Was feiert man eigentlich? Was setzt sich im Gedächtnis fest? Den Sektempfang der Großen Leute, wenn alles fertig ist? Oder doch lieber den Tag, an dem es damals richtig losging? Zum Beispiel mit dampfenden und zischenden Lokomotiven auf 26 Gleisen? Natürlich ist hier vom Leipziger Hauptbahnhof die Rede. Die Großen Leute haben 1915 auch erst im Dezember gefeiert.
Die anderen – die Geschäftsreisenden, Messegäste, Kleinwarenhändler, Soldaten, Theaterkritiker, Soldaten … man vergisst es ja so leicht: Es war mitten im Krieg. Offiziere, Weltenbummler, die waren schon viel früher in diesen prächtigen Hallen. Eigentlich sogar schon seit dem 1. Mai 1912. Da war auf der Westseite des riesigen Kopfbahnhofes schon der Zugbetrieb aufgenommen worden. Das war die preußische Seite. Der riesige Bahnhof war ja bekanntlich ein Gemeinschaftsprojekt, auch wenn sich die üblichen Anekdotenschreiber der Leipziger Geschichts-Bücher heutzutage lieber mit all den Scherzen und Glossen über die sächsisch-preußische Reiberei im Vorfeld des Baus und im Betrieb danach auslassen.
Die Wahrheit ist: Nie hat preußisch-sächsische Zusammenarbeit so gut funktioniert wie auf diesem “geteilten” Hauptbahnhof zwischen 1912 und 1934. 1934 wurde die Verwaltungsgrenze der beiden Direktionen aufgehoben – fortan gehörte Leipzigs Koloss offiziell zur Reichsbahndirektion Halle.
Tatsächlich reichte die Zusammenarbeit ja viel weiter zurück. 1898 – da hatte Leipzig sechs Kopfbahnhöfe, jeder einzelne längst zu klein für den gewaltig gewachsenen Bedarf. Zu Messezeiten barst jeder einzelne aus den Nähten. Zwei schaufelten die Gäste aus Preußen nach Leipzig – das war der Magdeburger Bahnhof (der lag ungefähr da, wo heute die Gleise 14 bis 18 liegen) und der Berliner Bahnhof (der lag tatsächlich in der Berliner Straße), einer brachte die Fahrgäste aus Thüringen in die Messestadt (der Thüringer Bahnhof, der ungefähr da lag, wo heute der Westeingang in die Bahnhofs Promenaden liegt), einer als ältester brachte die Dresdner nach Leipzig (der Dresdner Bahnhof auf der Ostseite).
Der Dresdner Bahnhof lag am weitesten östlich und wurde deshalb als letzter abgerissen. Stehen blieb nur einer der damaligen Kopfbahnhöfe: der Bayrische Bahnhof. Zwar blieb auch der Eilenburger Bahnhof noch in Betrieb – doch der wurde im 2. Weltkrieg Opfer der Bomben.
Als am 1. Mai 1912 die erste Dampflok in den Bahnsteig 1 auf der neuen Hauptbahnhof-Westseite einfuhr, war der Dresdner Bahnhof auf der Ostseite noch in Betrieb. Der letzte Zug fuhr dort am 1. Februar 1913. Dann begann der Abriss.
Der erste Zug, der 1912 in den erst halb fertigen Hauptbahnhof einfuhr, war ein Zug aus Korbetha. Die Mitreisenden, das Zugpersonal und das Bahnhofspersonal ließen sich damals fotografieren. Das Foto findet sich gleich in zwei Büchern: in David Falks “Leipzig-Großkorbetha” und in Helge-Heinz Heinkers “Leipzig Hauptbahnhof. Eine Zeitreise”. Korbetha, zwischen Schkopau und Halle gelegen, gehörte damals zu Preußen.
Sogar die Uhrzeit kam mit ins Bild: 5:48 Uhr. Vier Bahnsteige mit sechs betriebsfähigen Gleisen waren fertig und ließen, so Helge-Heinz Heinker “die kommende Größe des Bahnhofs bestenfalls ahnen”.
