Es gibt wirklich Leute, die Pech haben. Da haben sie einen schönen runden Geburtstag, zum Beispiel den 250. Und keiner weiß es. Also wird auch nicht gefeiert. Nicht mal mit einem Kaffeekränzchen. So erging es Christiane Benedikte Naubert. Und warum wurde nicht - wenn sie schon so wichtig zu sein scheint - vor 10 Jahren bereits der 250. Geburtstag begangen? Christiane Benedikte wurde am 13. September 1752 in Leipzig geboren. Aber das wusste 2002, als das Kaffeekränzchen fällig war, noch niemand.

Diese Tatsache ist erst seit dem Jahr 2010 bekannt, als Thomas Hoffmann, ein Leipziger, der sich für Genealogien und Kirchenbücher interessiert, im Taufverzeichnis der Leipziger Nikolaikirche das korrekte Geburtsjahr entdeckte. Bis dahin galt als Nauberts Geburtsjahr das Jahr 1756, und so wird es auch noch in anderen Veröffentlichungen zu finden sein.

Ihr Geburtsname lautete: Christiana Benedicta Hebenstreit. Ihr Vater war der Medizinprofessor Johann Ernst Hebenstreit (1703 – 1757). Muss man den kennen? Als Sachse sollte man das schon. Denn ihn ernannte August der Starke 1731 zum Leiter seiner Afrika-Expedition. Das waren noch Zeiten, als Sachsen noch Afrika-Expedition ausrüstete. Der Tod Augusts des Starken 1733 beendete die Expedition – die Forscher mussten heimkehren. Damals plante man Expeditionen noch für Jahre. Und das war nicht das einzige Pech dieser Expedition: Die Exponate gingen während des Maiaufstands 1849 verloren.

Man könnte fast meinen, die Abenteuerlust, die sie später in ihren Büchern auslebte, hat sie von ihrem Vater. Aber so einfach war das bestimmt nicht. Sie war immerhin das sechste Kind, das der Afrikareisende bekam. Und es war auch schon die zweite Ehe, die Hebenstreit wohl 1742 einging mit Christianes Mutter Christiane Eugenie Bosseck, die ebenfalls aus einer Gelehrtenfamilie stammte. Opa Bosseck war Assessor am Leipziger Schöppenstuhl und Professor der Rechte.

Eine Gelehrtenfamilie mit gelehrigen Kindern. Eine Höhere Töchterschule gab es noch nicht. An Nikolai- und Thomasschule wurden nur Jungen eingeschult. Wie lernten Mädchen in der Zeit Bachs und Goethes? – Christiane wurde von ihren älteren Brüdern Georg Ernst und Heinrich Michael in Philosophie, Geschichte, Latein und Griechisch unterrichtet. Außerdem erhielt sie eine Ausbildung am Klavier und an der Harfe. Französisch, Italienisch und Englisch brachte sie sich später im Selbststudium bei.

Das war dann freilich schon nach dem frühen Tod ihres Vaters. Als der Vater 1757 an Typhus starb, war Christiane erst fünf Jahre alt. Aber auch die Brüder gingen die Gelehrten-Laufbahn: Georg Ernst wurde Theologe und Heinrich Michael Historiker und Jurist.

Christiane Nauberts Neffe, Sohn ihrer Schwester, Johann Christian Clarus, wurde als Mediziner und später als Woyzeck-Gutachter bekannt. Hans Mayer hat sich noch später sehr intensiv mit Clarus’ Analyse zu Woyzeck beschäftigt.

Aber da sind wir jetzt schon gesprungen. Erst muss geheiratet werden. Oder doch besser erst geschrieben?

Christiane Benedikte schrieb erst mal. Vielleicht war sie auch den gelehrten Heiratsanwärtern zu klug. Sie lebte im Haus ihres Bruders Ernst Benjamin Gottlob Hebenstreit. Dieser Bruder wurde – wie sein Vater – Medizinprofessor und Stadtphysikus. Und wo stand das Haus? – Friedrich Gottlob Leonhardi weiß es. Aber hat’s nicht verraten in seinem Leipzig-Buch von 1799. Da war Hebenstreit als Stadtphysikus mit der Aufsicht über das gesamte Medizinalwesen der Stadt beauftragt. 1803 starb er – ähnlich früh wie sein Vater. Als Mediziner lebte man im 18. Jahrhundert nicht wirklich gesund.

