Am Donnerstag, 23. Mai, als gerade ein paar Leute ihren Rausch vom Vortag, als sie Richard Wagners 200. Geburtstag feiern durften, ausgeschlafen hatten, beglückte eine Gruppe, die sich selbst "Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule" nennt, die Medien mit einer Botschaft, sie habe 50.000 Eintrittskarten für die Bayreuther Festspiele gefälscht, um gegen Wagners Antisemitismus und dessen Verharmlosung im Jubiläumsjahr protestieren.

Mehrere Medien berichteten auch. Es gibt auch mittlerweile eine Anzeige der Stadt Bayreuth, die Polizei ermittelt, aber die 50.000 gefälschten und in Bayreuth verteilten Tickets werden angezweifelt. Aber darum geht es eigentlich nicht.

Natürlich geht es um die teils fast schon kitschige Verklärung Richard Wagners, auch eine Art Reinwaschung. “Hitlers Wagner” war das Kapitel 8 in der Ausstellung “Wagnerlust & Wagnerlast” übertitelt, die am Sonntag, 26. Mai, im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig zu Ende ging. Dort war auch die “Neue Zeitschrift für Musik” von 1850 zu sehen, in der der seinerzeit im Exil lebende Wagner seine Schrift “Das Judenthum in der Musik” veröffentlichte unter dem Pseudonym K. Freigedank. Die anderen Ausstellungsstücke in dieser Abteilung beschäftigten sich mit der Aneignung von Wagners Werk durch die Nationalsozialisten – und machten damit auch etwas anderes deutlich: nämlich wie sehr wir auch heute noch das 19. Jahrhundert in Deutschland durch die Brille der NS-Zeit betrachten.

Den Antisemitismus der Hitler-Zeit hätte Richard Wagner womöglich nicht geteilt. Hier muss wirklich ein “womöglich” stehen, denn wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist aber: das NS-Reich ist ein Produkt des deutschen 19. Jahrhunderts und seiner nationalistischen und ideologischen Entwicklungen. Wagner publizierte seine Schrift ja nicht im luftleeren Raum. Nicht zu vergessen auch, dass die Veröffentlichung von 1850 kaum eine Reaktion erfuhr. Für eine gewaltige Resonanz sorgte Richard Wagner erst selbst, als er die Schrift 1869 noch einmal zugespitzt unter eigenem Namen veröffentlichte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die Schrift nicht mehr nur als ein Versuch zu werten, sich mit scharfer Feder gegen zwei der berühmtesten Komponisten Deutschlands zu positionieren – neben Felix Mendelssohn Bartholdy war das auch der erfolgreichste Opernkomponist der Zeit, Giacomo Meyerbeer, Meister der “Grand opéra”, dem etwas gelang, was Wagner versagt blieb – nach seinen Operntriumphen in Berlin konnte sich Meyerbeer auch in Paris triumphal etablieren.

Da griff ein noch längst nicht so erfolgreicher Kapellmeister auf der Flucht zwei überaus erfolgreiche Zeitgenossen an. Und er machte ihnen zum Vorwurf, was man erfolgreichen Künstlern oft zum Vorwurf macht: Oberflächlichkeit, Seichtheit, fehlende Tiefe. Die Schrift ist weniger ein Versuch, den Erfolg der beiden tatsächlich zu analysieren – dann hätte Freigedank-Wagner nicht bei dem Versuch stehen bleiben dürfen, das Werk der beiden über ihre jüdischen Wurzeln erklären zu wollen. Hier bellt einer, der mit aller Macht den Erfolg will, zwei große Stars der zeitgenössischen Musik an. Aber Felix Mendelssohn Bartholdy war schon 1847 gestorben, Meyerbeer starb 1864.

