Protzig stehen sie da, und ein Hauch Romantik umgeistert ihre Zinnen, Tore, Bäume und Parks von Schlössern, Burgen und Herrenhäusern, selbst dann noch, wenn sie längst verlassen sind. Manches Haus zeigt neuen Putz, frische Farbe, ausgebesserte Details an Skulpturen, Fenstern und Fassaden. Glück haben sie gehabt, diese alten Bauten, wenn sich jemand um sie kümmert.
Manche Tore sind verschlossen, Schilder warnen vor wachenden Hunden. Anderswo sind Besucher willkommen und schauen sich um (wie L-IZ.de), staunen oder lassen sogar ihre Fantasie spielen…
Halle/Saale. Waisenhausring. Dieses Areal und seine Gebäude sind größer als üblicherweise Schlösser sind, und es ist eine Burg für Kinder. Eine Ausnahme-Burg. Als Herrschaft fungiert das Prinzip Schule, gegründet als Waisenhaus. Und August Hermann Franckes über 300 Jahre alte Stiftung ist lebendig. Wenn der Spruch: „Für Kinder ist das Beste gerade gut genug“, nicht von Johann Wolfgang Goethe ersonnen und später von Margarete Steiff benutzt, könnte er auch von Francke sein. Was der Francke da gemacht hat und tut, das interessierte sogar den Preußischen König Friedrich Wilhelm I. Deshalb reiste er nach Halle. Und ihre Majestät kommt nach wie vor regelmäßig zur Visitation!
Pietistische Frömmigkeit und Nächstenliebe
August Hermann Francke (1663-1727), evangelischer Theologe, Pädagoge, Vertreter des Pietismus gründete vor über 300 Jahren eine Armen- und Waisenanstalt, damals noch vor den Toren der Stadt Halle gelegen, die seit 1280 eine Hansestadt war. In pietistischer Frömmigkeit lebten 2.500 Waisen-, Armen-, aber auch Bürger- und Adelskinder ein Beispiel praktischer Nächstenliebe. Franckes Ideen gingen aus den Fachwerkhäusern hinaus in die Welt als protestantische Mission, in Form von Medikamenten-Expedition und mit der Herstellung von Millionen deutschsprachiger Volksbibeln. Eine Info-Tafel neben dem Francke-Denkmal erzählt vom Ruf des Halleschen Waisenhauses als „Neues Jerusalem“. Hallescher Pietismus breitete sich bis nach Indien und Nordamerika aus.
Francke und der König
Rechtzeitig vor der angegebenen Uhrzeit finden sich diverse Personen friedlich im Foyer des Haupthauses ein, bereit, Majestät die Ehre zu erweisen. Vor dem König erscheint zunächst der Erzähler und Protokollant der Veranstaltung, dem ja die Überlieferung zu verdanken ist. Matthias Brenner ist der Chronist, Schauspieler, Regisseur und Künstlerischer Leiter des Neuen Theaters und des Thalia-Theaters.
In der Chronik von damals heißt es: „Den 12ten April 1713 ¾ auf 12 Uhr kam der König, Friedrich Wilhelm I., besser bekannt als der preußische Soldatenkönig, in die Schulstadt August Hermann Franckes, um das Werk zu besichtigen, das so viel Aufsehen in seinem Land erregte und weit über dessen Grenzen hinaus berühmt war.“
Es war der Antrittsbesuch des neuen Kurfürsten und Königs in Halle. Sein Vater Friedrich I. hatte dem Waisenhaus umfangreiche Privilegien eingeräumt und den Aufbau der Franckeschen Stiftungen tatkräftig unterstützt. Doch was passiert nun nach dem Machtwechsel? Für August Hermann Francke war dieser Besuch von Brisanz. Würde denn die Förderung unter dem neuen Regiment so weitergehen? Wonach verlangt der König?
Was der Chronist ins Protokoll schrieb, ist zum Teil in der ständigen Ausstellung in den Zimmer, Fluren, Treppen und auf dem Turm als Zitat präsent. Doch wenn Ihre Majestät in der Flügeltür erscheint, geht ein Ruck durch den Raum und ein paar Dutzend Teilnehmern der Audienz!
