Mit dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes am 24. März 1933 endete in Deutschland formal die parlamentarische Demokratie. Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Einparteiendiktatur der Nazis, zu Massenvernichtung von Menschen und Vernichtungskrieg. Wer waren die, die damals abstimmten, und was wurde aus ihnen? L-IZ nennt Beispiele.
Seit 2000 hat Leipzig wieder eine Lipinskistraße. Sie befindet sich gleich hinter der Ameisenstraße in Großzschocher – Windorf im Südwesten der Stadt.
Zwischen 1945 und 1962 hieß schon einmal eine Straße in der Messestadt nach dem sozialdemokratischen Politiker. Sie lag auch weit zentraler als ihre Nachfolgerin. Es handelte sich um den östlichen Teil der heutigen Käthe-Kollwitz-Straße.
Doch im Leipzig der “sozialistischen Menschengemeinschaft” war kein Platz für ein Erinnern an Richard Lipinski (1867 – 1936). Der gelernte Handlungsgehilfe stand zwischen 1907 und 1933 dem Leipziger sozialdemokratischen Parteibezirk vor. Von November 1918 bis zum Januar 1919 war der seinerzeitige USPD-Politiker als Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten Sachsens erster demokratischer Regierungschef. Von 1920 bis 1923 setzte er als Innenminister des Freistaates wichtige Reformvorhaben um.
Am 23. März 1933 war Lipinski einer der 94 Reichstagsabgeordneten, die gegen das “Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich” stimmten. Und das trotz der unmittelbaren physischen Bedrängnis durch die Nationalsozialisten im und vor dem Sitzungssaal.
Besagtes Gesetz steht für die Selbstaufgabe der ersten deutschen Demokratie. Besser bekannt ist es als Ermächtigungsgesetz.
Ermächtigung sollte durch das Gesetz im März 1933 die Reichsregierung erhalten. Nämlich die Ermächtigung, Gesetze selbst, also ohne Zustimmung des Parlaments zu beschließen. Sowie die Ermächtigung, dabei auch inhaltlich den Rahmen der Verfassung zu überschreiten.
Die Kommunisten waren zu diesem Zeitpunkt von der Nazi-Regierung schon vollends rechtsfrei gestellt. Ihre 81 Mandate waren annulliert, viele ihrer Aktivisten befanden sich in Haft oder auf der Flucht.
Durch diesen Rechtsbruch und eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung war eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Regierungsvorlage in greifbare Nähe gerückt. Denn grundsätzlicher parlamentarischer Widerspruch erhob sich nur noch von den Sozialdemokraten.
Die Abgeordneten des liberalen und konservativen Spektrums stimmten dem Gesetz zu. Die Nationalsozialisten ohnehin.
“Sachsenführer” und Massenmörder
Unter den NS-Abgeordneten des 23. März 1933 befand sich so mancher Provinzdespot und spätere Menschenschlächter. “Sachsenführer” Martin Mutschmann (1879 – 1947) beispielsweise, in einer Person alsbald NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter und sächsischer Ministerpräsident. Wie die Forschungen des Dresdner Historikers Mike Schmeitzner belegen, setzte Mutschmann das NS-Mordprogramm in Sachsen brutal um. Vor dem sowjetischen Militärtribunal, das ihn zum Tode verurteilte, ließ er zudem keine Reue erkennen.
Der NSDAP-Abgeordnete Erich von dem Bach-Zelewski (1899 – 1972) schrieb im Zweiten Weltkrieg insbesondere in Weißrussland als “Chef der Bandenkampfverbände” von SS und Polizei blutige Geschichte. Weißrussland ist der Teil der ehemaligen Sowjetunion, der aufgrund der deutschen Besatzungspolitik die relativ größten Opfer zu beklagen hatte. Von den bei Kriegsbeginn neun Millionen Menschen in Weißrussland starben zwei Millionen.
Ebenso unrühmlich tat sich Bach-Zelewski als SS-Kommandeur bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944 hervor. Sein nächster Einsatzort war Ungarn, wo er an der Einsetzung einer nazitreuen Regierung und der Deportation der ungarischen Juden beteiligt war. In der Bundesrepublik wurde Bach-Zelewski wegen eines Mordbefehls im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch 1934 verurteilt, als die Nazis Rivalen vornehmlich aus den eigenen Reihen töteten.