Christiane Benedikte war 1797 ausgezogen. Vielleicht hat jemand “Endlich!” geseufzt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht waren alle froh, so ein phantasievolles Frauenzimmer im Haus zu haben. Sie heiratete völlig phantasiefrei den Ritterguts- und Weinbergsbesitzer Lorenz Wilhelm Holderieder, den 49jährigen Sohn des Oberbürgermeisters der Stadt Naumburg. Schon 1800 verlor sie ihn durch einen Schlaganfall. War das Leben mit Christiane zu aufregend?

1802 heiratete sie wieder. Diesmal den Naumburger Kaufmann Johann Georg Naubert. Da hatte sie schon Dutzende Romane unter Pseudonym veröffentlicht.

Den ersten 1785: “Emma’s, Tochter Kaisers Carl des Großen, und seines Geheimschreibers Eginhardts Geschichte”. Zwei Bände. Ihr Verleger hieß Johann Friedrich Weygand (1743 – 1806). Seit 1767 betrieb er seine Buchhandlung in Leipzig. Und bei Klassik-Freunden scheppert’s bei diesem Namen: In der Weygand’schen Buchhandlung erschien Goethes “Die Leiden des jungen Werther”. Der Mann hatte ein Gespür für die Leser. Briefromane waren angesagt. Und historische Romane – möglichst dick und lang. Das Jahrhundert kannte ja noch kein Fernsehen. Man las noch, wenn man sich unterhalten wollte.Und Weygand fand es gar nicht verkaufsförderlich, dass Christiane unter Pseudonym veröffentlichte. Aber da half kein Zureden. Sie wollte nicht anders.

“Sie ist die Begründerin des modernen historischen Romans”, findet Sylvia Kolbe, engagierte Stadtführerin in Leipzig, die sich insbesondere der so oft vernachlässigten weiblichen Seite der Leipzig-Geschichte widmet. Über Goethe schwatzt alle Welt. Aber Christiane Benedikte Naubert, die über 50 zu ihrer Zeit viel gelesene Romane schrieb, wird immer wieder vergessen. Meistens zwischen Mommsen (den heute auch niemand mehr liest) und Neuber(in). “Außerdem schrieb sie von 1789 bis 1792 die Märchensammlung ‘Neue Volksmärchen der Deutschen’ – vier Bände, Wilhelm Grimm besuchte Benedikte Naubert im Jahr 1809”, weiß Kolbe zu erzählen. Womit wir also auch noch den berühmten Märchensammler erwähnt haben, der dafür extra aus Kassel nach Naumburg kam.

“Aber während Goethe, Schiller und die Gebrüder Grimm auch heute noch allgemein bekannt sind, gerieten die zur gleichen Zeit wirkenden Schriftstellerinnen in Vergessenheit – ein Schicksal, das auch Christiane Benedikte Naubert teilte”, so Kolbe. “Von ihren Zeitgenossen war Naubert geschätzt, ihre Werke waren bekannt und wurden europaweit in vielen Übersetzungen publiziert. Denn: Man hielt ihre Romane für die Werke eines gelehrten Mannes, da sie anonym schrieb, erst 1817 wurde ihre Anonymität aufgedeckt.”

Schuld an der Enthüllung war ein Bursche namens Karl Julius Schütz, der in der “Zeitung für die elegante Welt” über seinen Besuch bei Benedikte Naubert in Naumburg berichtete und – wohl wider Willen – ihren wirklichen Namen ausplauderte. Danach blieb ihr eigentlich nichts anderes, als fortan auf Pseudonyme zu verzichten.

Ein Werkverzeichnis veröffentlichte Schütz noch, so dass ihr die meisten Romane sicher zugeordnet werden können. Wer unter Pseudonym schreibt, schafft auch da Unsicherheiten.

