Protzig stehen sie da, und ein Hauch Romantik umgeistert ihre Zinnen, Tore, Bäume und Parks von Schlössern, Burgen und Herrenhäusern, selbst dann noch, wenn sie längst verlassen sind. Manches Haus zeigt neuen Putz, frische Farbe, ausgebesserte Details an Skulpturen, Fenstern und Fassaden. Glück haben sie gehabt, diese alten Bauten, wenn sich jemand um sie kümmert.

Manche Tore sind verschlossen, Schilder warnen vor wachenden Hunden. Anderswo sind Besucher willkommen und schauen sich um (wie L-IZ.de),  staunen oder lassen sogar ihre Fantasie spielen…

Evangelisch-lutherische Kirche, Kunst und Tourismus begehen die Luther-Dekade bis zum Jahr 2017 mit Themen-Jahren. Jetzt ist gerade „Reformation und die eine Welt“ dran. Erstaunlich, wenn man es zu heutigen Nachrichten aus dieser einen Welt ins Verhältnis setzt! Mit Luther befassen sich auch andere Gläubige oder Anders-Gläubige: „Wie kann denn die Reformation als ‚Jubiläum‘ auch noch ‚gefeiert’ werden?“, ereiferte sich vor ein paar Monaten ein katholischer Kirchenmusiker.

Luthers Hotel?

„Hier war Luther…“ verzeichnen Kirchen, Herbergen und Gotteshäuser genauso gern wie „Hier war Goethe“ oder „Hier war Napoleon“. Man wirbt mit Gästen, die für einen Wimpernschlag der Geschichte da waren und damit für den Ort wichtig wurden. Machen wir einen Ausflug zu Martin Luthers Pleißenburg in Leipzig, Schauplatz der Disputation von 1519.

„Renaissance-Flyer“: Luthers Thesenanschlag; Stich, herausgerissene Buchseite, antiquarisch gekauft, digitalisiert, online... Repro: Karsten Pietsch
„Renaissance-Flyer“: Luthers Thesenanschlag; Stich, herausgerissene Buchseite, antiquarisch gekauft, digitalisiert, online… Repro: Karsten Pietsch

Da staunte man dieser Tage, als ein Hotel-Projekt für den Burgplatz vorgestellt wurde, dessen Fassade Porträts von Teilnehmern der Disputation zeigen soll. Immerhin wären das Hinweise darauf, dass da mal was war…  Vielleicht wird es ja später mal heißen „In diesem Hotel wohnte Luther“.

Zur Disputation 1519 wohnten Martin Luther und Philipp Melanchthon beim Buchdrucker Melchior Lotter in der Hainstraße im Haus und Hof mit dem Namen „Zum Birnbaum“. Eine Gedenktafel erinnert daran. Als das „Hotel de Pologne“, später an diesem Ort erbaut, vor ein paar Jahren saniert wurde, restaurierte man auch die Tafel mit. Im Keller des Hauses fand man beim jüngsten Umbau noch Feldstein-Gemäuer, das einer der Bauherren noch während der Sanierungsarbeiten stolz zeigte mit dem Hinweis, dass das noch aus der „Birnbaum“-Zeit stamme, und man hier immer wieder auf den alten Mauern neu aufgebaut habe.

Lutherweg

Nach Luthers Pleißenburg muss man suchen. Das heißt, wir suchen Luther in Leipzig. Da helfen uns die Wegweiser des Leipziger Lutherwegs und ein Flyer aus der Tourismus-Werbung. Eine Ausstellung, gar ein Museum ist vor Ort nicht zu finden, kein Denkmal, kein Souvenirshop. Ohne auf ein Geocaching oder eine Sightseeing-App warten zu wollen, können wir ja mal in Martin Luthers Biografie nachschauen. Juni 1519. Wer war Martin Luther da?
Wie sah Martin Luther 1519 aus? Wie sah Leipzig aus? Wie wirkten sich die Leipziger Ereignisse auf Luthers Leben aus? Wo, bei welchen Herren, in welchen Häusern, war er denn? Wo war er geladen? Wie fühlte er sich aufgehoben? Sind die Häuser noch da?

