Die Zeitreise ist zurück. Es wurde quasi auch irgendwie – Zeit dafür. Und erst recht Zeit wurde es, mal nach Osten zu schauen. In den Teil Leipzigs, der auch in unserer, genau, Zeit wieder etwas attraktiver wird, nachdem er jahrzehntelang irgendwie das Stiefmütterchen der Stadt war. Dies ist vor 130 Jahren ähnlich, doch der Zustrom an neuen Bewohnern wächst, es muss gebaut, gelebt und gehandelt werden. Steigen wir also ein in die ersten Tage des Jahres 1886, als Neustadt-Neuschönefeld, Sellerhausen, Volkmarsdorf, Schönefeld, Neuschönefeld und Reudnitz noch nicht dieser enge und weiter wachsende Ballungsraum sind wie heute.
Es ist die Zeit, als es noch kein Rabet, keine Schwimmhallen und keine „Elektrische“ Bimmel, sondern Bahnen gibt, bei denen seit den 1872 stetig längere Strecken Pferde die Waggons auf Schienen durch die Straßen ziehen. Neuschönefeld ist nur vierstöckig bebaut und vor sieben Jahren, 1879, fuhr hier noch die kohlegetriebene Eisenbahn quer durch den Ort. Nun ist sie etwas weiter in den Norden verlegt worden und wo die alten Gleise verliefen, führt im Jahr 1886 eine Magistrale durch den Ort.
Man nennt sie sinnigerweise Eisenbahnstraße, schon damals einer der Kulminationspunkte aller Ostleipziger.
Gerade mal einen Schutzmann gibt es in dieser Neustadt, einem Appendix zwischen Schönefeld und Neuschönefeld. Fünf Jahre ist dieser Ort, der aus ein paar Häusern neben einer Fabrik entsteht, erst selbstständig, aber bereits so bevölkerungsreich wie die umliegenden Siedlungen. Die östlichen Vororte sind dafür allesamt Arbeiterviertel. Fabrikarbeiter und Eisenbahnarbeiter wohnen hier, wo die Eisenbahn Dresden und Leipzig verbindet. Das Deutsche Reich hat mittlerweile das längste Eisenbahnnetz Europas, aber nicht alle stimmen in den Fortschrittsjubelchor auf Kosten der Arbeiter ein. Die Sozialdemokratie ist im Jahr 1886 hier im Osten so stark wie nur westlich der Stadt, wo sich unter anderem im heutigen Lindenau und Plagwitz die anderen Fabriken ballen.
Die wichtigste Quelle und Zeugnis für das Leben vieler ist das damalige „Reudnitzer Tageblatt“. Es berichtet viermal wöchentlich aus den östlichen Vororten und auch aus der Welt. Da geht es um Schulanmeldungen, die neue Straßenbeleuchtung auf dieser Eisenbahnstraße, um Diebstahl, (Selbst-)Mord, um merkwürdige Beschlüsse zur Treppenhausbeleuchtung, wilde Konzertbesucher und um ganz viel Fortschrittsglauben in engem gesellschaftlichem Korsett.
Eigentlich heißt das wichtige Informationsblatt des Ostens im wahren Namensfuror korrekt: „Reudnitzer Tageblatt – Amtsblatt der Gemeindevorstände und Gemeinderäte zu Reudnitz, Neustadt, Anger-Crottendorf, Neusellerhausen, Neuschönefeld und Volkmarsdorf. Organ der Sparkasse in der Parochie Schönefeld zu Reudnitz, des Spar- und Vorschussvereins, des Lokalvereins, des Gewerbevereins, des Hausbesitzervereins, des Allgemeinen Turnvereins und des Vereins selbständiger Mieter zu Reudnitz, des Hausbesitzervereins, des Lokalvereins, des Schreibervereins und des Vereins selbständiger Mieter zu Neustadt, des Militärvereins und des Hausbesitzervereins zu Neuschönefeld, des Allgemeinen Hausbesitzervereins sowie des Lokalvereins zu Volkmarsdorf“.
Fast drollig wirkt heute angesichts der Medienkonzerne die lange Vereinsliste, doch man war nah dran an den eigentlichen Verantwortlichen und Machern im Geviert. So informiert im „Reudnitzer Tageblatt“ also irgendwie jeder gegenüber jedem.
Es herrscht Euphorie damals, die Welt wird schneller, sie wird scheinbar besser, in jedem Fall ändert sie sich rasch. Es ist was im Wachsen und man kann es in den kurzen Artikeln des „Reudnitzer Tageblatts“ spüren. Auch wenn hier niemand explizit schreibt, dass man ja mitten in einem Zeitalter der Industrialisierung, der rapiden Veränderung ist: die Berichte zeigen es in ihrer Gesamtheit, auch, dass der Prozess immer erst im Nachgang einen Namen erhält.
Viele Dinge müssen neu geregelt werden: Zu welchen Zeiten werden die Straßen beleuchtet, wer soll die vielen Menschen im Stadtteil ärztlich versorgen, wenn immer mehr kommen? Darf um die Ecke eine Schweineschlachterei entstehen und wie erhebt man Steuern in dieser Zeit?
Ein drängendes Problem ist damals, wer sich eigentlich am Abend um die Kinder, die noch fröhlich auf der Straße spielen, kümmert. Die Eltern sind meist in der Fabrik und Kindergärten gibt es nahezu keine im Leipziger Osten.
