Zur Wohnungspolitik in Leipzig zwischen Mauerbau und Mauerfall spricht der Leipziger Historiker Christian Rau am 1. November 2012 beim nächsten Vortrag zur Stadtgeschichte "Wohnraumlenkung war ein Instrument der Herrschaftsdurchsetzung", betont Rau im L-IZ-Interview zu den politischen Absichten der Wohnraumversorgung in jenen Jahrzehnten.

Herr Rau, Sie reden am 1. November 2012 zur städtischen Wohnungspolitik in Leipzig zwischen Mauerbau und Mauerfall. Warum eignet sich aus Ihrer Sicht das Beispiel Wohnraumlenkung, um die “Durchsetzung und die Erosion der SED-Herrschaft” besonders zu verdeutlichen?

Wohnraumlenkung war ein Instrument der Herrschaftsdurchsetzung. Zwar spielte die “gerechte” Verteilung – was auch immer die SED darunter verstand – eine zentrale ideologische Rolle, aber schon die erste Wohnraumlenkungsverordnung von 1955 nennt fünf Personenkreise, die bevorzugt mit Wohnraum zu versorgen waren. Dies waren vor allem “Verfolgte des Naziregimes”, Angehörige der medizinischen und technischen Intelligenz, aber auch Schwerbeschädigte und Schwerkranke.

Die Novelle der Wohnraumlenkungsverordnung von 1967 schlug dagegen schon andere Töne an. Ihr zufolge sollten Wohnungen insbesondere nach “gesellschaftlichem und volkswirtschaftlichem Nutzen” vergeben werden. Den Nutzen einzelner Betriebe und Institutionen und damit der in ihnen Arbeitenden bestimmte freilich der Plan.

Dies benachteiligte aber einen Großteil der Bevölkerung, für die – angesichts des chronischen Wohnraummangels und des fortschreitenden Verfalls – entweder kein oder vor allem unzumutbarer Wohnraum übrig blieb. Dagegen unterließ es die SED-Führung zu keiner Zeit, die Verbesserung der Wohnverhältnisse der Arbeiter und Bauern zu betonen.

Wie reagierten die Betroffenen auf diese offenkundige Diskrepanz?
Diese Widersprüche zwischen Anspruch und Realität, die dem immanenten Legitimationsdefizit der Staatspartei korrespondierten, riefen freilich großen Unmut hervor, der sich vor allem nach dem Mauerbau in einer rekordverdächtigen Zahl von Wohnungsanträgen und Eingaben bis in die höchsten Gremien ausdrückte.

Die lokalen Wohnungsverwaltungen mussten zwischen diesen Widersprüchen vermitteln. Ihnen oblag die Wohnungsvergabe in voller Verantwortung. Daher lohnt es sich, den Herrschaftsalltag in dieser Behörde unter der Fragestellung zu untersuchen, wie Herrschaft konkret umgesetzt wurde und an welche Grenzen die SED dabei stieß. Zentral ist dabei auch die Frage nach Handlungsspielräumen, also den informellen Arrangements und Improvisationen zwischen Staatsvertretern und Bürgern, die Herrschaftsstabilität gewährleisteten, aber auch die Grenzen der Macht und damit langfristige Ursachen von Erosionserscheinungen aufzeigen.

Als einzige Behörden richteten die Wohnungsverwaltungen der Stadtbezirke im Frühjahr 1990 einen offenen Brief an den Rat der Stadt, in dem sie um Auflösung der Ämter baten. Insofern lässt sich auch fragen, inwiefern sich auch Erosionserscheinungen innerhalb der Behörde deutlich machten.

Die Städte in der DDR sollten ein neues, sozialistisches Antlitz erhalten. Exemplarisch steht dafür in Leipzig die Umgestaltung des damaligen Karl-Marx-Platzes. Wie schlug sich das in der Wohnungspolitik nieder?

In den wenigen Darstellungen zur Leipziger Stadtgeschichte, welche die Zeit nach 1945 mitbetrachten, werden die 1950er und 1960er Jahre – sieht man einmal von der Sprengung der Universitätskirche ab – durchweg als Zeit des städtebaulichen Aufschwungs beschrieben. Nach tieferer Kenntnis der Quellenlage allerdings erwiesen sich die Pläne Ulbrichts zum Aufbau “seiner” Messestadt als nachteilig für den Wohnungsbau.

Im Stadtarchiv findet sich ein Protokoll, das eine Unterhaltung Ulbrichts mit den Verantwortlichen des lokalen Bauwesens aus dem Jahr 1959 wiedergibt. Hierbei machte der SED-Chef unmissverständlich deutlich, dass er jederzeit bereit sei, Wohnungsbaumittel für den Aufbau des Stadtzentrums wegzunehmen. Sie müssen sich ja immer ins Gedächtnis rufen, dass alle finanziellen und materiellen Ressourcen in Berlin genehmigt werden mussten.

Also gab es bei Ulbricht für dessen Geburtsstadt keinen Bonus in Sachen Wohnungsbau?
Im Verlauf der 1960er Jahre wurden immer weniger Wohnungen in Leipzig gebaut. Und wenn, dann vor allem an repräsentativen Orten. Das heißt im Stadtzentrum – Beispiel Georgi-Ring – oder an der Straße des 18. Oktober, oder an Orten mit “strukturbestimmender” Industrie, etwa in Mockau.