Hilmar Eichhorns brilliert mit mächtiger Figur mit tief- bis abgründigem Lächeln und gezügelter Stimme, deren Höhen erahnen lassen, dass sie bei anderer Gelegenheit fürchterlich donnern kann. David Kramer ist der schmächtige, karge, freundliche, selbstbewusste Pädagoge in alle Richtungen. Nur dann gerät seine Selbstsicherheit ins Wanken, wenn er dem König beantworten soll, ob er denn auch Soldatennachwuchs heranzöge. Dieser Francke will ehrlich sein, muss aber diplomatisch vorgehen. Es geht um seine Kinder, deren Schule, deren Leben. 1.500 Schüler stehen im Examen! „Haltet Ihr die Jungs vom Kriege ab?“, fragt der König entsetzt zurück.
Francke geleitet den König, und die ganze Audienz-Gemeinde, die Treppen hinauf in den einstigen Speisesaal, nebenan wird verweilt und mit den Kursanten gleich mal gepaukt, sogar englisch. Und eine Besucherin hat ein Buch mit einer Beschreibung aus Schüler-Sicht mitgebracht, die Matthias Brenner sofort einbaut.
Wo Wissen ist, wird gesammelt
Wie leicht klingen da solche königlichen Sätze: „Der Geiz ist die Wurzel allen Übels.“ Es geht um Gelder und Erfolge, wenn zum Beispiel die Buchhandlung 10.000 Taler einbrachte, wie auch die Apotheke. An den einstigen Schlafsaal erinnert noch ein Modell, im Naturalienkabinett ist alles echt bis hin zu Teilen der Möbelausstattung, wie in den Wunderkammern von Fürsten und in Klöstern. Wo Wissen und Bildung waren, wurde aufbewahrt und gesammelt. Wer etwas Besonderes besaß, wollte es auch gern zeigen. Wenige dieser Sammlungen und Kabinette sind noch so erhalten, wie sie einst präsentiert wurden. Zu groß war für manchen die Verlockung, Einzelstücke zu entwenden und zu Geld zu machen…
Majestät und Protokollant geraten auch scheinbar kurz in Streit, ob eines Zitates wegen: „Das soll ich gesagt haben?“ Und wie die beiden das auflösen, ist auch noch schön! Protokoll gilt. Hoch hinauf geht es, bis die Treppen schmaler werden und ins Freie führen: man schaut über Franckes Schulstadt über das heutige Halle! An diesem Tag, sei gemutmaßt, dürften sich Francke und der König einig geworden sein. Freilich will Majestät unbedingt noch zu den Branntweinstuben, und Francke muss ihn begleiten!
Hilmar Eichhorn und Matthias Brenner kennt man von Leipziger Schauspielbühnen, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten. Hilmar Eichhorn kam auch schon über Halle nach Leipzig. Sein Einspringen als Wilhelm Tell ist unvergessen, ebenso Matthias Brenners Baal in Brechts „Baal“, inszniert von Konstanze Lauterbach.
Matthias Brenner, der Erzähler/Protokollant, drängelte sich schon zu Beginn des großen Empfangs mit seiner Erklärung als Chef des Hallenser Schauspiels vor: dass man nämlich als Hallenser Kulturinstitution des Theaters den Kollegen der Franckeschen Stiftung auf dem Weg der Bewerbung für die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes beistehen und helfen wolle. Freilich verdirbt Herr Brenner damit dem Auftreten und Erscheinen des Königs den Zauber der Theater-Bühne, aber mit diesen Figuren und solchen Vollblut-Darstellern kann man das mal machen. So holen sich denn am Ende auch alle drei Akteure viel Applaus beim Publikum ab, und wie die Vorhänge im Theater gehen die Auf- und Abgänge und Verbeugungen über die Bretter des Foyers vom Haupthaus der Franckeschen Stiftungen. Francke lebt!
So wie sich die Bühnen Halle mit dem Neuen Theater in die UNESCO-Welterbe-Listen-Bewerbung einbringen, und das nicht nur an einem Abend, sondern in Form von Theater-Repertoire und Veranstaltungsprogramm der Stiftungen, das hat Klasse! Da schmort in Leipzig jeder in eigener Küche und brutzelt im eigenen Saft. Solche Theaterführungen oder Museums-Mitwandertheater mit mehreren Akteuren gibt’s in Leipzig nirgends.
„Francke und der König“ gibt es wieder am 19. November 2015.