Dass Wagner seine Schrift 1869 noch einmal auflegte, machte aber selbst diese Gründe obsolet. Und das merkten auch die Zeitgenossen, die für das Thema mittlerweile sensibilisiert waren. Und mit scharfer Kritik reagierte auch ein Autor, der nach 1945 selbst in den Verruf kommen sollte, einen antisemitischen Roman geschrieben zu haben. Der Autor hieß Gustav Freytag, sein kritisiertes Werk war der dreibändige Roman “Soll und haben”, den Rainer Werner Fassbinder 1977 sogar verfilmen wollte – und dann sorgte die wilde Kritik dafür, dass das Filmprojekt eingestellt wurde. Schon 1977 zeigte sich, wie sehr deutsche Intellektuelle das 19. Jahrhundert durch die Interpretationsbrille des NS-Reiches und des Holocausts betrachteten.

“Soll und Haben” erschien 1855. Da lebte Gustav Freytag in Leipzig. Auch er ist einer jener Männer, die mit den restaurativen Erscheinungen der deutschen Kleinstaaterei in Konflikt kamen. 1846 wurde sein kulturgeschichtliches Kolleg in Breslau verboten. 1846 kam der Philologe kurzzeitig nach Leipzig, ging dann nach Dresden, wo er womöglich dem Kapellmeister Wagner begegnete. Nachdem er 1848 die Hälfte an den “Grenzboten” erworben hatte, siedelte er wieder nach Leipzig um und wurde für die folgenden Jahrzehnte zum Redakteur der liberalen Zeitschrift “Die Grenzboten”. Im Bierlokal Kitzing & Helbig in der Petersstraße sammelte sich die Gesellschaft, der er angehörte. Da sind wir mitten in der frühen liberalen Bewegung in Leipzig. Zu Freytags Freunden gehörten Friedrich Gerstäcker, Karl Biedermann, Moritz Haupt, Theodor Mommsen und auch der junge Heinrich von Treitschke.
1850 – da ist die Revolution, an der auch Wagner teilnahm, geschlagen und gescheitert, die Träume von einem liberalen, demokratischen Deutschland sind wieder einmal ausgeträumt, beerdigt, enttäuscht. Doch wenn gesellschaftliche Konflikte nicht wirklich gelöst werden, wenn Gesellschaften nicht wirklich den Sprung in eine moderne Organisationsform schaffen, trägt das seltsame Blüten. Die Konflikte “verwandeln” sich, entladen sich an anderer Stelle. Und die Zeit zwischen 1849 und 1871 ist fast beispielhaft dafür, wie eine Gesellschaft sich deformiert, wenn der “Deckel drauf” bleibt, wenn die alten Machtverhältnisse sich zäh festklammern und der letzte verbleibende Akteur neue “Ventile” anbietet. Der gesellschaftliche Stillstand in Deutschland wurde ja nicht politisch gelöst, sondern militärisch. Die preußischen Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich führten zur sogenannten kleindeutschen Lösung von 1871, deren direkte Folge gleich mal wieder ein neues Verbot war – das der SPD.

Auch in Leipzig feiert man ja lieber die schöne Gründerzeit und den industriellen Aufschwung zur Großstadt, und vergisst dabei gern, dass der wirtschaftliche Aufschwung noch lange kein politischer war. Antwort auf den politischen Stillstand waren die vielen Emanzipationsbewegungen, die von Leipzig aus ihre Wirkung entfalteten. Neben der Emanzipation der Arbeiter war es ja bekanntlich die der Frauen und auch die liberale Bewegung. Für Leipzig bislang völlig unterbelichtet: die Emanzipation der Juden.

Und das ist das eigentliche Thema, das Gustav Freytag 1855 in “Soll und Haben” zu bewältigen versuchte. Dass man das Buch nicht einfach mit der Brille des 20. Jahrhunderts als “antisemitisch” abtun kann, das hat Jürgen Matoni schon 1989 sehr ausführlich und kenntnisreich analysiert. Und dass Freytag 1869 eine der schärfsten Kritiken an Wagners neu veröffentlichter Schrift “Das Judenthum in der Musik” schrieb, ist auch bekannt. Und er hat den Vorteil für sich, dass er Zeitgenosse war. Er urteilt nicht aus der besserwisserischen Distanz des Nachgeborenen. Er hat die Hitler & Konsorten nicht mehr erlebt.