Und er zitiert das “Leipziger Tageblatt”, das am 28. April schon mal eine Sonderbeilage veröffentlicht hatte zur kommenden Inbetriebnahme. Doch dem Reporter ging es so, wie es Besuchern gerade in der vergangenen Woche auf dem Leipziger Hauptbahnhof gegangen ist, als der ganze Bahnhof vom 24. bis 27. September außer Betrieb war.
“Vollständige Ruhe! Ich muß lachen über die Unmöglichkeit dieser Forderung. Auf einem Bahnhof, auf dem größten Bahnhof der Welt, vollständige Ruhe!” Natürlich hat er keine vollständige Ruhe vorgefunden, er hat sie sich nur eingebildet. Denn: “Ein Heer von Handwerkern und Arbeitern, von Malern, Tischlern, Installateuren, Schlossern, Mechanikern, Zimmerleuten, Steinmetzen, Klempnern usw. usw. – wer wollte alle Berufe, die hier tätig sind, nennen – ist hier noch in voller Tätigkeit, die letzte Hand anzulegen zur Vollendung des Werkes, das in wenigen Tagen dem Verkehr übergeben wird.” So war das 1912.
Und 1915?
Da hatten sich die Leipziger schon daran gewöhnt, dass der Koloss immer weiter wuchs und immer mehr Gleise in Betrieb gingen. Und am 1. Oktober 1915 war es dann soweit, da war der riesige Bahnhof dann endgültig in Betrieb.
Gefeiert haben die Großen Leute aber erst zwei Monate später, am 4. Dezember. Vorher haben sie in ihren Kalendern wohl keinen gemeinsamen Termin gefunden.
Und das Verblüffende: Preußen und Sachsen passten damals so sehr aufs Geld auf, dass die 1902 veranschlagte Bausumme von 135 Millionen Mark nur um 1,5 Prozent überschritten wurde, wie Helge-Heinz Heinker feststellt: 137,05 Millionen Mark stand unter der Endabrechnung, 54,43 Millionen Mark für Sachsen, 55,66 Millionen Mark für Preußen, 21,10 Millionen Mark für die Stadt Leipzig.
Aber ergibt so etwas Schlagzeilen? “Großprojekt wird nur ein bisschen teurer”? Oder war man damals beim Umgang mit Steuergeldern einfach verantwortungsvoller und hat selbst so ein Projekt, das 1907 mit dem Abbruch des Thüringer Bahnhofs begann, nicht aus dem Ruder laufen lassen, schon gar nicht so spektakulär wie beim heutigen Großflughafen BER?
Oder war es schlicht so, dass sich die Verhandlungspartner Preußen und Sachsen in den von 1898 bis 1902 dauernden Verhandlungen einfach nicht gegenseitig in die Tasche lügen wollten und tatsächlich alle Kosten auflisteten und das Projekt nicht künstlich kleinrechneten, wie das in modernen Zeiten üblich zu sein scheint?
Wer alles, was wichtig, schön und beeindruckend ist am Leipziger Hauptbahnhof, nachlesen will, dem sei das 1905 im Lehmstedt Verlag erschienene Buch “Leipzig Hauptbahnhof. Eine Zeitreise” wärmstens ans Herz gelegt.
Und allen, denen heute ein bisschen zum Feiern ist, sei der Besuch im Hauptbahnhof empfohlen: Seit 100 Jahren geht das da so ab. Damals noch mit jeder Menge Qualm und Rauch und ordentlich kontrollierten Perrons, heute elektrisch und mit ICE oben und S-Bahnen unten auf den unterirdischen Gleisen 1 und 2. Die Großen Leute werden auch diesmal wieder erst im Dezember feiern. Für die war es noch nie wirklich wichtig, wann die Züge fahren und dass der Betrieb reibungslos läuft oder die Tickets bezahlbar sind. Für die kleinen Leute war all das immer wichtig. Bis hin zur Ansage, ob der Zug nun pünktlich fährt oder irgendwo bei Braunschweig, Erfurt oder Köthen hängen geblieben ist.
Buchtipps
Helge-Heinz Heinker Leipzig Hauptbahnhof. Eine Zeitreise, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2005.
David Falg “Leipzig – Großkorbetha. 150 Jahre Geschichte einer Eisenbahnverbindung”, Pro Leipzig, Leipzig 2006
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