Martin Luther soll Leipzig erstmals am 9. Oktober 1512 besucht haben. Man fragt sich, ob er nicht schon vorher, etwa auf dem Weg von Erfurt nach Wittenberg, über Leipzig gereist ist. Im Oktober 1512 stand seine Doktorprüfung an der Wittenberger Universität an. Am 4. Oktober hatte er die Lizenz dazu erhalten.

„Und er musste Gehorsam gegen Rom und Sorge für den Frieden unter den Gelehrten schwören.“ So hat es Andrea van Dülmen in ihrer „Luther-Chronik“ verzeichnet, einem faszinierenden Werk von 320 Seiten. Bei diesem umfangreichen Werk hat man das Gefühl, in Martin Luthers Kalender und seinem Tagebuch zu blättern.

Für die Unkosten der Promotion steht der Kurfürst ein, und Martin Luther darf sich 50 Gulden in Leipzig abholen. In Leipzig? Sachsen ist geteilt, es gibt ein Albertinisches und ein Ernestinisches Sachsen. Geld kennt keine Grenzen. Und so ist die Tarnung perfekt, und schwer nachvollziehbar, woher Luther das Geld bekommen hat. Und wo hat er es abgeholt und quittiert? Im Schloss? Vielleicht.

50 Gulden sind ein großer Betrag! Zumal für jemanden, der kein Vermögen hat. 20 Gulden zahlte Martin Luthers Vater für das Festessen zur Aufnahme Martins ins Erfurter Kloster. 100 Gulden wird Luther später zur Hochzeit geschenkt bekommen. Einen Gulden wird Jahrzehnte später, 1556, der Wochenlohn des Ratssteinmetzmeisters Paul Wiedemann am Leipziger Rathaus betragen. Ein Gulden entsprach im Jahr 1900 dem Wert von 32 Reichmark. 1891 kostete im Restaurant Löwenbräukeller in München eine Portion Schweinebraten 60 Pfennige. Im Jahr 2016 kostet im gleichen Restaurant der Teller Schweinebraten 12,50 EUR.

Zu Fuß soll Martin Luther von Leipzig nach Wittenberg zurück gelaufen sein, dabei die Wälder der heutigen Dübener Heide durchquerend. Luther wird „geschworner Doktor der heiligen Schrift“, „berufener Doktor der Theologie“ und er erhält die Doktorinsignien, das sind Bibel, Barett und goldener Ring. Er muss sich einer großen Disputation stellen. Promoter Luthers ist Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt. Luther und Andreas Bodenstein-Karlstadt kommen sieben Jahre später zur Disputation nach Leipzig.

Leipzig 1519

Ein Hauszeichen im Barfußgässchen schaut noch immer aus dem Fassadenputz hervor mit der Jahreszahl „1511“ im Barfußgässchen, einer kleinen Seitenstraße vom Marktplatz westwärts. Einst führte diese Gasse vom Markt zum Barfüßer- bzw. Franziskanerkloster am späteren Matthäi-Kirchhof. Da ist vom heutigen Marktplatz die Rede, der der jüngste Marktplatz der Stadt ist, denn vorher fand das Marktgeschehen an anderen Orten statt. (Was Buchautoren übrigens nicht hinderte, im Jahr 2015 zu behaupten, Leipzig wäre planmäßig um den Marktplatz herum angelegt worden…)

Im Barfußgässchen stehen die ältesten erhaltenen Leipziger Bürgerhäuser. Nicht nur die Blitzableiter und die Fenster sind neu... Sie gehören zum Grundstück Markt 10. Foto: Karsten Pietsch
Im Barfußgässchen stehen die ältesten erhaltenen Leipziger Bürgerhäuser. Nicht nur die Blitzableiter und die Fenster sind neu… Sie gehören zum Grundstück Markt 10.
Foto: Karsten Pietsch

Leipzig hat im 16. Jahrhundert rund 10.000 Einwohner, in Zeiten von Pest und Seuchen sinkt die Anzahl schlagartig. Beherrscht wurde die Stadt vom Landesherrn, regiert von Kaufleuten und studierten Juristen. Leipzig hat eine Wasserversorgung bis in die Höfe und seit dem 15. Jahrhundert gepflasterte Straßen.