Hallzig & Leiple
Halle hat einen Leipziger Turm. In Leipzig gibt es ein Hallesches Tor, zumindest dem Namen nach, vom Stadtzentrum aus Richtung Gerberstraße, früher war da mal ein Stadttor. Heute erinnert die Fassade der Höfe am Brühl Richtung Norden wieder an eine Stadtmauer. „Hallzig und Leiple“ titelte man vor Jahren bei der Museumsnacht. Warum nur muss die in beiden Städten gleichzeitig stattfinden, und verhindert damit, dass auch die Akteure der Städte samt ihrer Fördervereine und des Personals sich gegenseitig besuchen können, in etwa so: „Heute Ruhetag. Wir sind alle in Halle…“ Oder eben „…heute alle in Leipzig.“
An der Saale hellem Strande
Früher sollen die Leipziger genauso über die Hallenser geredet haben, wie die Hallenser über Leipziger. Beiden Städten hatte die DDR-Planwirtschaft übel mitgespielt, „als alles nach Berlin ging“, was an Arbeitskräften und Material gebraucht wurde. Da reisten die Leipziger mal nach Halle in die Fußgängerzone, „um zu sehen, ob es was gibt“. Zum Wandertag fuhren Leipziger Kindergarten- und Schulkinder auf der Saale mit dem Dampfer. Entdeckungen auf den zweiten Blick waren das „Steintor-Varieté“ und die Moritzburg. Aus dem Fernsehen war die Adresse „Waisenhausring“ als Studio Halle bekannt. Doch hat man als Leipziger beim Vorbeifahren nach Halle-Neustadt nach dem großen, langen Haus neben der Straße gefragt? Es ist eines der längsten Häuser Europas. Aber die Franckeschen Stiftungen haben ja noch ganz andere Dinge zu erzählen. Ein „Kunstführer“ aus DDR-Zeit, erschienen 1982, kennt nur das „Hauptgebäude am Franckeplatz als viergeschossigen Barockbau, begonnen 1698. Naturalienkabinett und Historische Sammlungen – Besichtigung nur nach Voranmeldung.“
Francke lebt
Paul Raabe kam Anfang der 1990er Jahre aus Wolfenbüttel nach Halle/Saale, nahm die Franckeschen Stiftungen in seine Sammlung der „Leuchttürme“ auf, fungierte selbst als Organisator für alles, zunächst die Restaurierung der Gebäude, und öffnete Türen: Da staunte mancher über – hier nicht vermutete – Geschichte von Bildung und Erziehung und stand inmitten des Labyrinths der historischen Bibliothek. Wenn nun der Welt-Erbe-Titel angepeilt wird, heißt das nicht nur Bewahrung von Erinnerungen und Dokumentationen, sondern lebendige Institution.
Spaziert man abends über den Lindenhof Richtung Haupthaus, trifft man nur wenige Passanten und es dämmert in der Schulstadt schon, aber aus den Fenstern etlicher Räume tönen Instrumentalmusik und Chorgesang. August Hermann Francke schaut zu den Kindern neben ihm, weist mit der Hand nach oben, ein Denkmal, „wie wenn es lebt“.
Wie es sich für eine eigene kleine Stadt inmitten der großen Stadt Halle gehört, gibt es einen Stadtplan zur Orientierung: Mehr als 50 Gebäude und Einrichtungen sind verzeichnet, das Historische Waisenhaus thront am Francke-Platz mit dem Museum und dem einstigen Speisesaal als heutigem Freylinghausen-Saal zur Seite. Franckes einstiges Wohnhaus, Haus 28, neben dem Tor zur Gesamtanlage als Kasse, Shop und Informationszentrum.
Im historischen Back- und Brauhaus sitzt die Verwaltung. Als gewerbliche Nutzer sind Waisenhaus-Apotheke, das Café Tranquebar und die Buchhandlung umgeben von Kindertagesstätten, Schulen, Gymnasium, den Pädagogen und Theologen der Martin-Luther-Universität und christlichen Einrichtungen. Die Kulturstiftung des Bundes hat ein neues Gebäude dazu gestellt, in auffällig schräger Optik, gegenüber dem Francke-Stiftung-Haupthaus mit seinen einladenden Freitreppen.
„Ein Schatz ist gehoben worden“, hat Matthias Brenner in einer Francke-Broschüre geschrieben, „hinter der Betonfassade der Hochstraße geriet dieser Schatz fast in Vergessenheit. Nicht nur die einzigartige Bibliothek, also das gelagerte Wissen, sondern auch die Architektur gemahnen uns mit ihrem Reichtum an den Wert von Bildung und Kultur. Die Welt hat es verdient.“
Vorsicht!