Ob es eine gute Zeit war, wird niemand mehr beurteilen können. Was ist eine gute Zeit? Von 1.000 Menschen zwischen 0 und 10 Jahren sterben damals 58, die ersten Polykliniken existieren noch nicht. Die Kindersterberate ist trotz medizinischen Fortschritts ungebrochen hoch, dafür gibt die Sparkasse immerhin 3,66 % Zinsen p.a. Bei einem Konzert singt das Publikum zum großen Finale spontan die Hymne des Deutschen Reiches, die Kinder rutschen eifrig Treppengeländer herunter oder treffen sich zur gepflegten Schlägerei am Nachmittag.
Unfrankierte Briefe nach Abtnaundorf kosten 10 Pfennig, nach Möckern oder Wahren aber 20 Pfennig. Hach, diese Zeit – da ist es wieder – sie ist so anders.
Reudnitzer Tageblatt, Ausgabe vom 4. Januar 1886
Damals beginnt das Schuljahr noch zu Ostern, entsprechend muss im Januar gehandelt werden: „Realschule zu Reudnitz: Anmeldungen neuer Schüler für Ostern 1886 nimmt der Unterzeichnete Mittwoch den 27. und Donnerstag den 28. Januar vormittags von 10-12 und nachmittags von 3-5 Uhr sowie jeden Schultag von 11-12 Uhr im Realschulgebäude entgegen. Die Aufnahme in die unterste (6.) Klasse kann nach erfülltem 9. Lebensjahr und erfolgreichen dreijährigen Besuche der Volksschule stattfinden. Die Knaben sind beim Unterzeichneten vorzustellen und haben Taufzeugnis (oder Geburtsschein), Impfschein und letzte Michaeliszensur mitzubringen. Zu weiterer Auskunft ist selbiger bereit. Reudnitz, den 14. Dezember 1886, D. J. Heubner“
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Die gute alte Zeit herrscht in jedem Fall bei den Zinsen, keiner muss Geld einzahlen, um sein Geld bei der Bank zu parken. Die Wirtschaft brummt, wenn auch auf Kosten des wachsenden Fabrikproletariats. „Bekanntmachung. Die von neun Gemeinden garantierte Sparkasse in der Parochie Schönefeld zu Reudnitz, Grenzstraße 2, verzinst Spareinlagen zurzeit mit 3 2/3 % jährlich. Als Einlage können an jedem Expeditionstage 50 Pfennige bis zu 150 Mark in ein Buch eingezahlt werden und zwar bis zum Höchstbetrag eines Sparbuches von 1500 Mark.“
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Gute alte Zeit auch in der Musik? Eher nicht. Und auch der Schreibstil ist heute gewiss direkter, der Schwulst alter Konzertberichte hat den Wandel der Zeiten nicht überlebt. „Das patriotische Konzert im Schloßkeller am gestrigen Tage gestaltete sich durch die großartige Beteiligung und animinierte Feststimmung des Publikums zu einer wahrhaft glänzenden Feier des 25-jährigen Regierungsjubiläums des deutschen Kaisers (Kaiser Wilhelm I/Anm. d. Autors). Jeder Besucher wurde, soweit der Vorrat reichte, mit einer Kornblume geschmückt. Das Programm wies fast ausnahmslos der Feier des Tages entsprechende Piecen auf, deren vollendete Exekutierung der vorzüglichen Kapelle des Herrn Jahrow oblag.“
Und die Helden sind noch so herrlich unbefleckt, der Kaiser ist eine unangreifbare Institution in sich. Denn „mächtig erklangen die beiden Chorgesänge ‚Was ist des deutschen Vaterland‘ und ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ durch den Saal; den Höhepunkt der Situation erreichte ein trefflicher Redner aus Leipzig, welcher aus der Mitte der Anwesenden heraus das Wort ergriff und dem Heldenkaiser warme Worte der Verehrung widmete, welche in einem mit jubelnder Begeisterung aufgenommenen Hoch gipfelten; hierauf intonierte die Kapelle die Nationalhymne, welche von den Anwesenden stehend begleitet wurde – Morgen findet das Winzerfest statt, zu welchem ein bedeutender Vorrat (2000 Liter) des bekannten und beliebten Moselweines seiner Bestimmung harret.“ Prost!
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Doch auch bei dem Konzert könnte alles noch ein wenig euphorischer und schmissiger sein, der Genuss von Musik und Nationalhymne bleibt in den Augen nicht ungetrübt. Was sich in den Wohnstuben abspielen könnte, zeigt ein weiterer Beitrag, der sich einem für die Zeitungsmacher offenkundigem Übel der Zeit widmet – lebhafte Kinder.
„Eine Konzertunsitte haben wir schon mehrfach beobachtet. Sie besteht darin, daß einzelne Konzertbesucher kleinere Kinder mit zum Konzerte bringen und diese dann im Saale nach eigenem Gutdünken schalten und walten lassen. Die Kinder springen im Saal umher, schreien und treiben auch sonstige Allotria, wodurch sie die übrigen Konzertbesucher im ruhigen Musikgenusse stören; wird bei den Eltern dann Beschwerde geführt, so fühlen sich diese darüber auch noch verletzt. Wer seine Kinder mit zum Konzerte bringt, der muß auch dafür sorgen, daß sie sich ruhig und anständig verhalten.“
Basta, sitz und aus. Eine fröhliche Zeit.
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Solche Zeitreisen sind echt spannend.