In Ratsakten sind manchmal Fakten überliefert, die mehr vom Alltag einer Stadt und ihrer Menschen erzählen, als die große Geschichtsschreibung wahrnehmen will. Am 8. April 1519 beklagen die Anwohner des Petersviertels (dazu zählen die Burgstraße und die Petersstraße)  Gestank, Geschrei, Verunreinigung der Straßen und erhöhte Feuergefahr.

Stadtgespräch

Drei Messen im Jahr zu Neujahr, Ostern und Michaelis sorgen für Neuigkeiten und Nachrichten, Anschauungen und Meinungen. Auf der relativ kleinen Stadt-Fläche von weniger als einem Quadratkilometer spricht sich schnell etwas herum. Im Jahr 2015 wird ein Leipziger Museologe feststellen: „In Leipzig ist eigentlich immer Messe! Hier passierte andauernd irgendetwas Neues, gab es etwas zu sehen, zu berichten.“

Martin Luthers Wittenberger Thesen wurden auch in der Druckerei von Melchior Lotter gedruckt und traten von hier aus die Reise an. Von 1517 an bis 1519 war das weniger gefährlich als später, nachdem Georg, der Landesherr im albertinischen Sachsen, lutherische Bücher und Luthers Lehre verboten hatte. Überliefert ist des Herzogs Ausspruch: „Das walt die Sucht“.

Kein Hauszeichen, nur eine Jahreszahl kündet von der Erbauung. Im Sommer ist der Blick nach oben durch Sonnenschirme verdeckt. Foto: Karsten Pietsch
Kein Hauszeichen, nur eine Jahreszahl kündet von der Erbauung. Im Sommer ist der Blick nach oben durch Sonnenschirme verdeckt. Foto: Karsten Pietsch

Melchior Lotter, kein Verwandter der Leipziger Kaufleute Anton und Hieronymus Lotter, nur ein Namensvetter, in Auge geboren, verfügte über beste Möglichkeiten der Tarnung, denn die Werkstatt druckte ohnehin kirchliche Schriften. Melchior Lotter, sowohl Senior als auch Junior, belieferten den Leipziger Rat mit Papier, bessere Beziehungen zur Obrigkeit kann sich ein Unternehmer gar nicht wünschen. Er hatte schon nach dem 31. Oktober 1517 Martin Luthers Thesen gegen den Ablasshandel gedruckt. Sprach sich das herum? Konnte man, wenn man jemanden kennt, der beim Drucker Lotter jemanden kennt, so etwas ansehen, vielleicht auch nur heimlich und kurzzeitig, selbst lesen oder vorgelesen bekommen? So man denn der lateinischen Sprache mächtig war? Oder gab es da auch schon eine, gedruckte, Übersetzung ins Deutsche? Wer übersetzte und druckte schneller? Luthers Freunde oder gar die Widersacher?

Wie viel gab es da nun aber zu erzählen, da der Landesherr Theologen zu einer Disputation zusammenholte, und die ja jetzt auch anreisten. Dass der Luther aus Wittenberg kommen würde muss ein Gesprächsthema für den hochweisen Rat der Stadt samt seinem Bürgermeister, im Ehrenamt für jeweils ein Jahr, gewesen sein. Wer da kommt? Worum es geht? Gegen wen’s geht? Wie soll das ausgehen? Dutzende Augustiner-Chorherren, Franziskaner-Mönche, Dominikaner-Mönche und Nonnen leben in der Stadt. An der Universität treffen sich etliche Nationen. Auch Thomas Müntzer studierte in Leipzig Theologie. Ebenso der Dominikanermönch Johannes Tetzel. Wer wird dabei sein? Wer darf reden? Mit wem? Wer darf zuhören? Solche Erwartungen an eine theologische Disputation dürften die Verschwiegenheit der Mönche kaum in Grenzen gehalten haben.