Mit einem schnellen Klick ins Internet sind wir nicht zufrieden, wir wollen ja eine Weile unterwegs sein. Und eigentlich auch so reisen wie zu Zeiten Luthers. Und schon liegt der Tisch voll Literatur. In altmodischer Art und Weise, in Form von Büchern. Was gibt es da nicht alles. Luthers Werke. Biografien, Zitaten-Sammlungen, sogar „Luthers Leiden“, Anekdoten, „Luther aus marxistischer Sicht“, herausgegeben von der CDU in der DDR, Kochen, Gärtnern und Weihnachten bei Luthers, Gesammeltes und Vermischtes. Beim Schmökern breitet sich eine Staubwolke aus. Klar, diese Reise wird eine Weile dauern…

„…hagerer, erschöpfter Körper“

Zuerst das Menschliche: Wie sah Martin Luther 1519 aus? Er war 35 Jahre alt. Einer der Teilnehmer der Disputation, Petrus Mosellanus, gibt am 3. August eine Schilderung des Ablaufs, und er stellt uns Luther vor: „Martinus ist mittlerer Leibeslänge, von hagerem, durch Sorgen und Studieren erschöpften Körper, so dass man fast die Knochen durch die Haut zählen könnte, von männlichem, frischem Alter und hoher, klarer Stimme…Im Leben und in seinem Betragen ist er sehr höflich und freundlich und hat nichts stoisch Strenges und Sauertöpfisches an sich, er kann sich in alle Zeiten schicken.“

10 Sekunden Mittelalter

Zeit der Handlung: 27. Juni 1519, Beginn der Disputation. Ort der Handlung: Pleißenburg.
Bei einer Stadtrundfahrt heutzutage geht alles schnell: „Links sehen Sie das Neue Rathaus, erbaut bis 1905 auf den Grundmauern der alten Pleißenburg. Martin Luther war hier zur Disputation…“ Zehn Sekunden. Zehn Sekunden Reise vom Mittelalter zur Neuzeit. Mehr Zeit für Erklärungen haben heutzutage die Gästeführer im Vorbeifahren bei Stadtrundfahrten kaum. Da ist auch der Anblick dieses Rathauses eindrucksvoll oder einschüchternd genug und die Turmhöhe und mutmaßliche Anzahl von Zimmern soll erwähnt und eine Inschrift gedeutet werden… Auf Gedenken an Luther und die Disputation müssen die Gästeführer nicht hinweisen, dazu gibt’s ja am historischen Ort nichts zu sehen. Schilder mit dem L und dem Vermerk „Lutherweg“ sind an Wegweisern in der City gut lesen, wenn man sie denn einmal gefunden hat. Längst steht das Luther-Melanchthon-Denkmal nicht mehr auf dem Johannisplatz. Bei Bus-Stadtrundfahrten kann man die Lutherkirche in der Ferdinand-Lassalle-Straße nur aus der Ferne sehen…

Ein feste Burg

Gott ist die Burg. „Ein feste Burg…“ Luther selbst ist doch auch wie eine Burg. Und Luther lebte auf der Wartburg. Ob man das ursprüngliche Lied meint, der ein Choral wurde oder gar ein Volkslied, Hit oder Evergreen – auf Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ trifft alles zu. Zwar hat geht es im Lied nicht um Burgen-Bauwerke bei Schutz. Verteidigung und Angriff, Architektur, Konstruktion und Material, doch mit dem Aufenthalt in Burgen hatte Martin Luther Erfahrungen, wie mit dem Besuch von Schlössern und Herrenhäusern und ihren Besitzern. Anfang 2016 verkündete man, anderswo, nicht in Leipzig, als eine Werbebotschaft „Ein feste Burg… – die ‚Marseillaise des 16. Jahrhunderts‘“. Für Souvenirjäger gibt es Luthers Hymne längst auch als Spieluhr mit Kurbelantrieb zu kaufen.