Mit Ja stimmt auch ein späterer Bundespräsident
Mancher von denen, die am 23. März 1933 in der Berliner Kroll-Oper mit Ja stimmten, machte in der jungen Bundesrepublik (West) noch eine beachtliche demokratische Karriere. Zuvörderst der Liberale Theodor Heuss (1884 – 1963), der erste westdeutsche Nachkriegspräsident. Sein seinerzeitiger Parteifreund Ernst Lemmer (1898 – 1970) schloss sich nach dem Zweiten Weltkrieg der CDU an. Hier wurde er ebenso Bundesminister wie die vormaligen Zentrums-Abgeordneten Jakob Kaiser (1888 – 1961) und Dr. Heinrich Krone (1895 – 1989). Auch die drei Letztgenannten folgten am 23. März 1933 ihrer jeweiligen Fraktionsmehrheit und stimmten mit Ja.
Die Nachkriegsverdienste der Genannten sollen hier nicht in Zweifel gezogen werden. Gleichwohl fanden sie 1933 nicht die Kraft zu widerstehen.
Das historische Nein der SPD
Für die Sozialdemokratie ist das Nein der 94 Reichstagsabgeordneten am 23. März 1933 einer der Fixpunkte ihres Selbstverständnisses.
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“Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.” Diese Worte des SPD-Fraktionsvorsitzenden Otto Wels (1873 – 1939) aus seiner Erwiderungsrede auf Hitler gibt auch Ken Follett in seinem Roman “Winter der Welt” wieder. “Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht”, so der andere markante Satz aus Wels’ Rede.
Wels starb 1939 im französischen Exil. Seinen Leipziger Fraktionskollegen Richard Lipinski sperrten die Nazis mehrfach ein. Er verstarb 1936 an den Haftfolgen.
Nachkriegsbiografien im geteilten Deutschland
Eine Reihe sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter des 23. März 1933 setze nach der Befreiung von der NS-Diktatur ihre politische Laufbahn fort. So Hans Böckler (1875 – 1951), von 1949 bis zu seinem Tod der erste Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB.
Manche Lebenswege spiegeln zugleich die zweigeteilte deutsche Nachkriegsgeschichte und die parteipolitische Seite des Ost-West-Konflikts wider.
Beide Stadtoberhäupter des geteilten Nachkriegsberlins stimmten am 23. März 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Zum einen der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin (West) Ernst Reuter (SPD/ 1889 – 1953). Zum anderen der langjährige SED-Oberbürgermeister von Berlin (Ost) Friedrich Ebert (1894 – 1979), der Sohn des gleichnamigen, ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik.
Der damaligen SPD-Fraktion gehörte der spätere Vorsitzende der SPD (West) Kurt Schumacher (1895 – 1952) aus Württemberg ebenso an, wie Otto Grotewohl (1894 – 1964) aus dem Freistaat Braunschweig und Otto Buchwitz (1879 – 1964) aus dem schlesischen Liegnitz.
Grotewohl führte die Ost-SPD 1946 in die Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED und wurde Co-Vorsitzender der neuen Partei. Von 1949 bis 1964 war Grotewohl Ministerpräsident der DDR. Buchwitz wurde 1946 erster Co-Vorsitzender der SED in Sachsen. Er fungierte als Präsident des immer machtloser werdenden sächsischen Landtages und später als Alterspräsident der DDR-Volkskammer.
Nach Kurt Schumacher, der zwischen 1915 und 1917 in Halle und Leipzig studierte, ist eine Straße an der Westseite des Leipziger Hauptbahnhofs benannt. Otto Grotewohl und Otto Buchwitz sind Ehrenbürger von Dresden.
Zu den Leipziger Abgeordneten, die am 23. März 1933 mit Nein stimmten, gehörte auch der gebürtige Reudnitzer Hugo Saupe (1883 – 1957). In den 1920er Jahren wollte er Richard Lipinski vom SPD-Bezirksvorsitz verdrängen, unterlag aber bei der Abstimmung. Während des Zweiten Weltkrieges schloss der sich der Leipziger Widerstandgruppe um Georg Schumann (1886 – 1945) an. Nach dem Krieg wirkte Saupe bis 1948 als Chefredakteur der SED-Regionalzeitung “Freiheit” in Halle (Saale).
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