Beim Wasserholen sprachen die Mädchen am Brunnen davon. Beim Handel auf dem Marktplatz trafen mit den Fuhrleuten die neuesten Nachrichten von draußen, von den Straßen und aus anderen Orten ein. Vorbereitungen auf wochenlang dauernde Messen, Feste, höfische Hochzeiten waren die Leipziger ja gewöhnt, da war viel Bewegung in der Stadt, musste vieles besorgt werden, da war man viel unterwegs. Nun kam in eben diesem Sommer 1519 noch ein Event dazu.

Auf das Jahr 1502 wird das Wappen vom Grimmaischen Tor datiert. Längst stehen die Torbauten nicht mehr zwischen Grimmaischer Straße und dem Augustusplatz. Doch das Wappen ist erhalten und wurde im Neuen Rathaus in der Unteren Wandelhalle an der Ostseite zwischen den Pfeilern angebracht. Durch das Grimmaische Tor soll Luther am Freitag, dem 24. Juni 1519, mit seinen Begleitern aus Wittenberg kommend nach Leipzig eingefahren sein. „Im offenen Wagen“ heißt es, erster Wagen Andreas R. Bodenstein aus Karlstadt. Im Wagen Luthers saßen auch Melanchthon und der Wittenberger Rektor der Universität. Mit ihnen sollen „zu Fuß 200 Studenten mit Spießen und Hellebarden“ angereist sein. Doch „auf der Grimmaischen Straße zerbrach Karlstadts Wagen.“

Andreas Bodenstein (1486-1541), ist die eine Partei der Disputation, auch er nächtigt wie Luther und Melanchthon in des Buchdrucker Lotters Herberge nebst Weinschank in der Hainstraße. Die andere Partei ist Dr. Johannes Mayer, genannt Eck, auch Johann Maier aus Eck geschrieben  (1486-1543), Vizekanzler der Universität Ingolstadt.

27. Juni 1519

Man geht zur Kirche. Es ist die Kirche des Augustiner- Chorherrenstifts, dem Thomaskloster, und nur die Thomaskirche wird später von den Klosterbauten übrig bleiben und mehrfach umgebaut werden. Ein Augustiner ist auch Luther, allerdings ein Mönch des Augustiner-Eremiten-Ordens, einem Bettelorden. Ein Chorherrenstift war eine andere, wie man heute sagen würde, Preisklasse. Thomaskantor Georg Rhau dirigiert den Thomanerchor bei einer zwölfstimmigen „Misa de sancto spiritu“.

„Flugblatt“: Luthers Einzug in Leipzig am 24. Juni 1519. Erhobene Stichwaffen zeugen nicht von Gastfreundschaft. Hier hat sich jemand viel Mühe gemacht beim Kolorieren eines Stichs aus einem geflederten Buch. Repro: Karsten Pietsch
„Flugblatt“: Luthers Einzug in Leipzig am 24. Juni 1519. Erhobene Stichwaffen zeugen nicht von Gastfreundschaft. Hier hat sich jemand viel Mühe gemacht beim Kolorieren eines Stichs aus einem gefledderten Buch. Repro: Karsten Pietsch

Danach beginnt die Disputation in der Hofstube des Schlosses.

Grund der Disputation ist eigentlich der Widerspruch des Andreas Bodenstein von Karlstadt gegen eine Schrift „Obelisci“ von Johannes Eck. Luther, Melanchthon und Johann Agricola waren zu Beginn nur Zuhörer. Die Eröffnungsrede hielt der Thomasschullehrer Petrus Mosellanus. Das Protokoll wurde vom damaligen Rektor Johann Gramann, genannt Poliander, angefertigt. Gramann unterstützte das Luthertum und führte an der Schule humanistischen Unterricht ein.

Am 29. Juni wird Martin Luther in der Schlosskapelle predigen. Martin Luther wird seine Themen, den Glauben, die Bibel und den Papst und die Erinnerung an Jan Hus in die Disputation einbringen. Martin Luther wird angegriffen und in Schutz genommen…

Und dann? Was passierte an den nächsten 19 Tagen?

Fortsetzung folgt.

Ebenso folgen Tipps zum Weiterlesen, mit den Quellen-Informationen dieses Textes, und Empfehlungen zum Weiterreisen auf dem internationalen LUTHERWEG.

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