Aber er hat mit seinem Roman “Soll und Haben” ja selbst Erfahrungen gesammelt. Und er hat die nächsten 15 Jahre selbst erleben können, wie sich das Denken des deutschen Bürgertums und die Argumentation seiner großen Medien zusehends verschärften und radikalisierten. Heute reden lernunwillige Politiker und Professoren gern von den zwei “Extremismen”. Dabei neigt jede, wirklich jede politische Gruppierung zu Extremismen – nämlich immer dann, wenn sie ihre moralischen Werte aufgibt. Und das deutsche Großbürgertum gab nach der misslungenen Revolution von 1848/1849 Stück für Stück alle seine moralischen Prinzipien auf und biederte sich den am Ende preußischen politischen Bedingungen an. Was eine forcierte Kriegsbegeisterung genauso einschloss wie eine Propagandaschlacht um Kolonien und eine nationalistische Hysterie. Und den zunehmend institutionalisierten Antisemitismus.

Das erlebte auch Gustav Freytag als Parteigänger der Nationalliberalen, von denen er sich schließlich distanzierte, weil er von Bismarcks Politik enttäuscht war.

Und was er 1869 Wagner in seinem Beitrag “Der Streit über das Judenthum in der Musik” in den “Grenzboten” zu sagen hatte, ist der kritische Beitrag eines Mannes, der seine Zeit analysiert hat. Er hat sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass nach den Napoleonischen Kriegen die Emanzipation und Integration der Juden in Deutschland erst so richtig begonnen hatte. Sein Roman “Soll und Haben” erzählt von mehreren Wegen, wie Juden in Deutschland den Weg zum Erfolg suchten. Der Roman lebt auch vom Gegeneinandersetzen der unterschiedlichen Lebensmuster.

Freytag geht auch in seiner Erwiderung auf Wagner noch einmal gründlich auf die Emanzipation ein. Manchen Leuten muss man es ja jedes Jahr aufs Neue erzählen, so vergesslich sind sie. Und die Vorurteile der Hitler-Zeit sind 1869 schon alle lebendig. Das miefige, piefige deutsche Kleinbürgertum, das selbst am liebsten alles beim Alten gelassen hätte, suchte sich schon damals ein Feindbild, auf dem es die ganze Angst für die Veränderung abladen konnte. Freytag diagnostiziert diese Haltung fürs wirtschaftliche Bürgertum – und erkennt fast dieselbe Haltung nun ausgerechnet beim erfolgreichen Wagner gegenüber nun mittlerweile verstorbenen jüdischen Komponisten.

“Wir haben gar nicht die Absicht, zu untersuchen, ob jüdische Componisten und Virtuosen, welche dem Zuge der Zeit ebenso folgten wie die Christen, der neuzeitlichen Musik mehr Segen oder Unsegen gebracht haben. Denn wir Nichtjuden haben auch in der Musik das Recht verloren, unseren jüdischen Künstlern Einseitigkeiten vorzuwerfen, und zwar befürchten wir, daß gerade Herr Wagner in seinen eigenen Werken die Eigenthümlichkeiten und Schwächen, welche nicht selten an jüdischen Künstlern getadelt worden sind, in höchst ausgezeichneter Weise an den Tag gelegt hat, wenn er dieselben auch ein wenig anders aufgeputzt zeigt, als seine Vorgänger”, schreibt Freytag.