Bis 1963 wurde Wohnungsbau zu einem großen Teil – etwa 80 Prozent – durch Arbeitwohnungsbaugenossenschaften betrieben, die wiederum nur für strategisch wichtige Betriebe zuständig waren. Für “unprivilegierte” Bürger gab es praktisch keine Neubauwohnungen.

Für das Jahr 1969 lässt sich eine – wohlgemerkt gedruckte – ernüchternde Aussage des Stadtarchitekten Horst Siegel finden, wonach man in Leipzig “fast ein Halle-Neustadt” an Wohnungen errichten müsse, um das Problem in den Griff zu bekommen. Nur soviel zu den Ausmaßen: In Halle Neustadt wohnten um 1970 etwa 50.000 Menschen.

Mit der Anerkenntnis des Wohnungsproblems als sozialer Frage gestand sich die DDR offiziell selbst eine Unterversorgung mit Wohnraum ein. Wie dramatisch war die Lage nach ihren Erkenntnissen in Leipzig?

Aus der Retrospektive betrachtet trifft der Zusammenhang zwischen der Erklärung des Wohnungsproblems als sozialer Frage und der faktischen Unterversorgung sicherlich zu. Aus zeitgenössischer Sicht der SED war die Losung vor allem ein Legitimationsfaktor, wertete sie das Wohnungsproblem doch als Erbe der bürgerlichen Gesellschaft.

Schaut man sich die sozialpolitischen Statistiken an, so stellt man fest, dass sich vor allem nach dem 17. Juni 1953 ein spezifisches Fürsorgedenken innerhalb der SED-Führung ausprägte, wonach finanzielle Mehrbelastungen unter allen Umständen vermieden werden sollten. Das erklärt auch die Paradoxie der kaum ins Gewicht fallenden Mieten, die immer stärker staatlich gestützt werden mussten, ohne dass sie es vermochten, die Kosten für die Verwaltung des Wohnraumes auch nur annähernd zu decken.

Konrad Jarausch hat einmal den Begriff “Fürsorgediktatur” geprägt, der diese Denkweise – passive Loyalität durch Zuteilung sozialer Ressourcen – treffend charakterisiert.

Lässt sich die Wohnungsnot in Leipzig an Zahlen festmachen?

Was die Ausmaße der Wohnungsnot in Leipzig anbetrifft, so lässt sich dies nur schwer in Zahlen fassen. Wir können uns dem Problem aber nähern, indem wir verschiedene zeitgenössische Ansichten miteinander vergleichen, die das jeweils selbe Problem, allerdings auf der Grundlage unterschiedlicher Prämissen, schildern.

Im Jahr 1980 hatten die Verantwortlichen der Stadtverwaltung, die von einer Deckungsgleichheit von Plan und Bedarf ausgingen, eine “Kurzdokumentation” zum Wohnungsbau bis 1990 angefertigt. Aus dieser geht hervor, dass perspektivisch etwa drei Viertel der geplanten Neubauwohnungen durch “progressiven Verfall” der Altbausubstanz aufgezehrt würden.

Und wie sahen es die Leipziger?

Begegnet man dem Problem aus Sicht der Bürger, so stehen als einzige Quellen lediglich Wohnungsanträge und Eingaben zur Verfügung. Am Ende lagen etwa 60.000 Wohnungsanträge, zudem rund 4.000 Eingaben in den Behörden vor, also mehr als 10 Prozent der Leipziger Bürger waren mit ihren Wohnverhältnissen unzufrieden. Hiervon waren etwa 35 Prozent ohne eigenen Wohnraum.

Allerdings wurde etwa die Hälfte der Anträge unter der Kategorie “Komfortverbesserung” zusammengefasst. Dies war jedoch eine von offiziellen Stellen definierte Kategorie, die sich an den staatlichen Belegungsnormen für Wohnungen orientierte und damit die Sichtweise der Bürger verzerrt.

Schließlich sei noch auf eine städtebauliche Untersuchung aus dem Jahr 1990 verwiesen, die drei Viertel der Leipziger Wohnungen als “stark erneuerungsbedürftig” und etwa 25.000 Wohnungen als “unbewohnbar” deklarierte.

Teil II des Interviews demnächst an dieser Stelle.

Terminhinweis: Donnerstag, 1. November 2012, 19:30 Uhr

Christian Rau M.A., “Zwischen Durchsetzung und Erosion der SED-Herrschaft. Die Leipziger Stadtverwaltung zwischen Mauerbau und Mauerfall am Beispiel der städtischen Wohnungspolitik”. Eine Veranstaltung der Reihe “Vorträge zur Leipziger Stadtgeschichte”.

Ort: Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Otto-Schill-Straße 4.

Die Veranstaltungsreihe ist ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt, der Sparkasse und der Universität Leipzig in Vorbereitung des Stadtjubiläums 2015.

Zur Person: Christian Rau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig. Seine Hauptarbeitsschwerpunkte sind Adel und Bürgertum, Nation und Nationalismus sowie Verwaltungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt er sich mit dem Rat der Stadt Leipzig 1957-1989 und analysiert Struktur, Personalentwicklung und Herrschaftsalltag.

Rau wurde 1984 in Gera geboren.

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