Die Namen ihrer Romane waren immer phantasievoll: Ihr zweites Buch hieß “Walther von Montbarry, Großmeister des Tempelordens” (1786), ihr drittes “Amalgunde, Königin von Italien” (1787). Noch im selben Jahr erschien “Die Amtmännin von Hohenweiler”. Und so ging das Jahr um Jahr fort. Wahrscheinlich zur großen Freude Weygands.

Sylvia Kolbe: “Viel gäbe es noch über Naubert zu schreiben und wurde in neuerer Zeit auch geschrieben, so erschien im Jahr 2010 die Veröffentlichung der Germanistin Claudia Hareter ‘?enedikte Naubert: Eine Untersuchung der Lage einer Schriftstellerin in der Goethezeit’. Im Jahr 2005 promovierte die britische Germanistin Hillary Brown mit ‘Benedikte Naubert and Her Relations to English Culture’ und nimmt unter anderem Bezug auf Nauberts Einfluss auf die Romane von Walter Scott.”

Womit wir dann schon beim nächsten Berühmten im 19. Jahrhundert wären. Aber das müssen die Forscher alles beweisen und aufdröseln. Was bei Scott wohl klappt: Nauberts Bücher wurden auch ins Französische und Englische übersetzt. Und was Schütz ausplauderte, war wohl in Gelehrtenkreisen kein Geheimnis. Sonst hätte Wilhelm Grimm die Schriftstellerin in Naumburg ja nicht besuchen können 1809. “Er nennt sie Nauwarg, weiß ihren Namen also nicht richtig”, weiß Sylvia Kolbe noch.

Gestorben ist Christiane Benedikte Naubert am 12. Januar 1819 in Leipzig. 1818 war sie in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt und hatte den zweibändigen Roman “Rosalba” als ersten unter eigenem Namen veröffentlicht.

Der Wikipedia-Eintrag behauptet zwar, sie sei praktisch vergessen. Doch emsig bemüht sich der Engelsdorfer Verlag, Buch um Buch von ihr für echte Schmökerfreunde aufzulegen: 2008 “Conrad und Siegfried von Feuchtwangen, Großmeister des deutschen Ordens”, 2010 “Geschichte der Gräfin Thekla von Thurn oder Szenen aus dem dreißigjährigen Kriege”, 2011 “Walter von Montbarry, Großmeister des Tempelordens”, 2012 “Herrmann von Unna: Eine Geschichte aus den Zeiten der Vehmgerichte”.

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Seit 2006 gibt der Engelsdorfer Verlag jedes Jahr einen ihrer Romane neu heraus, in der Transkription von Sylvia Kolbe natürlich, teilt die emsige Wiederentdeckerin mit. 2006 deshalb, weil damals noch alle dachten, es wäre der 250. Geburtstag der Schriftstellerin. “Um Christiane Benedikte Naubert auch für heutige Leserinnen und Leser wieder bekannt, erschwinglich und lesbar zu machen”, begründet Kolbe den Sinn der Reihe. “Anlässlich ihres 260. Geburtstags erscheint am 13.9.2012 im Engelsdorfer Verlag ihr erster Roman in Neuauflage als Paperback-Ausgabe: ‘Geschichte Emma’s. Tochter Kayser Karls des Grossen’.”

Um die Anbringung einer Gedenkplatte am Nachfolge-Gebäude ihres Geburtshauses (ehemalige König-Salomon-Apotheke) kümmert sich eine kleine Initiativgruppe um Sylvia Kolbe. Zu den Unterstützerinnen gehört auch die Leipziger Gleichstellungsbeauftragte Genka Lapön. Thomas Hoffmann sponsert die Anfertigung.

Womit wir dann zumindest ahnen dürfen, wo ihr Vater- und Mutterhaus stand: Die König-Salomon-Apotheke befand sich in der Grimmaischen Straße Nummer 10. Das ist heute praktisch die Ecke mit dem Zentral-Messpalast.

Viele biografische Angaben zu Christiane Benedikte Naubert, die wir hier dankbar nutzen konnten, findet man unter: http://alex.gottschalg.com/biograhien/benedikte-naubert/

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