Hallenser Legenden wissen von Saalaffen und von Saalmännern mit seltsamen Kräften zu berichten. Als eine Holzbrücke über die Saale erneuert werden sollte, machten sich Maurer ans Werk. Jedoch wurde ihre Arbeit in der darauf folgenden Nacht wieder zerstört. Man hielt zunächst die Konstruktion für fehlerhaft und baute stabiler. Aber morgens war wieder alles zerstört. So kam es, dass die Maurer die Nacht abwarteten und bei Vollmond sahen sie zwei große Saalmänner angeschwommen kommen, und wie sie die mächtigen Steine wie Kiesel durcheinander warfen und alles demolierten.
Beim Priester der Nikolauskapelle in der Klausstraße holten sich die Bauleute Rat. Er empfahl, von der Geißel des heiligen Nikolaus einige geweihte Stücke einzubauen. So taten es die Maurer. Ihr Bauwerk blieb fortan unbeschadet und sie sahen auch die beiden Unholde tot auf dem Grunde der Saale liegen, vor Schreck hatten diese mit den Händen Mund und Nase aufgerissen und waren in Stein verwandelt. So mauerte man die beiden Saalmänner in die Brücke ein. Wegen der Fratzen, die sie schneiden, nennt man sie die Saalaffen.
Extras
Ein Francke-Jahres-Programm, stark wie ein dicker Taschenkalender, offeriert regelmäßige und einmalige Angebote. Zur Museumsnacht im Sommer werden die Franckeschen Stiftungen sogar malerisch ins Licht gesetzt. Der Leipziger Bernd E. Gengelbach ließ dann schon einige Male quasi als lebendigen Film Licht und Bewegung mit der Architektur spielen. Unikate sind das Naturalienkabinett und die historische Bibliothek, nicht nur mit ihren Buchbeständen und der Bibelsammlung, sondern vom Fußboden bis zu den Regalen.
Wo nachlesen? Wo weiterlesen?
Einfachste Antwort: In der historischen Bibliothek der Franckeschen Stiftungen! Aber so einfach kann man da nicht ins Bücherregal greifen. Im Shop der Franckeschen Stiftungen gleich neben dem Haupthaus lauern einige kurze oder längere Dokumentationen zu Francke einst und heute.
Wann? Wie? Wohin? Weiter?
Franckesche Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, 06110 Halle (Saale), Tel. Info-Zentrum: 0345 2127-450, Geschäftsstelle/Studienzentrum: (0345) 21 27 400.
Öffnungszeiten des Historischen Waisenhauses und der historischen Bibliothek dienstags bis sonntags sowie feiertags von 10:00 Uhr bis 17:00 Uhr.
„Francke und der König“ gibt es zum nächsten Mal am 19. November 2015, Beginn: 18:00 Uhr, Eintrittspreis: 6,00 Euro, Kartenverkauf über die Franckeschen Stiftungen, Insidertipp: Begrenzte Kapazität, Vorbestellung empfohlen: Tel. (0345) 2127-400.
Weiterreisen kann man zum Beispiel zu anderen alten Schulen, gar Fürsten- bzw. wie Landesschulen wie Schulpforta in der Nähe von Naumburg.
In Halles Landesmuseum für Vorgeschichte ist die Himmelsscheibe von Nebra zu sehen, gelegentlich wird der Teller mit astronomischen Symbolen scherzhaft auch als „Bronzepizza“ bezeichnet.
Von einem Fundort in Thüringen kam schon 1884 eine kleine Plastik ins Museum, die vermutlich 1.800 Jahre alt ist. Ganze 7,1 Zentimeter ist die Figur hoch und 114,5 Gramm schwer, sie wurde nach neueren Erkenntnissen in einer germanischen Werkstatt im 3. bis 6. Jahrhundert gefertigt. Ähnliche Figuren wurden auf den dänischen Inseln entdeckt. Vorbild waren möglicherweise kleine Götterfiguren, die römische Soldaten bei sich trugen.
Und wenn man fragt: „Wo weitersehen?“, dann sei auf die Theater in Halle verwiesen, die es auf unterschiedliche Art mit der Geschichte und der Theatergeschichte ernst meinen. Im Opernhaus gibt es einen kompletten „Ring des Nibelungen“ mit modernem Ansatz als Blick auf Richard Wagners Mythologien-Kabinett.
Im Sommer gastieren auch die Hallenser Theaterleute im Goethe-Theater Bad Lauchstädt, das als Ganzes und mit der historischen Bühnentechnik auf seine Art und Weise ein Raritätenkabinett ist, wie Franckes Lehr-Sammlung zur Natur.
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