsetzliche Elend der Zehntausende, die in Leipzig ohne Arbeit sind und von der kรคrglichen Unterstรผtzung leben mรผssen? So unendlich traurig ist das alles, wenn man wieder und immer wieder mit anhรถren muร, wie hier mit der Armut, mit der Sorge und Not von Mitbรผrgern Parteigeschรคfte getrieben werden.โ
Im Juni 1932 sind in Leipzig 101.846 Menschen arbeitslos bei rund 700.000 Einwohnern.
Oberbรผrgermeister Dr. Carl Friedrich Goerdeler hat entsprechend zu verkรผnden, โdaร die Wirtschaftslage ein Diktator sei, dem wir alle uns zu fรผgen hรคtten. Man mรผsse sich endlich klar sein, daร man keine Forderungen mehr aufstellen kann, wenn keine Mittel da seien.โ Die Reichsnotverordnung vom 16. Juni 1932 sieht letztlich โeine Verschlechterung des Haushaltplanes um rund 8 Millionen Markโ in Leipzig bei gesamt 20 Millionen fรผr soziale Zwecke und Bildung vor. Wรคhrenddessen wird รผbrigens die โKรถlnische Volkszeitungโ fรผr drei Tage verboten. Grund: Wegen Gefรคhrdung der auรenpolitischen Interessen โ klingt nach Pressefreiheit fรผr Anfรคnger.
Der Hunger
Bei schweren Erwerbslosenunruhen in Sandersdorf bei Bitterfeld gerรคt die Polizei so unter Bedrรคngnis, dass ein Demonstrant erschossen wird. Laut LNN hatten die Demonstranten das Gemeindeamt gestรผrmt und auf Beamte geschossen, โworauf die Beamten ebenfalls von der Waffe Gebrauch machtenโ.
In Leipzig nehmen zeitgleich Fahrraddiebstรคhle massiv zu. Die Polizei kritisiert vor allem, dass die Fahrrรคder nicht gesichert sind. โNiemand darf sein Rad verlassen, ohne es anzuschlieรen.โ Sozialdelikte boomen also, die Polizei hat unterdessen mit Gewalt zu tun.
Abschlieรend kann man vielleicht zum Zeitpunkt Mitte Juli 1932 sagen: โEin Viertel der deutschen Gesamtbevรถlkerung steht an der Grenze der Unterernรคhrungโ. So jedenfalls titeln die Leipziger Neuesten Nachrichten. โUnter dem furchtbaren Druck der Wirtschaftskrise haben sich die Lebensverhรคltnisse des deutschen Volkes immer mehr verschlechtert โ unendlich viele mรผssen mit derart geringem Einkommen existieren, daร sie kaum mehr als das Leben fristen kรถnnen.โ, heiรt es.
Und weiter das bรผrgerliche Entsetzen: โIst es schon so weit, daร Menschen in Deutschland hungern mรผssen? Heute produziert die Welt einen solchen Ueberfluร an Lebensmitteln, daร z. B. der Weizen in manchen Produktionsgebieten tonnenweise verbrannt oder daร in Brasilien der Kaffee gleich in ganzen Schiffsladungen ins Meer geschรผttet wird! Die Lebensmittel sind da, aber Millionen von Menschen kรถnnen sie nicht kaufen, weil ihnen die Krise ihr Einkommen nahm.โ
Die Rechnung der LNN damals: โNimmt man fรผr Deutschland als Grundlage der folgenden Rechnung eine Arbeitslosenzahl von fรผnfeinhalb Millionen, und rechnet man fรผr einen Hauptunterstรผtzungsempfรคnger nur mit dem niedrigen Satz von zwei Angehรถrigen, so ergibt sich, daร gegenwรคrtig in unserem Vaterlande rund siebzehn Millionen Menschen leben, die mit ihrer Existenz auf die verschiedenen Formen der Arbeitslosenhilfe angewiesen sind. Unter Berรผcksichtigung der Kรผrzungen, die durch die letzte Notverordnung ausgesprochen werden muรten, ergibt sich das Resultat, daร das durchschnittliche Monatseinkommen dieser 17 Millionen Menschen zwischen 16,50 und 13,15 Mark pro Kopf schwankt, je nach Lohnklasse und Wohnort.โ
Man sei noch nicht beim Hunger angekommen. Doch es kรคmen laut der Umfrage viele รคltere Frauen und Kinder in die Krankenhรคuser, die an Rachitis leiden. Eine Krankheit, die durch Vitaminmangel entsteht.
Bislang erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jรผdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Leipzig in den โGoldenen 20ernโ
Alle Zeitreisen auf einen Blick
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