Es ist ein kleiner Einblick in eine Zeit und Geisteswelt, die so fern noch gar nicht sind. Und deren Geister uns so fern auch nicht sind. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts entspringen allesamt diesen zur Wagner-Zeit nicht gelösten gesellschaftlichen Konflikten. Der Antisemitismus ist bis heute in Teilen unserer Gesellschaft lebendig. Man sollte Wagners Schrift “Das Judenthum in der Musik” nicht einfach verschweigen, bloß weil Wagner durchaus ein talentierter Musikenschreiber war. Sie gehören dazu. Genauso wie zur Emanzipationsbewegung des 19. Jahrhunderts auch ihr Gegenstück – die panische Angst des deutschen Kleinbürgers vor der Selbst-Emanzipation gehört. Das wird meist weggelassen, wenn das 19. Jahrhundert gelobt und gefeiert wird.

Jürgen Mantoni über Gustav Freytags “Soll und Haben”:
www.matoni.de/freytag/be.htm

Gustav Freytags “Der Streit über das Judenthum in der Musik” auf pinselparkorg:
www.pinselpark.org/literatur/f/freytag/prosa/judenmusik.html
Künstlergruppe fälscht Tickets für Bayreuther Festspiele

Zu Richard Wagners 200. Geburtstag hat die Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule 50.000 Eintrittskarten für den Premierentag der Bayreuther Festspiele am 25. Juli 2013 gefälscht und an sämtliche Bayreuther Haushalte verschickt. Die Kunstaktion mit dem Titel “Operation Blumenmädchen” soll auf den verharmlosenden Umgang mit Wagners Antisemitismus aufmerksam machen – insbesondere von großen Teilen der deutschen Medien.

Seit Beginn diesen Jahres ist eine Flut von Artikeln, Titelthemen, Sonderheften, Rundfunk- und TV-Programmen sowie eine Fülle von Büchern erschienen, um das Wagnerjubiläum zu würdigen. Zwar lassen sich vereinzelt kritische Stimmen wahrnehmen, wie die der Jüdischen Allgemeinen, die Anfang Januar titelte: “Kein Grund zum Feiern. Richard-Wagner-Jahr. Deutschland bejubelt 2013 einen seiner rabiatesten Judenhasser”. Doch fällt vor allem auf, dass die meisten Beiträge Wagners Antisemitismus gleichgültig, verharmlosend oder gar revisionistisch behandeln: Wagner war Antisemit – na und? Wagner war ein Genie mit Schönheitsflecken; Wagner war Demokrat.

Johann Mühle, Sprecher der Frankfurter Hauptschule erklärt dazu:

“Wagner war ein aggressiver Antisemit. Er hat privat und öffentlich gegen Juden gehetzt – am deutlichsten in seiner programmatischen Schrift ‘Das Judenthum in der Musik’. Auch seine Opern sind nicht frei von jüdischen Stereotypen. Wenn ich das anerkenne, höre ich auch seine Musik anders. Vielleicht muss man die Harmonien deswegen nicht schlechter finden, aber will man ihn dann noch feiern? Offensichtlich ja. Es ist bezeichnend, dass Wagner und Bayreuth als nationale Prestigeobjekte auch heute noch unverzichtbar scheinen, ja dass in bürgerlichen Medien verbreitet wird, Wagner sei ein konsequenter Demokrat gewesen.

Wenn 2013 in Deutschland mit großem Tamtam versucht wird Wagner zu redemokratisieren, dann demokratisieren wir die Bayreuther Festspiele. Immer wieder gibt es Knatsch um die exklusive Praxis der Ticketvergabe. Wir haben 50.000 Eintrittskarten für den Premierentag der Festspiele an sämtliche Bayreuther Haushalte verschickt. Die Bevölkerung wird in Massen kommen. Entweder um ein Zeichen zu setzen, weil auch sie langsam genug von der demokratischen ‘Sieg-Heiligsprechung’ Wagners hat, oder weil sie genau deswegen unsere augenfällige Satire schon nicht mehr als solche erkennt.”

Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule

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