Nicht in der Pleißenburg, im Schloss war es!

Hier kommt nun eine Art Reisetipp! „Mit Luther auf dem Weg“. Zum Nachspielen geeignet. Ein Orientierungslauf, Spiel mit Unbekannten, Rätsel, Puzzle, Krimi. Deckname, Aktenzeichen: DISPUTATION. Tatzeit bzw. Datum: am 27. Juni 1519 begann der Streit. Als man Wochen später das Protokoll druckt, und fortan in Jubiläumsjahren daran erinnert, lautet der Titel: „Die Kirchenschlacht zu Leipzig“. Als einer der Haupttäter ist der Name Martin Luther überliefert. Wir schauen in seinen Kalender, bzw. wie Historiker die Chronik seines Lebens erforscht haben: „Die Disputation wird mit Gottesdienst und Festakt in großer Feierlichkeit eröffnet. Sie soll in der Hofstube der Pleißenburg stattfinden.“ Als Leipziger werden wir stutzig: es ist von der „Pleißenburg“ die Rede! Im Jahr 1519?!

Im Burgplatzpflaster ist die einstige Zufahrt erkennbar. Nach archäologischen Grabungen wurden die Grundmauern markiert. Wer hier über dunkle Steine geht, läuft quasi durchs Mauerwerk. Diesen Zugang gab es schon zur Zeit des Schlosses. Erst spätere Festungsbauten werden den Namen „Pleißenburg“ erhalten. Foto: Karsten Pietsch
Im Burgplatzpflaster ist die einstige Zufahrt erkennbar. Nach archäologischen Grabungen wurden die Grundmauern markiert. Wer hier über dunkle Steine geht, läuft quasi durchs Mauerwerk. Diesen Zugang gab es schon zur Zeit des Schlosses. Erst spätere Festungsbauten werden den Namen „Pleißenburg“ erhalten.
Foto: Karsten Pietsch

Einen authentischen Ort der benannten Hofstube gibt es nicht mehr. Leider. Luthers Stube auf der Wartburg kennt jeder. Ob nun mit oder ohne Tintenfleck. Besser gesagt, wir müssen Luthers Leipziger Burg suchen. Konnte denn wirklich von einer Burg die Rede sein? Fündig werden wir nur bis zum  Begriff Schloss.

Den irreführenden Namen Pleißenburg, und sogar den Begriffe-Mix zum „Schloss Pleißenburg“ findet man in der Literatur erst später, weit nach 1519, für den Neubau nach den Zerstörungen im Schmalkaldischen Krieg. Was dann aber Hieronymus Lotters Burg wäre, der freilich wiederum mehr für die Bauausführung zuständig gemacht worden ist und nur in wenigen Details in die Planung eingriff. Nach italienischem Festungsbau-Vorbild hatte der Dresdner Baumeister Caspar Voigt von Wierandt die Befestigungen für Dresden und auch für Leipzig projektiert und den Bau bis zu seinem Tod 1560 geleitet.

Doch so weit sind wir noch nicht. 1519 steht in Leipzig an der Südwestecke der Stadt noch ein früherer Baukomplex: das Schloss. Wie es aussah, ist auf der ersten Leipziger Stadtansicht kaum zu erahnen, denn da ist es bereits zerstört. Mit dem Straßennamen Markgrafenstraße wird an die einstige Herrschaft erinnert. Nur im Falle ihrer Anwesenheit war Leipzig dann kurzzeitig auch Residenzstadt.

Als zum 1.000-jährigen-Ersterwähnungs-Jubiläum im Stadtgeschichtlichen Museum „Leipzig – Von Anfang an“ gezeigt wurde, tauchten auch 3-D-Computer-Simulationen auf, wie sich Studierende der Mainzer Universität in drei Varianten das Schloss und seine Baukörper vorstellten. Diese, frei erfundenen, Bilder dürften nun künftig in Literatur und Forschung für Verwirrung sorgen.

Eine unendliche Geschichte. Gleich geht’s hier weiter.

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